Nr. 2 – Der August-Putsch – das Ende der Sowjetunion

Drei Tage im August

Der sowjetische Rubikon und die Linke

In den Wochen nach dem gescheiterten Putschversuch vom 19. bis 21. August war die Internationale Bolschewistische Tendenz im Unterschied zu den selbsternannten Trotzkisten praktisch die einzige Organisation, die erkannte, daß dieses Ereignis das Ende des sowjetischen Arbeiterstaates bedeutete. Alle wichtigen politischen Entwicklungen haben seitdem unsere Position bestätigt. Wenige Tage nach dem Putsch proklamierte Gorbatschow auf Jelzins Befehl die Auflösung der sowjetischen Kommunistischen Partei. Der Volksdeputiertenkongreß stimmte für die Selbstzerstörung. Im Dezember gab Jelzin die Auflösung der Sowjetunion und die Bildung der sogenannten Gemeinschaft Unabhängiger Staaten bekannt. Er tat dies ohne daran zu denken, Gorbatschow auch nur zu konsultieren. Dessen anschließende Versuche, zumindest den Anschein einer unionweiten Regierung aufrecht zu erhalten, wurden einfach ignoriert. Am 25. Dezember trat Gorbatschow vom Amt des sowjetischen Präsidenten zurück. Am gleichen Abend wurde die sowjetische Fahne auf dem Kreml eingeholt und durch das zaristische Emblem ersetzt. Noch bevor Gorbatschow seine Koffer packen konnte, zog Jelzin in das Büro des sowjetischen Präsidenten ein.

Die wichtigsten politischen Institutionen des sowjetischen Staates konnten ohne bewaffneten Widerstand demontiert werden, weil das Schicksal der UdSSR bereits entschieden war. Die Ereignisse nach dem Putsch waren bloß ein Epilog auf die drei Tage im August, als die demoralisierten Verteidiger des alten stalinistischen Apparates ihr letztes verzweifeltes Spiel wagten und verloren.

Jelzin verlor keine Zeit und ging zum Sturmangriff auf die sich schon im Prozeß der Auflösung befindende staatliche Wirtschaft über. Anfang Januar hob er die staatlichen Subventionen für Lebensmittel und viele andere Waren auf mit dem Resultat, daß sich die Preise um ein Vielfaches erhöhten. Dies war nur die erste einer Reihe von Maßnahmen, die darauf abzielen, die zentralisierte Planung durch die Anarchie des Marktes zu ersetzen. Die ersten Proteste aus der Bevölkerung folgten schnell. Als Jelzin das Land bereiste, um die allgemeine Stimmung zu testen, wurde er mit wütenden Massen konfrontiert. Hungeraufstände brachen in der usbekischen Hauptstadt Taschkent aus und forderten das Leben mehrerer Studenten; Arbeiter, Angehörige des Militärs und Mitglieder des alten Parteiapparates demonstrierten am Jahrestag der Revolution auf dem Roten Platz gegen das neue Regime. 5000 Offiziere versammelten sich im Kreml, um gegen Jelzins Pläne zu protestieren, die Armee entlang nationaler Linien aufzuteilen. Im Februar strömten 50 000 Menschen auf die Straßen Moskaus in der bis dato größten Demonstration gegen die Regierung. Die Anti-Jelzin-Proteste sind extrem heterogen. Während manche Demonstranten rote Fahnen und Bilder von Lenin und Stalin mit sich trugen, fielen andererseits die ultrarechte Liberal Demokratische Partei sowie andere monarchistische und antisemitische Elemente auf. Die Erschütterung der Region des Kaukasus durch kommunale Blutbäder und Jelzins Streit mit dem neuen ukrainischen nationalistischen Regime über die Schwarzmeerflotte machen deutlich, daß der Weg zurück zum Kapitalismus in der ehemaligen Sowjetunion steinig sein wird.

Jelzins „Preisreformen“ wurden eingeführt unter Anleitung Jeffrey Sachs, Musterknabe der Harvard Business School, der die letzten paar Jahre damit verbracht hat, die polnischen Arbeiter mit dem freien Markt-Elend bekannt zu machen. Der Zweck der Reformen besteht darin, das Defizit des russischen Staatsbudgets zu reduzieren und den Rubel zu stabilisieren. Unter dem alten System der Planwirtschaft wurden die Preise der Waren nicht durch die Kräfte des Marktes, sondern durch die sozialen und ökonomischen Entscheidungen der staatlichen Planer bestimmt. Der Rubel funktionierte eher als ein Mechanismus zur Arbeitszuteilung, als daß er ein Wertmaßstab gewesen wäre. Um die Herrschaft der allgemeinen Warenproduktion zu etablieren und um die Wirtschaft der ehemaligen UdSSR dem Weltmarkt zu öffnen, ist es, laut Harvard School, zuerst notwendig, so etwas wie ein allgemeines Äquivalent zu haben, das die Austauschverhältnisse bestimmt, in denen die verschiedenen Waren gehandelt werden können.

Zu welchen Bedingungen werden Rußland und die anderen Republiken der imperialistischen „Familie der Nationen“ beitreten? Die sowjetische Arbeitsproduktivität hinkte immer weit der der fortgeschrittenen kapitalistischen Länder hinterher. Die Produkte der sowjetischen Industrie können einfach nicht in puncto Preise und Qualität mit den westlichen Waren konkurrieren. Die westlichen Kapitalisten zögern, selbst in Polen oder der ehemaligen DDR zu investieren, wo die Industrie höher entwickelt ist als in Rußland. Die russische und ukrainische Industrie werden mit noch geringerer Wahrscheinlichkeit ausländische Käufer finden. Aufstrebende russische „Entrepreneurs“ können nicht einfach die existierende staatliche Industrie übernehmen und anfangen, Geld zu machen. Um international konkurrenzfähig zu werden, müßten die meisten sowjetischen Firmen massiv in neue Ausrüstungen und Verbesserungen investieren, was jedoch nur vom Ausland finanziert werden kann. Die imperialistischen Giganten, verwickelt in immer heftigere ökonomische Rivalitäten untereinander, werden für die Entwicklung eines neuen großen Konkurrenten nicht zahlen. Die gesamte „Hilfe“, die bis jetzt für die ehemalige Sowjetunion vorgesehen wurde, ist nur ein Bruchteil dessen, was die Imperialisten jedes Jahr für die Kriegsvorbereitungen gegen das „Reich des Bösen“ ausgegeben haben. Die Unterstützung, die sie geben, ist nur gerade groß genug, damit Jelzin den Deckel auf seiner aufmüpfigen Bevölkerung halten kann. Eine Neuauflage des Marshall-Plans wird es nicht geben. Die Länder, die einst in der UdSSR zusammengeschlossen waren, sind nicht ohne Wert für die Räuber der Wall Street und der Frankfurter Börse. Die ehemalige Sowjetunion war der größte Öl-und Holzproduzent der Welt, und ihr Territorium ist reich an Mineralien, Metallen und Getreide. Die Bevölkerung ist auch nach westlichem Standard gut ausgebildet und stellt somit sowohl einen riesigen potentiellen Markt als auch eine gewaltige, ausbeutungsfähige Arbeitskraftreserve dar. Die Imperialisten aber sehen die ehemalige Sowjetunion vor allem als Produzent von Rohstoffen und landwirtschaftlichen Produkten sowie als Konsument von Fertigprodukten aus den USA, Europa und Japan. Die Deindustrialisierung, die die kapitalistische Restauration begleiten wird, wird die verschiedenen Republiken in ein Geflecht wirtschaftlicher Abhängigkeit und Unterentwicklung hineinzwingen, das typischer für „Dritte-Welt“-Länder als für die entwickelte kapitalistische Welt ist.

Die ehemalige Sowjetunion ist jedoch kein „Dritte-Welt“-Land. Die bolschewistische Revolution 1917 riß das ehemals zaristische Imperium aus dem imperialistischen Machtbereich und legte die Grundlagen für eine Transformation von einer unterentwickelten, überwiegend bäuerlichen Nation in eine bedeutende industrielle Macht. Zur Zeit der Revolution lebten mehr als 80% der sowjetischen Bevölkerung auf dem Land; heute leben mehr als 60% in den Städten. Die Wiedereingliederung der Sowjetunion in die internationale kapitalistische Arbeitsteilung wird den Ruin ganzer Wirtschaftszweige wie Stahl, Maschinenindustrie, Rüsrungs- und Konsumgüter bedeuten und bittere Not für viele der abermillionen Arbeiter bringen, deren Lebensunterhalt von der Industrie abhängt. Es ist unwahrscheinlich, daß die Staaten, die aus dem Zusammenbruch der UdSSR hervorgehen, ohne Protestausbrüche der Bevölkerung auf einen „Dritte-Welt“-Status reduziert werden können. Wenn die massenhafte Entrüstung über die „Schock-Therapie“ des freien Marktes weiterhin wächst, könnte Jelzin leicht stürzen. Er war bereits gezwungen, manche der härtesten Maßnahmen seines ökonomischen Paketes zu modifizieren. Doch jeder der Möchtegern-Nachfolger Jelzins ist ebenso der kapitalistischen Restauration verpflichtet; sie unterscheiden sich nur in der Frage der Taktik und des Zeitplanes.

Für eine Arbeiterrevolution zur Zerschlagung der Konterrevolution

Die einzige Kraft, die die Wende bringen könnte — die Arbeiterklasse — ist konfus und demoralisiert nach Jahren des stalinistischen Verrats. Jelzins Regime bleibt extrem zerbrechlich und verwundbar gegenüber einem Aufstand von unten. Revolutionäre in der ehemaligen UdSSR müssen versuchen, die allgemeine Feindseligkeit gegen die Preiswucherer und Lebensmittelspekulanten in eine Waffe gegen das gesamte Privatisierungsschema zu verwandeln. Durch Bildung von repräsentativen Komitees in jedem Betrieb und in jedem Arbeiterviertel könnten die Arbeiter zusammenkommen, um die Sowjets von 1905 und 1917 wiederzuschaffen. Solche Organe der Volksmacht könnten sicherstellen, daß die notwendigen Lebensmittellieferungen gerecht verteilt werden. Sie könnten außerdem die wilden Plünderungen und den Diebstahl an den sich im öffentlichen Besitz befindenden Betrieben stoppen sowie Entlassungen mit einer Kampagne für die gleitende Skala der Löhne und der Arbeitszeit entgegentreten. So könnte der organisatorische Rahmen für einen wiedergeschaffenen Arbeiterstaat hergestellt werden.

Die Feindseligkeit der Massen gegen Jelzins Austeritätsmaßnahmen wird von einer Heerschar rechter nationalistischer Demagogen und antisemitischer Nachfolger der Schwarzen Hundert ausgenutzt. Die Demonstrationen gegen Jelzin in den letzten Monaten haben „patriotische“ Stalinisten mit russisch-nationalistischen Faschisten zusammengeführt. Die kapitalistische Restauration hat einen Ausbruch reaktionären nationalistischen Blutvergießens in der gesamten Kaukasus-Region, in Moldawien und anderswo in der ehemaligen UdSSR ausgelöst. Marxisten halten fest am Recht aller Nationen auf Selbstbestimmung und sind gegen den großrussischen Chauvinismus von Jelzins Kreml. Gleichzeitig treten Sozialisten für die freiwillige Vereinigung der Völker der ehemaligen UdSSR in einer erneuerten sozialistischen Föderation ein.

Um eine Katastrophe zu verhindern, braucht die Arbeiterklasse dringend eine revolutionäre Führung. Eine revolutionäre Partei würde versuchen, das Proletariat zu mobilisieren, um Jelzin und die anderen nationalistischen Potentaten zu stürzen, um die Privatisierungsprogramme rückgängig zu machen und die Geburtsstätte des ersten Arbeiterstaates der Welt auf den revolutionären internationalistischen Weg von Lenin und Trotzki zurückzuführen.

Jede Gruppe, die die revolutionäre Führung anstrebt, muß in der Lage sein, die Realität zu erkennen und die Wahrheit zu sagen. Die heutige politische Realität ist von der Tatsache bestimmt, daß der Sieg der Konterrevolution im August 1991 den sowjetischen Arbeiterstaat zerstörte. Der größte Teil der Wirtschaft ist noch formal Eigentum des Staates wie in Polen, in der Tschechoslowakei und im Rest Osteuropas. Aber diejenigen, die das Gewaltmonopol in der Gesellschaft ausüben, sind nicht der Aufrechterhaltung des staatlichen Eigentums, sondern dessen Auflösung verpflichtet. Die Klasse, die das kollektive Eigentum erschaffen und das größte Interesse an dessen Fortbestand hatte — das Proletariat — wurde durch den Aufstieg Stalins in den 20er Jahren von der direkten politischen Macht ausgeschlossen. Doch leitete die stalinistische Bürokratie, trotz all ihrer Verbrechen gegen die Arbeiterklasse, ihre soziale Macht von der Rolle des Verwalters der verstaatlichten Wirtschaft ab. Um ihre Privilegien zu sichern, war sie manches Mal gezwungen, die proletarischen Eigentumsformen gegen die kapitalistische Restauration zu verteidigen und prokapitalistische Elemente in ihren eigenen Reihen zu unterdrücken. Mit dem Scheitern des August-Putsches brach der tief gespaltene und durch und durch demoralisierte stalinistische Apparat zusammen, und die Macht ergriffen Kräfte, die sich öffentlich dafür aussprachen, die von der Oktoberrevolution geschaffenen ökonomischen Grundlagen zu zerstören.

Wie kurzzeitig und ineffektiv auch immer, der Erfolg der Putschverschwörer wäre ein Hindernis gewesen für den Sieg der Restaurateure, die jetzt an der Macht sind. Es war deshalb die Pflicht derjenigen, die die Sowjetunion gegen die kapitalistische Konterrevolution verteidigten, mit den Führern des Putsches gegen Jelzin Seite zu beziehen, ohne den Putschisten dabei irgendeine politische Unterstützung anzubieten. Doch soweit wir wissen, scheiterte jede angeblich trotzkistische Tendenz in diesem letzten Test der Verteidigung der Sowjetunion. Die meisten stellten sich auf die Seite der Jelzin-Kräfte im Namen der Demokratie. Andere verhielten sich neutral. Um ihr Versagen zu entschuldigen, halten es jetzt viele dieser Gruppen für ratsam, die Bedeutung von Jelzins Sieg im August herunterzuspielen.

VS: „Bei uns kennt man nur noch Demokraten“

Während der letzten vierzig Jahre hat sich das von Ernest Mandel geführte Vereinigte Sekretariat der Vierten Internationale (VS) auf das Entstellen und Verkürzen von Trotzkis revolutionärem Programm spezialisiert, um sich der jeweils neuesten linken Modeerscheinung anzupassen. Dessen Suche nach einem einfachen Rezept, Masseneinfluß zu erlangen, führte es von der Unterstützung aufständischer Stalinisten wie Castro und Ho Chi Minh in den späten 60er Jahren zu uneingeschränkter Lobpreisung der Antikommunisten der polnischen Solidarnosc ein Jahrzehnt später. Als sich während der letzten eineinhalb Jahrzehnte der vorherrschende politische Wind nach rechts drehte, hat das VS versucht, eine Nische am Rand der Sozialdemokratie zu finden. Es überrascht folglich kaum, daß während des August-Putsch es Mandel und seine Anhänger für die paar Tausend kapitalistisch-restaurationistischen Liberalen und Schwarzhändler Partei ergriffen, die sich vor Jelzins Weißem Haus versammelten. Wie die gesamte internationale Bourgeoisie begrüßte das VS den Sieg des russischen Präsidenten über das Notstandskomitee als einen Triumph der „Demokratie“. Eine der VS-orientierten Organisationen in den USA, die Fourth Internationalist Tendency, schrieb: „Die Niederlage des Putsches war ein wirklicher Sieg für die sowjetischen Völker“ (Bulletin in Defense of Marxism, Oktober 91). Eine andere VS-orientierte Organisation sah in dem Haufen der Jelzin-Anhänger einen „Volksaufstand“ von einer derartigen Qualität, für die es „seit der Zeit der Russischen Revolution von 1917, geführt von W. I. Lenin und Leo Trotzki, nur wenige Beispiele gibt“ (Socialist Action, September 91). Mandel selbst schrieb:

„Die … Putschisten wollten die tatsächlich vorhandenen demokratischen Freiheiten ernstlich einschränken oder gar aufheben. … Deshalb mußte der Putsch mit allen verfügbaren Mitteln bekämpft werden. Und deshalb sollte das Scheitern des Putsches begrüßt werden“
International Viewpoint, 03.02.1992

Wie bei jedem guten Kautskyaner bildet für Mandel abstrakte „Demokratie“ das wichtigste Kriterium. Die Konterrevolutionäre im Kreml und ihre internationalen Hintermänner im IWF machen sich nicht solche Sorgen um derartige „Freiheiten“. Die brutalen Austeritätsmaßnahmen, die für die kapitalistische Restauration erforderlich sind, werden den sowjetischen Massen mit Bajonetten auferlegt werden, nicht mit Wahlreden oder Händedrücken am Wahltag.

Marxisten wissen, daß bürgerliche Demokratie einen Klassencharakter besitzt. Die wirkliche soziale Ungleichheit zwischen Bourgeois und Proletariern, zwischen dem obdachlosen Bettler und dem Präsidenten von General Motors, wird durch formale Rechtsgleichheit nicht beseitigt, sondern vielmehr verschleiert. Parlamentarische Institutionen spielen eine wichtige Rolle bei der Legitimierung der Herrschaft der Bourgeoisie, indem sie die Klassenpolitik kapitalistischer Regierungen hinter einer Fassade allgemeiner Zustimmung verbergen. Die Arbeiterklasse muß demokratische Freiheiten in der kapitalistischen Gesellschaft gegen alle Versuche, sie zu beschneiden oder aufzuheben, verteidigen. Aber die Errungenschaften der Oktoberrevolution wogen, auf die Waagschale des menschlichen Fortschritts gelegt, weitaus mehr als die bürgerliche Demokratie. Die Abschaffung des Privateigentums auf einem Sechstel der Erdoberfläche und das Ersetzen der Anarchie des Marktes durch Wirtschaftsplanung bildeten gesellschaftliche Grundlagen, auf denen für die Millionen, die keine Fabriken, Banken oder Medienimperien besitzen, Demokratie hätte Wirklichkeit werden können. Die scheinheiligen „demokratischen“ Imperialisten haßten die Stalinisten nicht deshalb, weil sie die sowjetischen Arbeiter entrechteten, sondern weil ihre Herrschaft auf den Fortbestand der Errungenschaften angewiesen war, die das russische Proletariat 1917 gewonnen hatte. Mit Trotzkis Worten:

„Wir dürfen keinen einzigen Augenblick vergessen, daß für uns die Frage des Sturzes der Sowjetbürokratie der Frage der Erhaltung des Staatseigentums an den Produktionsmitteln in der UdSSR untergeordnet ist…“
Verteidigung des Marxismus

Das VS auf der falschen Seite der Barrikade

Die Barrikaden des August stellten eine Scheidelinie dar zwischen denen, die entschlossen waren, den Kapitalismus zurückzubringen, und denen, die die Marktreformen verzögern und den gesellschaftlichen und ökonomischen Status quo – zumindest für eine gewisse Zeit — erhalten wollten. Sozialdemokraten, Liberale und all jene, die offen für die kapitalistische Restauration eintraten, taten sich nicht besonders schwer damit, die Bedeutung des Putsches und seines Scheiterns zu begreifen. Pseudo-Trotzkisten indes müssen die Wirklichkeit verfälschen, um rechtfertigen zu können, daß sie sich vor der Verteidigung der Sowjetunion drücken und sich der linksliberalen öffentlichen Meinung unterwerfen. Deshalb ist es für das VS äußerst wichtig zu „beweisen“, daß es keine grundsätzlichen Unterschiede zwischen den Putschisten und den Gefolgsleuten Jelzins gab. Nat Weinstein meinte in der Septemberausgabe 1991 von Socialist Action:

„In dem Ausmaß, wie es Spaltungen unter denjenigen im Regierungs- und Staatsapparat gibt — von Gorbatschow zu den Organisatoren des Putsches, zu Boris Jelzin und Eduard Schewardnadse — bestehen diese nicht zwischen solchen, die eine auf der Marktwirtschaft basierende kapitalistische Demokratie unterstützen und auf der anderen Seite ‚den Sozialismus verteidigende kommunistische Hardliner‘“.

Die Führer des Putsches waren gewiß keine „den Sozialismus verteidigende Kommunisten“; sie waren stalinistische Bürokraten, die gegenüber Kräften, die sich offen für den Kapitalismus ausgesprochen hatten, versuchten, an der Macht und den Privilegien des Zentralapparates festzuhalten, was vom Vorhandensein einer staatseigenen Wirtschaft abhing. Wenn sich im Putsch nicht Restaurateure und die, die sich der Restauration widersetzten, gegenüberstanden, worum kämpften die rivalisierenden Fraktionen Weinstein zufolge? Er fährt fort:

„Alle bedeutenden Strömungen im Staatsapparat … unterstützen die Wiedereinführung des Kapitalismus.

Die grundsätzliche Meinungsverschiedenheit zwischen ihnen bestand darin, ob es möglich war, den Prozeß der kapitalistischen Restauration mit politischen Mitteln fortzusetzen, oder ob eine Diktatur mit eiserner Faust notwendig war, um die gegen die Arbeiterklasse gerichteten Maßnahmen durchzusetzen, die diese Politiker fordert“.

Es ist unschwer zu erkennen, wohin diese Argumentation führt. Wenn die Gefolgsleute Jelzins und die Führer des Putsches gleichermaßen für den Kapitalismus eintraten und nur hinsichtlich der politischen Mittel unterschiedlicher Meinung waren, sollte die Arbeiterklasse den Sieg der Fraktion vorziehen, die den Kapitalismus mit weniger repressiven Methoden wiederherzustellen versuchte. Das ist, wie wir sehen werden, das einzig logische Argument, das von allen sogenannten Trotzkisten vorgebracht wurde, die sich weigerten, mit den Führern des Putsches zu blocken. Nur dessen wichtigste Voraussetzung — daß die Ziele der Putschisten und die ihrer Gegner dieselben waren — ist falsch.

Ernest Mandel stimmt mit Weinstein darin überein, daß Jelzin einen Flügel der sowjetischen Bürokratie repräsentiert, bezweifelt aber, daß der russische Präsident oder andererseits die Führer des Putsches den Kapitalismus wiedereinführen wollten oder konnten:

„Die sowjetische Bürokratie ist zu riesig, ihre sozialen Netze sind zu stark, das Gespinst aus Trägheit, Routine, Obstruktion und Sabotage, auf das sie sich stützt, ist zu dicht um durch Maßnahmen von oben entscheidend geschwächt zu werden. […] Jelzin repräsentiert ebenso wie Gorbatschow, wenn nicht noch mehr, eine Fraktion in den höchsten Ebenen der Nomenklatura. Von seiner ganzen Vergangenheit und Ausbildung her ist Jelzin ein Mann des Apparates. Sein Talent als populistischer Demagoge gestattet nicht, dieses Urteil zu ändern…. Man wird sagen, daß Jelzin im Gegensatz zu Gorbatschow, weicher sich auf irgendeine verschwommene Weise weiterhin selbst als Sozialist bezeichnet, sich offen zur Restauration des Kapitalismus bekannt hat. Das ist wahr. Aber Treuebekenntnisse reichen uns nicht aus, um eine Einschätzung von Politikern vorzunehmen. Wir müssen uns anschauen, was in der Praxis vor sich geht und welchen gesellschaftlichen Interessen sie dienen. Von diesem Standpunkt aus gesehen repräsentieren Jelzin und seine Verbündeten bei der Liquidierung der UdSSR … eine, von den richtigerweise als bourgeois bezeichneten Kräften, unterschiedene Fraktion der Nomenklatura … obwohl sie an den Rändern ineinander übergehen können“
International Viewpoint, 03.02.1992

Einerseits behauptet also Weinstein, daß die gesamte sowjetische Bürokratie entschlossen war, den Kapitalismus wiedereinzuführen, wogegen sich andererseits Mandel skeptisch zeigt, ob irgendein Flügel der Bürokratie, einschließlich ihrer am weitesten rechtsstehenden Elemente, den Willen oder die Macht besitzt, dieses zu tun. Diese beiden Einschätzungen der sowjetischen Bürokratie sind diametral entgegengesetzt und würden in jeder Organisation, die solche Fragen ernst nimmt, zu hitzigem Meinungsstreit führen. Wenn Weinstein und Mandel in der Tat weiterhin zusammen glücklich unter demselben politischen Dach leben, dann nur deshalb, weil ihre offensichtlichen Meinungsverschiedenheiten einen sehr viel bedeutenderen gemeinsamen Nenner verdecken.

Mandel und Weinstein sind sich einig, daß der August-Putsch und sein Ausgang nicht die Frage des Fortbestandes des sowjetischen Arbeiterstaates stellten. Sie stimmen darin überein, daß Jelzins vorrangige politische Differenz mit dem Notstandskomitee darin bestand, daß er demokratische Freiheiten erhalten wollte. Von gegensätzlichen Voraussetzungen hinsichtlich der Natur und den Zielen der sowjetischen Bürokratie ausgehend, gelangen Weinstein und Mandel somit zum selben Ergebnis: Unterstützung des „demokratischen“ Jelzin-Lagers. Und durch einen glücklichen Zufall gibt diese praktische Schlußfolgerung dem VS einen Platz auf der Sonnenseite des linksliberalen und sozialdemokratischen Meinungsspektrums. Für Opportunisten dient die Analyse der objektiven Realität nicht als Anleitung zum Handeln, sondern als Vorwand, das Programm zurecht zu stutzen. Welche Rationalisierung gewählt wird, spielt eine untergeordnete Rolle, solange das Ergebnis stimmt.

Die Gefolgsleute Jelzins und die Putschisten: ein Interessenskonflikt

Wie alle Rationalisierungen beinhalten jene von Weinstein und Mandel Elemente der Wahrheit, die hervorgehoben werden, um das Gesamtbild zu verfälschen. Es ist wahr, wie Weinstein betonen würde, daß das Notstandskomitee, anders als sowjetische Stalinisten in der Vergangenheit, nicht versucht hat, seine Maßnahmen mit sozialistischer Rhetorik zu rechtfertigen. Auch kann nicht bestritten werden, daß die in ihren öffentlichen Erklärungen zum Ausdruck gebrachte Einstellung gegenüber dem kollektivisierten Eigentum mehrdeutig war: Einerseits äußerten sie Besorgnis über die wachsende Gefahr für den „einheitlichen Volkswirtschaftsmechanismus, der sich im Laufe von Jahrzehnten herausgebildet hatte“ und den Angriff, der stattfindet auf „die Rechte der Werktätigen … auf Arbeit, Bildung, Gesundheitswesen, Wohnraum und Erholung“ (New York Times, 19.08.91). Andererseits verpflichteten sie sich jedoch, die verschiedenen Eigentumsformen, die in der Sowjetunion entstanden waren, einschließlich des Privateigentums, zu respektieren und den Weg der Perestroika fortzuführen. Diese Zweideutigkeit erklärt sich aus der Tatsache, daß die Putschisten bar jeder positiven historischen Perspektive waren. Aller Wahrscheinlichkeit nach glaubten sehr wenige von ihnen an die Überlegenheit vergesellschafteten Eigentums, geschweige denn an den „Sozialismus“. Trotzki beschrieb in seinen Schriften der frühen 30er Jahre die stalinistische Bürokratie als eine bunte Mischung: Sie durchliefe die Skala von gänzlich zynischen Opportunisten, die den Sowjetstaat bei der erstbesten Gelegenheit verrieten, bis zu aufrichtigen sozialistischen Revolutionären; von Faschisten wie Butenko zu proletarischen Internationalisten wie Ignaz Reiss. Die Jahre unter Breschnew indes brachten eine Aushöhlung von was auch immer die Bürokratie an sozialistischer Überzeugung bewahrte. Als die sowjetische Wirtschaft ihre Entwicklungsdynamik verlor, durchdrangen Selbstgefälligkeit, Zynismus und Korruption den Apparat auf allen Ebenen. Diese Aushöhlung wurde personifiziert durch Breschnew selbst, mit seiner berüchtigten Vorliebe für das Sammeln exklusiver Datschen und ausländischer Sportwagen. Die einzige ideologische Überzeugung, welche die „Hardliner“ motivierte, war Sowjetpatriotismus: eine Verpflichtung, den Rang der UdSSR als Weltmacht zu erhalten. Dieser „Patriotismus“ erklärt den unbestreitbar heterogenen Charakter der Opposition gegenüber Jelzin und die seltsame Affinität zwischen streng konservativen Apparatschiks und zaristischen Antisemiten: Für beide ist der Erhalt eines starken russischen Staates sehr viel wichtiger als die ihn tragenden Eigentumsverhältnisse.

Aber eine marxistische Analyse der sowjetischen herrschenden Kaste beruht in erster Linie nicht auf dem, was die Bürokraten denken, geschweige denn auf dem, was sie in der Öffentlichkeit sagen. Den Schlüssel zur Erklärung des politischen Verhaltens verschiedener sozialer Klassen und Schichten bildet ihre objektive soziale Stellung und die daraus hervorgehenden materiellen Interessen. Im Gegensatz zur Bourgeoisie war die sowjetische Bürokratie niemals eine Eigentum besitzende Gruppe. Im August 1991 rührten ihre Privilegien, genauso wie zur Zeit des Höhepunktes der Macht Stalins, von ihrer Rolle als Verwalter der zentralverwalteten, staatseigenen Wirtschaft her. Als die Macht des Zentrums unter zunehmenden Beschuß aufrührerischer Nationalitäten, abtrünniger Bürokraten und Verfechtern der freien Marktwirtschaft geriet, war es natürlich, daß einige Teile des zentralen Staats- und Parteiapparates versuchen würden, ihren Vorrechten wieder Geltung zu verschaffen. Das war der tiefere Sinn des Machtkampfes in der Partei, der dem August-Putsch vorherging und des Putschversuches selbst (siehe die Erklärung der Internationalen Bolschewistischen Tendenz zum August-Putsch 1991 in diesem Bulletin).

Was eine Erklärung erfordert ist nicht die Tatsache, daß ein Teil der stalinistischen Bürokratie Widerstand leistete, sondern daß sie sich im größten Teil von Osteuropa widerstandslos stürzen ließ, und daß der versuchte Gegenschlag der sowjetischen Nomenklatura, als er dann schließlich kam, dermaßen verspätet, unentschlossen und kläglich war. Die Sklerose des Stalinismus war in der Tat sehr viel weiter fortgeschritten, als man vor 1989 gedacht hatte.

Der Status quo, welchen die „Achterbande“ zu bewahren versuchte, umfaßte etwas Wertvolleres für die sowjetischen Arbeiter und die Arbeiter der Welt als tausend Verfassungen oder Parlamente: Staatseigentum an den Produktionsmitteln. Niemand hätte am Morgen des 19. August wissen können, daß die zur Verteidigung des Status quo errichteten Barrikaden sich als so kurzlebig erweisen würden, wie sie es waren. Aber wie wir vor dem Putsch schrieben:

„Es ist möglich, daß führende Teile der Bürokratie irgendwann in der Zukunft versuchen, den Prozeß der kapitalistischen Restauration aufzuhalten. Wenn das geschehen würde, wäre es unsere Pflicht, militärisch Seite zu beziehen für die ‘Konservativen’ gegen das Jelzin-Lager. Die stalinistische Kaste ist unfähig, die Probleme zu lösen, welche überhaupt erst zu den ‘Reformen’ führten; aber auf die Bremse zu steigen könnte zumindest etwas Zeitgewinn bringen“
1917, Nr.10

Ernest Mandel, der uns selbstzufrieden versichert, daß sich die stalinistische Bürokratie nach wie vor an der Macht befindet, stützt seine Behauptung ebenfalls auf manches Körnchen Wahrheit. Jelzin war in der Tat ein Produkt des Apparats; zuerst erlangte er allgemeine Bekanntheit als Parteiboß in der Stadt Swerdlowsk (heute, wie zu zaristischen Zeiten, Jekaterinburg), und dann machte er weiter als Parteichef von Moskau. Als draufgängerischer Mensch mit einer sehr hohen Meinung von sich selbst ärgerte sich Jelzin über die von Gorbatschow durchgesetzte autokratische Parteidisziplin und kritisierte öffentlich den Parteivorsitzenden, Glasnost und Perestroika nicht weit genug zu führen. Jelzins Bruch mit Gorbatschow führte schließlich zu seiner Entlassung als Chef der Moskauer Parteiorganisation und zu seinem Ausschluß aus dem Politbüro. Später lehnte er die Kommunistische Partei in Gänze ab.

Jelzin überlebte politisch nur deshalb, weil sein Ruf als prominentester Kritiker Gorbatschows es ihm ermöglichte, ein Wortführer von Kräften außerhalb der Partei zu werden. Jelzin wurde gegen die Partei zum Präsidenten der Russischen Republik gewählt, als Vorkämpfer jener Elemente in Rußland und der gesamten UdSSR, die danach strebten, das politische Monopol der KPdSU zu zerstören. Als er vor seinem Weißen Haus auf einem Panzer stand, um den Putschisten gegenüberzutreten, sprach er als ein Vertreter des ausländischen Kapitals, nationaler Separatisten und der Zuhälter, Devisenspekulanten und anderer Moskauer „Unternehmer“ inklusive deren Wachschutzleuten, aus denen sich der größte Teil der Menge zusammensetzte, die sich zu seiner Unterstützung versammelte. Mandel kann Jelzin nur als einen „Mann des Apparats“ darstellen, indem er dessen Überlaufen in das Lager des Klassenfeindes ignoriert.

„Spontane Privatisierung“ und die Nomenklatura

Mandels Behauptung, daß die Bürokratie an der Macht bleibt, beinhaltet ebenfalls ein Körnchen Wahrheit. Die Millionen Individuen, welche die Nomenklatura bildeten, sind nicht verschwunden, und viele von ihnen haben nicht einmal ihre Anstellung verloren. Der ukrainische Präsident, Leonid Krawtschuk, und sein kasachisches Gegenstück, Nursultan Nasarbajew, waren stalinistische Parteichefs, die erst nach dem August leidenschaftliche Nationalisten wurden. Es überrascht nicht, daß sich jetzt Reste des alten Regimes und die unteren bürokratischen Ebenen, auf die sie sich stützen, um einflußreiche Positionen im neuen politischen und wirtschaftlichen System reißen. Wenn eine vollständig entwickelte, mit Gesetzbuch und repressivem Staatsapparat zum Schutz des Privateigentums bewaffnete kapitalistische Klasse eine Voraussetzung für die kapitalistische Restauration wäre, könnte der Kapitalismus niemals in irgendeiner kollektivisierten Wirtschaft wiedereingeführt werden.

Die New York Times vom 27. Dezember 1991 zitierte Graham Allison, einen Harvard-Sowjetologen, zur neuen Rolle, die viele Direktoren von Staatsbetrieben spielen:

„‚Man ist Leiter eines Staatsunternehmens, sagen wir einer Flugzeugfirma mit 10 000 Beschäftigten, und man beginnt anzunehmen, es gäbe niemanden über einem‘, sagte er. ‚Man erhält keine Anweisungen, und das Ministerium, dem man unterstellt war, verschwindet. Man nimmt an, daß das Eigentum einem selbst gehört, und da man gerade keinerlei Lieferungen erhält, muß man sich für sich selbst und seine Beschäftigten umsehen. Manchmal bringt man einen Ausländer dazu, die Hälfte des Betriebes als Joint Venture zu kaufen. Das ist spontane Privatisierung‘“.

Die VS-Zeitschrift International Viewpoint (20.01.92) enthält ein bemerkenswertes Interview mit Juri Marenitsch, Akademiemitglied und Delegierter des Moskauer Volksdeputiertenrates. Marenitsch beschreibt den Prozeß, wie sich lokale Funktionäre aus dem Jelzin-Lager große Brocken an Grundeigentum und anderem Staatseigentum aneigneten:

„Sie führten ihre Wahlkampagnen unter dem Slogan ‚Wenn wir die Macht gewonnen haben, werden wir das Eigentum entmonopolisieren und die Wirtschaft durch den Markt lenken‘. Aber wenn sie erst die Macht erworben haben, das Staatseigentum zu dirigieren, sehen sie sich einer ungeheueren Versuchung ausgesetzt, dieses Eigentum an sich zu reißen. Dies wurde durch die Möglichkeit erleichtert, Stellungen in Regierungsinstitutionen mit Posten in Privatunternehmen, die mit der Regierung Geschäfte machen, zu verbinden. Kurz, jene, die für die Überwachung der Privatisierung verantwortlich waren, übertrugen das Eigentum des Bezirkes einfach auf Finnen, an deren Spitze sie selbst stehen. […] Alle Mitglieder des Exekutivkomitees des Sowjets gründeten Privatunternehmen, an deren Spitze sie standen. Ein Unternehmen übernahm die Informationsdienste des Sowjets, ein anderes die Rechtsabteilung, ein drittes übernahm das gesamte Grundeigentum, dessen Verkaufs- und Verpachtrechte aus dem Bezirksgebiet. … Es ist ganz einfach. Seit den 30er Jahren hatten wir ein System der Übertragung von Eigentum ohne Bezahlung. Aber alles war Staatseigentum und die Übertragung fand von einer Staatsbehörde oder Unternehmen zu einer anderen statt. Alle Beteiligten handelten im Namen eines einzigen Eigentümers, des Staates. Jetzt jedoch haben wir auch Privateigentümer. Aber sie haben dasselbe Verfahren benutzt, um Grundeigentum vom Bezirkssowjet, eines Staatsorganes, in ein Privatunternehmen zu überführen…“.

Marenitsch vermutet, daß ein ähnliches Modell gerade im ganzen Land kopiert wird. Viele aus der alten Nomenklatura werden wahrscheinlich einen Platz als Mitglied einer neuen postsowjetischen kapitalistischen Klasse finden. Diejenigen, welche die stalinistischen Apparatschiks ersetzen, werden zweifellos einige Zeit fortfahren, entlang der Mechanismen des Staatseigentums zu handeln.

Die Wiedereinführung des Kapitalismus muß offensichtlich als Ergebnis eines Prozesses vonstatten gehen, bei dem Elemente der Kontinuität auf der Grundlage früherer Formen sozialen und ökonomischen Lebens fortbestehen werden, während eine einheimische Bourgeoisie aus den Fragmenten anderer Klassen und Schichten gebildet wird. In der sowjetischen Wirtschaft wirkten gewaltige zentrifugale Kräfte Jahre vor Jelzins Triumph im August. Aber Mandels Hervorheben der Elemente der Kontinuität verdeckt die Tatsache, daß die Niederlage des Putsches einen qualitativen Umschwung bedeutete. Solange das Zentrum in Moskau die administrative Kontrolle über die Wirtschaft ausüben konnte waren die regionalen und lokalen Bürokraten gezwungen, innerhalb (oder entlang) des von oben festgelegten Rahmens zu arbeiten. Ihre Gelüste nach den Privilegien von Eigentumsbesitzern gerieten unter eine konkrete Beschränkung. Erst nachdem im August die Zentralgewalt endgültig zerbrochen worden war, stand es ihnen frei, den Weg der „spontanen Privatisierung“ zu beginnen. Die Augustereignisse bedeuteten das Ende für den sowjetischen Arbeiterstaat. Alle Beteuerungen Mandels und Weinsteins, nichts Grundlegendes habe sich geändert, sind schließlich wenig mehr als wohldurchdachte Bemühungen, der Verantwortung auszuweichen, Partei für die Konterrevolution ergriffen zu haben.

Workers Power: Verteidiger der Sowjetunion in Worten, Gefolgsleute Jelzins in der Tat

Die vorgeblichen Trotzkisten von Workers Power (Britannien) und ihre Partner in der Liga für eine Revolutionär-Kommunistische Internationale (LRKI) sind im Eingestehen der Bedeutung des gescheiterten Putsches sehr viel aufrichtiger als das VS. Anfangs zögerten sie zuzugeben, daß der sowjetische Arbeiterstaat im August sein Ende fand und bezeichneten die Situation nach dem Putsch zuerst als „Doppelherrschaft“, in der Gorbatschow als Repräsentant der Bürokratie weiterhin mit den Restaurateuren des Jelzin-Lagers um die staatliche Autorität wetteifere. Als aber der „Gorbatschow-Pol“ im Dezember durch einen Klaps von Jelzins kleinem Finger zusammen gebrochen war, erkannte Workers Power schließlich die Wirklichkeit und gab zu:

„Die Sowjetunion ist tot. Das Gespenst, das mehr als siebzig Jahre lang bei den Kapitalisten umging, wurde zur letzten Ruhe gebettet“
Workers Power, Januar 1992

Workers Power erkennt auch den Zusammenhang zwischen dem Untergang des sowjetischen Arbeiterstaates und Jelzins Sieg über den Putsch im August. In einer Erklärung des Internationalen Sekretariats der LRKI vom September 1991 wird behauptet, daß die vom Notstandskomitee repräsentierte bürokratische Fraktion „durch ihre Maßnahmen am 19. August hoffte, ihre Privilegien auf der Grundlage nachkapitalistischer Eigentumsverhältnisse zu verteidigen“ (Revolutionärer Marxismus 6, Hervorh. v. u.). In der Erklärung werden anschließend die Jelzin-Kräfte folgendermaßen beschrieben:

„Die ehemaligen [demokratischen und nationalistischen] Oppositionskreise… verloren nahezu allen Glauben an die Reformierung des ‘real existierenden Sozialismus’ und orientierten sich auf Ideale westlicher Demokratie und Marktwirtschaft. Die letzteren — die Ex-Gorbatschow-Anhänger — gaben sich keinen Illusionen über Gorbatschows utopisches Projekt des ‘Marktsozialismus’ mehr hin. Sie waren empört über das Schwanken ihres Führers und seine Kompromisse mit den Konservativen und ließen sich als Restaurateure des Kapitalismus in der UdSSR in den Dienst des Imperialismus stellen.

Was stellt die von Jelzin geführte Kräftekoalition politisch dar? Jelzin, Schewardnadse und in der Tat die gesamte militärische und politische Umgebung des russischen Präsidenten repräsentieren eine Fraktion der Bürokratie, welche die Verteidigung ihrer Kastenprivilegien und deren Quelle — ein degenerierter Arbeiterstaat — preisgegeben hat, zugunsten von Schlüsselstellungen, die sie als Mitglieder einer neuen bürgerlichen herrschenden Klasse einnehmen wollen“.

Somit ist der LRKI zufolge die Identität der bei der Konfrontation im August miteinander ringenden Kräfte klar: auf der einen Seite ein Sektor der sowjetischen Bürokratie, der, wenn auch nur um seine Privilegien zu wahren, den sowjetischen Arbeiterstaat zu verteidigen versuchte; auf der anderen Seite ein Bündnis von Nationalisten, „demokratischer“ Intelligenzija und Bürokraten, das versuchte, den Arbeiterstaat zu zerstören und den Kapitalismus zu restaurieren. In dieser Konfrontation zögerte Workers Power nicht, eine Seite zu wählen — die Seite derjenigen, die den Arbeiterstaat zerstören wollten! In derselben Ausgabe von Workers Power wurde verkündet: „Wir hatten in den Kampf einzutreten, um dem Putsch ein Ende zu bereiten, und hatten dabei in der Tat die vorderste Stellung zu beziehen“. Um diesen Punkt zu unterstreichen, bringt dieselbe Ausgabe einen Artikel mit der Überschrift „Ihr Lied ist aus“, in dem „die linken Unterstützer des Putsches“ heruntergeputzt werden. Um in diesem Zusammenhang nicht irgend jemanden an der Ernsthaftigkeit der LRKI im Zweifel zu lassen, hat sie kürzlich ihre Beziehungen zu einer kleinen kalifornischen Gruppe, die sich Revolutionary Trotskyist Tendency nennt, abgebrochen, weil diese sich weigerte, das Jelzin-Lager gegen das Notstandskomitee zu unterstützen.

Durch welche Wunder an ideologischer Verrenkung kann die LRKI diese Position mit ihrem Anspruch, kommunistisch, trotzkistisch und Verteidigerin der Sowjetunion zu sein, in Einklang bringen? In der Erklärung des Internationalen Sekretariats der LRKI wird fortgefahren:

„Diese Ereignisse werfen schwerwiegende Fragen auf. War die Perspektive der politischen Revolution eine wirklichkeitsfremde, eine utopische Perspektive? War der Widerstand gegen den konservativen Putsch an sich konterrevolutionär? Hätte ein erfolgreiches Zuschlagen der Bürokratie der Arbeiterklasse eine Verschnaufpause verschafft? Die Antwort auf alle diese Fragen ist nein!

In welchem Sinne könnte man behaupten, daß das Notstandskomitee für den Ausnahmezustand ‚die planwirtschaftlichen Eigentumsverhältnisse verteidigte‘? Wohl nur in diesem: Es widersetzte sich seiner Machtenthebung bis zu dem Grade, wie es den ‚Wirt‘ repräsentierte, dessen planwirtschaftliche Eigentums Verhältnisse die Grundlage für seine parasitäre Existenz abgab. Doch dieser gewaltige soziale Parasit war die hauptsächliche [sic!] Ursache für die tödliche Krankheit der bürokratisch zentralgeplanten Wirtschaft und der daraus resultierenden Desillusionierung der Massen ihr gegenüber.

Infolge ihrer totalitären Diktatur waren die Stalinisten außerdem ein absolutes Hindernis für die Eigenaktivität und das Selbstbewußtsein des Proletariats und für dessen Fähigkeit zur Bildung einer neuen Avantgarde, die als einzige die ‚Errungenschaften des Oktober‘ nicht nur bewahren, sondern hätte erneuern können“
Workers Power, September 1991

Für Trotzkisten ist selbstverständlich, daß die Stalinisten ein Hindernis für die Eigenaktivität der Arbeiterklasse darstellten und Schmarotzer an der Planwirtschaft waren, die sie durch ihre Mißwirtschaft ruinierten, und zu deren Verteidigung sie sich letztendlich als unfähig erwiesen. Aus diesem Grund war eine politische Revolution in der UdSSR notwendig: um die Stalinisten hinauszuwerfen und die Planwirtschaft zu bewahren.

Was war zu tun?

Auch eine verhältnismäßig kleine revolutionäre Gruppierung hätte in jenen entscheidenden Augusttagen eine mächtige Ausstrahlung haben können, als die schwachen und schwankenden Putschisten dem bunt gemischten Pöbelhaufen Jelzins gegenüberstanden. Die offenkundige Schwäche und Desorganisiertheit auf beiden Seiten boten eine Gelegenheit für eine trotzkistische Gruppe, die sich zur Bewahrung verstaatlichten Eigentums unter der Leitung demokratischer Organe der Arbeitermacht bekennt. Das taktische Nahziel dieser ersten Tage wäre die Organisierung eines Angriffs gewesen, um die paar Hundert leichtbewaffneten Jelzin-Anhänger im und um das russische Weiße Haus herum auseinander zu jagen.

Eine entschlossene Initiative gegen die Konterrevolutionäre hätte breite Unterstützung in der Arbeiterklasse, welche von der Perestroika die Nase voll hatte, gewonnen. Sie wäre von einem erheblichen Teil der Streitkräfte ebenfalls wohlwollend aufgefaßt worden und hätte prosozialistische Elemente zu aktivem Beistand veranlassen können. Die altersschwachen Männer, die den Putsch machten, hätten kaum eine andere Wahl gehabt, als diese „Hilfe“ anzunehmen, obwohl diese, unter der Fahne der Arbeitermacht stehende Aktion letztlich auch ihre Interessen bedroht hätte. Dem Auseinanderjagen der Jelzin-Anhänger hätte sich ein Aufruf an Vertreter aller Fabriken, Kasernen und Arbeiterwohnsiedlungen anschließen können, sich am Weißen Haus zu versammeln, um einen echten, demokratischen Moskauer Sowjet ins Leben zu rufen.

Der Erfolg einer solchen Initiative hätte in der ganzen UdSSR Massenkämpfe der Arbeiter zur Vertreibung der kapitalistischen Restaurateure auslösen können. Er hätte außerdem die Herrschaft des KPdSU-Apparats weiter geschwächt. Ein militärischer Block mit den Putschisten gegen Jelzin stand dem Kampf für Sowjetdemokratie nicht entgegen. Ebenso wie Lenins Block mit Kerenski gegen General Kornilow im August 1917 den Sturz der bürgerlichen Provisorischen Regierung vorbereitete, hätte ein Kampf gegen Jelzin, in dem selbständige Formationen der Arbeiterklasse ihre Gewehre in dieselbe Richtung wie die Putschisten richteten, die für die politische Revolution eintretenden Kräfte gestärkt und die Versuche Janajews, Pugos und anderer, ihr System der politischen Repression Wiederaufleben zu lassen, wären durchkreuzt worden.

In keiner Weise konnte im voraus garantiert werden, daß ein Angriff auf Jelzin erfolgreich verlaufen wäre. Doch selbst eine blutige Niederlage wäre einer kampflosen vorzuziehen gewesen. Millionen Arbeiter hätten Berührung mit dem Programm des Trotzkismus gehabt. Der Versuch, die kapitalistische Restauration zurückzuschlagen und für direkte Arbeitermacht zu kämpfen, wäre im sich entwickelnden Bewußtsein der russischen Arbeiterklasse als Beispiel und wichtiger Diskussionsmittelpunkt zurückgeblieben. Aber unter den gegebenen Umständen war eine Niederlage durchaus nicht unausweichlich. Die Intervention einer kleinen, jedoch fest zusammengeschlossenen, mit einer korrekten politischen Orientierung bewaffneten Gruppe hätte das Gleichgewicht durchaus zu Ungunsten der Konterrevolution kippen können.

Unglücklicherweise spielte die sowjetische Arbeiterklasse keine selbständige politische Rolle. Der Machtkampf fand statt zwischen den stalinistischen Parasiten, die ihren Wirt zu schützen versuchten und den Restaurateuren des Jelzin-Lagers, die ihn zu zerstören versuchten. Workers Power beklagt, daß die Stalinisten „nur“ als Parasit kollektivisiertes Eigentum verteidigen. Aber das Wörtchen „nur“ verdunkelt eine Interessenskonvergenz, die in diesen drei Tagen die Frage des Lebens oder Todes des sowjetischen Arbeiterstaates umfaßte. Ein Parasit kann nicht ohne seinen Wirt existieren und besitzt folglich ein ausgesprochenes Interesse, ihn zu erhalten. Wenn der Parasit in der Stunde tödlicher Gefahr bewaffnet und der Wirt unbewaffnet ist, hängt das Überleben des Wirtes vom Sieg des Parasiten ab. Die Stalinisten richteten die Planwirtschaft zugrunde und man konnte sich nicht darauf verlassen, daß sie sie zukünftig verteidigen. Aber das ändert nichts an der Tatsache, daß ihre Ziele beim Versuch, den Status quo zu erhalten, in diesem Augenblick mit den Interessen der Arbeiterklasse zusammenfielen. Als Trotzki von der bedingungslosen Verteidigung der Sowjetunion sprach, meinte er damit nicht, daß die Vierte Internationale die UdSSR nur verteidigen sollte, wenn die Stalinisten zu herrschen aufgehört haben oder kompetenter oder reineren Herzens geworden sind.

Jelzin war die größere Gefahr

Workers Power blockte mit dem Jelzin-Lager, weil sie die Stalinisten für einen größeren Feind der Arbeiterklasse als die kapitalistischen Restaurateure hielt. Das wird in der Septemberausgabe von Workers Power dargelegt:

„Die einzige Kraft, die imstande ist, das Staatseigentum zu verteidigen… ist die Arbeiterklasse. Und sie kann nicht zur Tat schreiten, wenn ihre Streiks verboten sind, wenn sie Ausgangssperren, Zensur und politischen Verboten ausgesetzt ist. Es ist weit besser, daß die eben flügge gewordenen Arbeiterorganisationen der UdSSR lernen, gegen den Strom der bürokratischen Restauration zu schwimmen, als eine Atempause in der Gefängniszelle einlegen zu müssen“.

Die demokratische Atempause, die Workers Power so sehr schätzt, wird unter Jelzin wahrscheinlich nicht lange bestehen, wie Workers Power zugibt: „Wenn sie sich erst einmal an die Macht gebracht haben und versuchen, eine neue Klasse von Ausbeutern hervorzubringen, werden auch volle und konsequent bürgerlich-demokratische Rechte für die Massen nicht geduldet werden“ (ebenda). Also besteht der einzige Unterschied zwischen den Stalinisten und den Gefolgsleuten Jelzins im Hinblick auf demokratische Freiheiten in der für ihre Abschaffung nötigen Zeit. Hätten die Stalinisten die Oberhand gewonnen, hätten sie sich eines bereits vorhandenen Polizeistaates gegen die Arbeiter bedienen können. Auf der anderen Seite benötigt das Jelzin-Lager mehr Zeit, um einen Repressionsapparat auszubauen, und es kann viele demokratische Freiheiten noch nicht loswerden.

Workers Power räumt ein, daß Kapitalismus „Armut, hohe Preise, Arbeitslosigkeit, mörderische Arbeit, gesellschaftliche Unterdrückung und Kriegsgefahr“ (Workers Power, Januar 92) bedeuten wird, und „eine in der Geschichte noch nie dagewesene Enteignung der Arbeiter in Stadt und Land von den ‘Früchten ihrer Arbeit’“ (Workers Power, Dezember 91). Ist die stalinistische politische Repression für die Arbeiterklasse als eine kämpfende Kraft schädlicher als das soziale Chaos und Massenelend der kapitalistischen Restauration? Um ihre Entscheidung der Unterstützung Jelzins gegen die Putschisten zu rechtfertigen, muß Workers Power dies bejahen. Aber solch eine Antwort würde offen all dem widersprechen, was Trotzki über die russische Frage geschrieben hat. Trotzki betonte nachdrücklich, daß der Kampf für die Vertreibung der stalinistischen Oligarchen der Verteidigung des kollektivisierten Eigentums nicht entgegengesetzt ist, sondern vielmehr auf dieser ruht (und dieser Verteidigung letztendlich untergeordnet ist). Aus diesem Grund kann Workers Power, die sich als eine orthodoxe trotzkistische Tendenz ausgibt, nicht offen ihre eigentliche Position darlegen, daß nämlich die Verteidigung der sozialen Errungenschaften der russischen Revolution dem Sturz der stalinistischen Bürokratie untergeordnet war. Aber ihre Position zu den August-Ereignissen wird keine andere Schlußfolgerung zulassen.

Trotzki bezeichnete Zentrismus als revolutionär in Worten und reformistisch in Taten. Workers Power liefert ein lupenreines Beispiel dieses Phänomens. Obwohl sie Ereignisse und politische Kräfte häufig zutreffend analysiert, hindert sie ihr opportunistischer Impuls, nämlich ihre Politik auf die radikal-/sozialdemokratische öffentliche Meinung zuzuschneidern, daran, diese Analyse in ein Programm der Tat umzusetzen. Und oftmals zwingt sie dieser Impuls zu praktischen Schlußfolgerungen, die zu ihrer eigenen Argumentation im Widerspruch stehen. Sie haben von Ernest Mandel und dem VS noch zu lernen, daß bei einer Kluft zwischen opportunistischer Theorie und der Praxis nur eine falsche Darstellung der Wirklichkeit das Bindeglied bilden kann. Um diese Kluft zu überbrücken, behauptet das VS, daß es zwischen dem Jelzin-Lager und den Putschisten keine Meinungsverschiedenheiten über Eigentumsformen gab — nur darüber, ob demokratische oder autoritäre Methoden anzuwenden waren. Im Gegensatz hierzu gibt Workers Power zu, daß die beiden gegnerischen Lager objektiv entgegengesetzte Eigentumsformen verteidigten, tut sich aber dennoch auf Gedeih und Verderb mit Jelzin zusammen und versucht, diesen Widerspruch mit einer Folge von „orthodoxen“ Trugschlüssen zu übertünchen.

Die Spartacists: ‘Weder das Putschkomitee noch Jelzin’

James Robertsons Spartacist League/U.S. und ihre Übersee-Anhängsel in der internationalen Kommunistischen Liga (IKL) haben lange behauptet, von allen sogenannten trotzkistischen Gruppierungen auf diesem Planeten die einzigen zu sein, die wirklich die Sowjetunion verteidigen. Doch diese Pose steht in Widerspruch zu ihrer völligen Konfusion angesichts des Sieges von Jelzins Konterrevolution. Die Januar/Februar-Ausgabe von Workers Hammer, herausgegeben von dem britischen IKL-Ableger, beinhaltet eine Auseinandersetzung mit Gerry Downing von der Revolutionary Internationalist League (RIL) mit dem Titel „RIL: weder das Putschkomitee noch Jelzin“, in der die RIL für ihre Neutralität während des Putsches gegeißelt wird.

„Für die RIL besteht kein Unterschied zwischen einem Flügel der Bürokratie auf der einen Seite und einem Flügel des Weltimperialismus und kapitalisitischem Restaurationismus auf der anderen. Und natürlich, wenn Stalinismus mit Imperialismus gleichgesetzt wird, dann ist die Möglichkeit eines militärischen Blocks mit einem Teil der Bürokratie gegen kapitalistische Restaurateure zwangsläufig ausgeschlossen, denn so gesehen würde dies auf einen Block gegen kapitalistische Restauration mit ‚kapitalistischen Restaura teuren‘ hinauslaufen.“

Man würde kaum vermuten, daß sich auch die IKL, wie die Zentristen, die sie kritisieren, geweigert hat, beim Putsch eine Seite zu beziehen. Wenn Workers Hammer sich irgendjemanden wegen Neutralität vorknöpfen möchte, schlagen wir vor, daß sie mit ihrer amerikanischen Schwesterzeitung, Workers Vanguard (WV), beginnt, welche in ihrer Ausgabe vom 30. August wie folgt auf den Putsch reagierte:

„Noch bis zum Putsch verließen sich viele der fortschrittlichsten Arbeiter, die gegen Jelzins Pläne zur totalen Privatisierung und Gorbatschows Marktreformen waren, auf den sogenannten harten, ‚patriotischen‘ Flügel der Bürokratie. Jetzt ist für solche Illusionen kein Platz mehr. […] [Das] erklärte Programm [der Putschisten] war das Kriegsrecht, um den Zerfall der UdSSR zu verhindern, was im Grunde Perestroika minus Glasnost bedeutet: die Einführung des Marktes, aber nicht so schnell, und haltet die Klappe. […] Während des Putsches verbreitete der Moskauer Arbeiterrat einen Aufruf, in dem es hieß: ‚Schafft Arbeitermilizen zur Sicherung des vergesellschafteten Eigentums, für die Wahrung der öffentlichen Ordnung auf den Straßen unserer Städte, für die Kontrolle über die Durchführung von Anweisungen und Befehlen des Notstandskomitees‘. Nicht ein Wort der Kritik am GKChP [Notstandskomitee]. Ein Aufruf für Arbeitermilizen, die konterrevolutionäre Jelzin-Demonstration zu zerschlagen, war sicherlich angebracht; doch wenn das Notstandskomitee seine Macht gefestigt hätte, hätte es versucht, solche Arbeitermilizen aufzulösen, die sich anderenfalls unweigerlich sofort seiner politischen Kontrolle entzogen hätten“.

Wunder der Exegese wären erforderlich, um die obigen Abschnitte anders zu deuten, als „weder das Putschkomitee noch Jelzin“. Und noch so viel Bombast kann nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, daß die Argumente der Spartacists denen der Mandelianer sehr ähneln, nämlich daß es keinen wesentlichen Konflikt zwischen Jelzin und dem Notstandskomitee gab. Ebenso wie Mandel versuchen die Spartacists, ihr Versagen Seite zu beziehen, zu rationalisieren, indem sie behaupten, der Putsch hätte den Klassencharakter des Staates nicht verändert. Für die IKL existiert der Sowjetstaat noch immer und selbst heute noch leitet Boris Jelzin einen degenerierten Arbeiterstaat.

Doch im Gegensatz zu Mandel können die Spartacists nicht einfach eine Weder-die-eine-noch-die-andere-Seite-Position beziehen. Bis zum August 1991 sind sie oft von der gesamten Durchschnitts-Linken geschmäht worden, weil sie für einen militärischen Block mit den Stalinisten gegen die restaurativen Kräfte eintraten. Korrekterweise haben sich die Spartacists während der Konfrontation mit den Konterrevolutionären von Solidarnosc 1981 auf die Seite des Jaruzelski-Regimes gestellt und sie haben den sowjetischen Truppen, die gegen den reaktionären, von Imperialisten unterstützten, Aufstand in Afghanistan kämpften, militärische Unterstützung gegeben. Die Spartacists waren in der Tat so begeistert, sich auf die Seite der Stalinisten zu stellen, daß sie anfingen, die Linie zwischen militärischer und politischer Unterstützung zu verwischen. Ihre Neutralität im August stellt daher eine radikale Abkehr dar von ihrem lautstarken Gezeter, die letzten und besten Sowjet-Verteidiger zu sein.

Neutralität mit einem schlechten Gewissen

Da diese Wende keine programmatische Grundlage besitzt, hat die Spartacist-Führung sich gesträubt einzugestehen, daß eine wesentliche Änderung der politischen Linie stattgefunden hat. Daher bestehen sie darauf — entgegen aller Logik und entgegen ihren schriftlichen Stellungnahmen -, daß sie nicht neutral waren. Sie stellen ihre Haltung als in vollständigem Einklang mit früheren Positionen dar und sichern sich durch eine Vielzahl von Einschränkungen, zweideutigen Formulierungen und Entstellungen der Tatsachen ab. Um die auffallende Ähnlichkeit vieler ihrer Argumente mit denen anderer zentristischer und reformistischer Pseudo-Trotzkisten zu vertuschen, müssen die Spartacists die Lautstärke ihrer Polemiken aufdrehen. Aber die erhöhte Lautstärke macht die Dissonanzen, die vom Robertson-Hauptquartier in New York ausgehen, nur noch besser hörbar.

Soweit die Spartacists überhaupt irgendwelche kohärenten Argumente vorbringen, drehen sie sich um die höchst zweifelhafte Behauptung, daß das Notstandskomitee keinen Versuch unternahm, den konterrevolutionären Haufen auseinanderzutreiben, der sich zur Verteidigung vor Jelzins Weißem Haus versammelte. Nehmen wir einmal für einen Augenblick an, daß diese Behauptung wahr sei, so hieße das entweder, daß die Putschführer sich nicht wirklich in Konflikt mit Jelzin befanden, oder daß sie gegen Jelzin waren, aber zu schwach und unentschlossen, um gegen ihn vorzugehen. Die Spartacists sind sich selbst nie im klaren darüber, welche dieser Einschätzungen sie bevorzugen. Ihre wiederholte Behauptung, daß die vom Notstandskomitee versuchte Machtübernahme einen „Perestroika-Putsch“ darstellte, weist auf die erste Einschätzung hin. Daß sie auf der anderen Seite den Putsch als „erbärmlich“ und seine Führer als „eine Bande von acht, doch keiner hat ein Gewehr mitgebracht“ charakterisieren, deutet auf letztere. Beide Schlußfolgerungen führen jedoch zu einer hoffnungslosen Verstrickung in Widersprüchen.

Wie läßt sich zum Beispiel die Behauptung, daß Jelzin und das Notstandskomitee gleichermaßen für die Einführung der Marktwirtschaft waren, mit der Aussage im gleichen Artikel vereinbaren, daß „Die Werktätigen der Sowjetunion, ja die Arbeiter der ganzen Welt ein beispielloses Desaster erlebt haben“ und das Scheitern des Putsches „eine konterrevolutionäre Welle im Land der Oktoberrevolution entfesselte“ (WV, 30.08.92)? Wie konnte eine konterrevolutionäre Welle entfesselt werden, ohne daß eines ihrer Haupthindernisse beseitigt worden wäre? Stellten die Kräfte, die die Putschführer repräsentierten, ein solches Hindernis dar? Oder hätten diese eine ähnliche konterrevolutionäre Welle entfesselt, wenn sie gewonnen hätten? In diesem Fall, warum war ihre Niederlage ein „beispielloses Desaster“ für die Arbeiterklasse? Workers Vanguard kann diese Fragen nicht beantworten.

Workers Vanguards Behauptung, daß das Notstandskomitee für „Perestroika minus Glasnost“ stand, wiederholt die Argumente von Weinstein und Mandel. Sie alle sind sich einig, daß Jelzin und die Putschführer sich nur in der Frage von demokratischen Rechten unterschieden, wobei letztere den Kapitalismus mit einer „Diktatur der eisernen Faust“ einführen wollten. Nachdenkliche Robertson-Anhänger fragen sich vielleicht, ob die sowjetischen Arbeiter nicht mit anstatt ohne Glasnost in einer besseren Position gewesen wären, sich gegen die Restauration zu organisieren. Natürlich führt das sehr schnell zu einer Unterstützung des „demokratischen“ Jelzin-Lagers. Im Gegensatz zum VS führt Workers Vanguard dieses Argument jedoch nicht zur logischen Schlußfolgerung.

Dann gibt es noch eine zweite Argumentationskette von Ausreden für die Neutralität: Daß das Notstandskomitee tatsächlich die Elemente der Bürokratie repräsentierte, deren Interessen in grundsätzlichem Konflikt mit Jelzins Lager standen, doch daß ersteres zu halbherzig und unfähig war, Jelzin zu stoppen. Zunächst muß festgehalten werden, daß dieses Urteil mit dem unschätzbaren Vorteil der Rückschau gefällt wurde: Die Ereignisse entwickelten sich so schnell, daß der erste Artikel zum Putsch im WV einige Tage, nachdem sein Schicksal bereits entschieden war, erschien. Behaupten die Spartacists im voraus gewußt zu haben, daß der Putsch so kläglich scheitern würde? Es war lange klar, daß der sowjetische Stalinismus an seinem Endpunkt angekommen war und auf keinen Fall den Prä-Gorbatschow-status-quo wiederherstellen konnte. Aber diese allgemeine Einschätzung reichte nicht aus, um das genaue Kräfteverhältnis am 19. August beurteilen zu können. Dies konnte nur in der Aktion geprüft werden. Selbst wenn ein Sieg der Putschführer nur zeitweise die Wucht der kapitalistischen Restauration verlangsamt hätte, war dies allein Grund genug für einen militärischen Block. Trotzkisten machen ihre Position nicht von der Entschlossenheit, der taktischen Finesse oder Stärke der sich gegenüberstehenden Lager, sondern von der Einschätzung deren jeweiligen politischen Charakters abhängig. Entweder hatten die Putschisten ein Interesse, Jelzin zu stoppen oder nicht. Aber die Spartacists wollen beides: Sie behaupten gleichzeitig, daß das Notstandskomitee überhaupt nie beabsichtigte, Jelzin zu stoppen und sie werfen ihnen vor, die Aktion verpfuscht zu haben.

Die Kritik der Robertson-Anhänger am Notstandskomitee nimmt eine noch bizarrere Wendung, wenn sie die „Achterbande“ dafür verdammen, daß diese es nicht geschafft habe, die Arbeiterklasse gegen Jelzin zu mobilisieren:

„Die ‚Achterbande‘ hat nicht nur das Proletariat nicht mobilisiert, sie befahlen allen am Arbeitsplatz zu bleiben. Die ‚Achterbande‘ war mit ihrer erbärmlichen Entschuldigung für einen Putsch nicht in der Lage, Jelzin wegzufegen, da es sich um einen ‚Perestroika-Putsch‘ handelte; die Putschisten wollten nicht die Kräfte entfesseln, die die noch extremeren Konterrevolutionäre hätten schlagen können, da dies zu einem Bürgerkrieg hätte führen können, wenn Jelzin wirklich zurückgeschlagen hätte“
Workers Hammer Januar/ Februar 1992

Im gleichen Artikel wird voller Stolz an die Spartacist-Position zu Solidarnosc zehn Jahre früher erinnert:

„1981 stellte sich in Polen die gleiche Frage wie heute in der Sowjetunion, aber in der damaligen Situation unternahmen die Stalinisten etwas, um die Konterrevolution zeitweise zu unterdrücken. Angesichts dieser Konfrontation konnte es kein Herumgerede geben…“.

Im Falle der Sowjetunion verwandeln die Spartacists das Herumgerede in eine Hohe Kunst. Aber der Vergleich mit Polen 1981 trifft zu. Wir können uns nicht erinnern, daß Jaruzelski die polnische Arbeiterklasse gegen Walesa mobilisierte. Die Spartacists scheinen zu vergessen, daß Stalinisten an der Macht selten die Arbeiterklasse politisch mobilisieren, da die bloße Existenz der bürokratischen Kaste von ihrem politischen Machtmonopol abhängt. Militärische Unterstützung für Stalinisten, die gegen kapitalistische Restaurateure kämpfen, davon abhängig zu machen, ob erstere die Arbeiterklasse mobilisieren, bedeutet soviel wie zu verlangen, daß sie aufhören, Stalinisten zu sein.

An anderer Stelle in der gleichen Polemik impliziert Workers Hammer, daß sie jede Maßnahme, die die ‘Achterbande’ gegen Jelzin unternommen hätte, unterstützt hätte:

„Die Arbeiter aufzurufen, Jelzins Barrikaden wegzufegen, hätte einen militärischen Block mit all jenen Putschkräften bedeutet, die beabsichtigten, den konterrevolutionären Haufen zu zerschlagen … Gegen die Dritte-Lager-Haltung der RIL während der Augustereignisse schrieben wir. ‚In einem bewaffneten Kampf, in dem sich offene Restaurateure und widerspenstige Elemente der Bürokratie gegenüberstehen, würde — was auch immer die Absicht der Stalinisten wäre — die Verteidigung der kollektivisierten Wirtschaft auf der Tagesordnung stehen. Trotzkisten wären einen militärischen Block mit „dem thermidorianischen Teil der Bürokratie gegen den offenen Angriff der kapitalistischen Konterrevolution“ eingegangen, wie Trotzki im Übergangsprogramm von 1938 erklärte‘.“

Jaruzelskis Eingreifen 1981 schloß keinen bewaffneten Kampf ein, da Solidarnosc keine bewaffnete Gegenwehr bot. Das Kriegsrecht wurde durch eine Reihe von Polizeimaßnahmen verhängt. Die Spartacists scheinen hier anzudeuten, daß sie mit dem Notstandskomitee geblockt hätten, wenn dieses entschiedener auf die Durchsetzung des Kriegsrechtes hingewirkt hätte. Mit dieser Logik wird die militärische Unterstützung abhängig gemacht von der Entschlossenheit und Fähigkeit der stalinistischen Taktik und nicht von der sozialen Zusammensetzung der Stalinisten, den politischen Zielen oder den objektiven Folgen ihres Sieges oder Niederlage. Oder, genauer gesagt, die Spartacists beurteilen die politischen Ziele und die soziale Zusammensetzung der stalinistischen „Hardliner“ nach ihrem Verhalten während des Putsches.

Das Argument hat die Eigenschaft eines Zirkelschlusses: Das Notstandskomitee ergriff keine adäquaten Maßnahmen gegen Jelzin, da sie keine wesentlichen Differenzen mit ihm hatten. Woher wissen wir, daß sie keine wesentlichen Differenzen mit ihm hatten? Weil sie keine adäquaten Maßnahmen ergriffen. Mit anderen Worten, es spielt keine Rolle, daß die Mehrheit der Bürokratie ein objektives Interesse hatte, den Staat zu erhalten, durch den sie ihre Privilegien und ihr Prestige erhielten; es spielt auch keine Rolle, daß es vor dem Putschversuch einen innerparteilichen Kampf gab, in dem Gorbatschow zunehmend angegriffen wurde, weil er Jelzin und nationalisitischen Spaltern zu viel Spielraum gab; es ist, kurz gesagt, egal, daß der Putschversuch an sich ein Schlag gegen die Jelzin-Restaurateure war. Die Spartacists halten die Motive der Stalinisten für unklar und betrachten den Putsch als ein Ereignis ohne Kontext oder Hintergrund.

Wollten die Putschisten Jelzin schnappen?

Die Wirksamkeit der Taktik der Putschführer ist eine Frage von sekundärer Bedeutung. Aber hat das Notstandskomitee tatsächlich versucht, gegen Jelzin vorzugehen? In den Tagen nach der Niederlage des Putsches tauchten Berichte auf, wonach die Elite-Einheit des KGB, bekannt als die Alpha-Gruppe (die gleiche Einheit, die 1979 den afghanischen Präsidenten Hafizullah Amin umbrachte), den Befehl bekam, Jelzins Weißes Haus anzugreifen, den Gehorsam jedoch verweigerte. Diese Version der Ereignisse wurde zuerst von Jelzin selbst verbreitet und später von den Offizieren der Alpha-Gruppe bestätigt. Die Spartacists haben sich große Mühe gegeben, diese Berichte zu entkräften. Im Workers Vanguard vom 6. Dezember findet sich ein Artikel mit der Überschrift: „Warum sie Jelzin nicht schnappen wollten Sowjetunion: Einblicke in einen Putsch“. Um die von den beteiligten Offizieren vertretene Version der Ereignisse abzutun, zitiert WV aus dem von Robert Cullen geschriebenen Artikel im New Yorker vom 4. November 1991: „Die von der Alpha-Gruppe nach dem Putsch gegebenen Interviews haben tatsächlich nur eines gemeinsam: In jedem Fall versucht der interviewte Offizier, das Verdienst in Anspruch zu nehmen, der Held zu sein, durch dessen Befehlsverweigerung der Putsch gescheitert ist“. Workers Vanguards „Einblicke“ stützen sich hauptsächlich auf die vom Spiegel veröffentlichten Auszüge aus Verhören mit den Putsch-Verschwörern nach ihrer Verhaftung, in denen alle leugnen, Befehle zum Angriff auf Jelzins Weißes Haus gegeben zu haben. Es ist eigenartig, daß Workers Vanguard gegenüber den Behauptungen der Alpha-Gruppe-Offiziere so skeptisch ist, während sie den Leugnungen der Putsch-Verschwörer, deren Leben im Prozeß auf dem Spiel steht, Glauben schenken.

Darüberhinaus zitiert Workers Vanguard sehr selektiv aus Cullens New Yorker-Artikel. Cullen berichtet von mindestens einem Versuch der Alpha-Gruppe, mit Unterstützung von Fallschirmjäger-Einheiten gegen das Weiße Haus vorzurücken. Nach Cullens Bericht scheiterte der erste Versuch, als Jelzin-Anhänger die auffahrenden Schützenpanzer umringten und der Pro-Jelzin-Offizier, General Constantin Kobets, den Fallschirmjäger-Kommandeur traf und ihn überredete, nicht anzugreifen. Cullen berichtet, daß dieser Rückschlag das Notstandskomitee nicht abschreckte, einen zweiten Angriffsversuch zu organisieren.

„Die dem Weißen Haus zugespielten Informationen deuteten darauf hin, daß die Verschwörer verzweifelt versuchten, Einheiten zu finden, die in der Lage waren, das Gebäude einzunehmen und bereit waren, einem solchen Befehl Folge zu leisten… ‚Ich weiß, daß sich eine kleine Gruppe im Verteidigungsministerium traf bezüglich der Realisierung des Plans, das Gebäude zu nehmen‘, sagte mir Kobets“.

Der zweite Angriff fand niemals statt. Und Cullen fügt hinzu:

„Nach diesem letzten und entscheidenden Fehlschlag boten verschiedene Quellen unterschiedliche Erklärungen für die Unfähigkeit der Verschwörer … Doch alle Erklärungen — wie eigennützig und widersprüchlich auch immer — durchzog ein roter Faden: Die sowjetische Armee hatte sich geweigert, für die Verschwörung Blut zu vergießen“.

In Wahrheit wird also die Behauptung der Spartacists, daß das Notstandskomitee keine konkreten Maßnahmen gegen Jelzin ergreifen wollte, durch die einzig glaubwürdige Quelle, die sie zur Untermauerung zitieren, widerlegt.

Jelzins Sieg: Der Triumph der Konterrevolution

Es gibt noch immer Unklarheit über die Details der Ereignisse während des Putsches. Es wäre aber falsch, die Zaghaftigkeit und Inkompetenz der Verschwörer der Befehlsverweigerung ihrer Untergebenen gegenüberzustellen. Die beiden Erklärungen ergänzen einander, sie schließen sich nicht gegenseitig aus. Die Männer des Notstandskomitees waren keine Stalinisten vom Schlage der 30er Jahre. Ihr Wille zum Handeln war beeinträchtigt durch die Tatsache, daß sie demoralisiert genug waren zu akzeptieren, daß Lockerungen der zentralen Kontrolle und die Einräumung eines größeren Spielraumes für die Marktkräfte unvermeidlich seien. Sie unterschieden sich von Jelzin, indem sie auf Markt-„Reformen“ innerhalb des übergeordneten Rahmens der bürokratischen Herrschaft setzten. Zu dem Zeitpunkt, als sie sich entschlossen, zur Verteidigung des belagerten zentralen Staatsapparates zuzuschlagen, hatte dieser schon ein so fortgeschrittenes Stadium des Zerfalls erreicht, daß er nicht mehr auf die bedingungslose Treue der bewaffneten Kräfte setzen konnte. Diese Faktoren zusammengenommen führten zu dem August-Debakel. Die Spartacists betonen die offensichtliche Affinität zwischen dem Notstandskomitee und Jelzin, um die Tatsache zu verdecken, daß der Konflikt im Grunde ein Kampf um das Schicksal der sowjetischen Staatsmacht war.

Der stalinistische Apparat, der das Rückgrat der bürokratischen Herrschaft bildete, wurde mit der Niederlage des Putsches für immer zertrümmert. Die Spartadsts, die sich weigerten, für die Stalinisten Seite zu beziehen bei deren Versuch, in letzter Minute das „Schleusentor der Konterrevolution“ geschlossen zu halten, versuchen nun ihre mangelnde Urteilskraft zu rationalisieren, indem sie behaupten, daß die ehemalige Sowjetunion immer noch ein (sehr geschwächter und in höchster Gefahr befindlicher) Arbeiterstaat sei. Dies erinnert an die Beteuerungen des Inhabers der Zoohandlung in Monty Pythons Film gegenüber einem Kunden, dessen kürzlich erworbener Papagei lethargisch und leblos auf dem Boden des Käfigs liegt. Als der Kunde eine Rückerstattung verlangt, besteht der Inhaber darauf, daß der Papagei nicht tot sei, sondern sich nur ausruhe, ein Nickerchen mache, sich in einem Zustand vorübergehender Leblosigkeit befinde usw.

Die Robertson-Anhänger haben ihre Position, daß die ex-UdSSR ein Arbeiterstaat bleibe, bloß behauptet, ohne ernsthaft zu versuchen, für diese Position zu argumentieren. Auf öffentlichen Foren sowie auch persönlich präsentieren sie eine Reihe von, manchmal, widersprüchlichen Erklärungen.

Erst einmal verweisen sie auf die Tatsache, daß der Großteil der ehemals sowjetischen Wirtschaft immer noch nicht reprivatisiert wurde und formal in den Händen des Staates bleibe. Kapitalismus kann nicht über Regierungsdekrete wieder eingeführt werden. Die Restauration beinhaltet die Zerstörung der Strukturen, Organisationsformen und Lebensgewohnheiten, die während der letzten siebzig Jahre aufgebaut wurden. Im November 1937 bemerkte Trotzki dazu:

„Während der ersten Monate des Sowjetregimes herrschte das Proletariat über eine bürgerliche Ökonomie … Im Falle einer erfolgreichen bürgerlichen Konterrevolution in der UdSSR müßte sich die neue Regierung für eine längere Zeitspanne auf die nationalisierte Wirtschaft stützen“.

Der Sieg Jelzins, Krawtschuks u.a. war ein Triumph für die Kräfte der Konterrevolution, weil er bedeutete, daß die politische Macht fortan von denjenigen ausgeübt werden würde, die sich eindeutig der Restauration des Privateigentums über die Produktionsmittel verpflichtet hatten.

Mit diesen Argumenten konfrontiert, ziehen sich die Spartacists auf eine Rückfall-Position zurück. Jelzin, behaupten sie, führe eine pro-kapitalistische Regierung, aber er habe seinen Griff auf den Staatsapparat noch nicht konsolidiert. Auf einer Spartacist-Veranstaltung in New York im Februar wurde eine große Bedeutung der Januar-Versammlung von 5000 Armee-Offizieren im Kreml beigemessen, die gegen die Auflösung der alten sowjetischen Streitkräfte protestierten. Eine große Offensive der Arbeiterklasse, so argumentierte die Spartacist League, könne das Offizierskorps spalten, wobei ein beträchtlicher Teil sich auf die Seite der Arbeiter stellen könne. Eine solche Entwicklung, sagen die Spartacists, würde einer proletarischen politischen Revolution gleichkommen, wozu sie in ihrer Propaganda immer noch aufrufen.

Solche Argumente nutzen die unvermeidlichen Zweideutigkeiten der jetzt stattfindenden Transformation. Die Regime, die sich nach dem Zusammenbruch der UdSSR gebildet haben, regieren nicht über konsolidierte kapitalistische Staaten, genau so wenig wie Rußland, die Ukraine etc. voll ausgebildete kapitalistische Gesellschaften sind. Jelzins Machtstellung ist zerbrechlich, aber dies ändert nichts an der Tatsache, daß Jelzin und seine republikanischen Gegenstücke ihre neu gewonnene Macht dazu benutzen, eine soziale Konterrevolution durchzuführen. Der Imperialismus, Perestroika-Millionäre und die Schwarzmarkt-Mafia sind es, die jetzt im Kreml das Sagen haben. Viele ehemalige stalinistische Bürokraten eignen sich riesige Teile des Staatseigentums an. Jelzins Männer okkupieren die obersten Militärränge. Wie Workers Vanguard selbst berichtete, zögerte die Moskauer Polizei nicht, das Blut von Demonstranten zu vergießen, die im März die Wiederherstellung der Sowjetunion forderten. Vor einem Jahr gab Gosplan noch Planungsdirektiven aus und gemeinsame Streifen von Militär und Polizei waren auf den Straßen, jagten Schwarzmarktspekulanten und verhafteten und beschlagnahmten das Eigentum von Perestroika-Profiteuren. Jetzt existiert Gosplan nicht mehr und die Profiteure und Millionäre haben sich etabliert.

Die soziale Konterrevolution ist bei weitem nicht voll konsolidiert, aber sie ist siegreich. Ein aufständisches Proletariat, das um die Macht kämpft, würde heute in Rußland weit weniger Widerstand gewärtigen als in einem entwickelten kapitalistischen Staat. Aber eine proletarische Revolution müßte mit der Schwarzmarkt-Mafia aufräumen, die Jelzin-Anhänger in der Armee und Polizei unterdrücken, die Privatisierung rückgängig machen und die zentralisierte staatliche Planung wieder einführen. Mit jedem weiteren Monat verwandeln sich die Aufgaben, mit denen das Proletariat konfrontiert ist, mehr und mehr in die einer sozialen Revolution, im Gegensatz zu einer politischen.

Die Spartacists sagen, wir behaupteten nur deshalb, der sowjetische Arbeiterstaat sei tot, damit wir mit gutem Gewissen aus der Verantwortung herauskämen, ihn zu verteidigen. Dieses Argument ist schon auf den ersten Blick lächerlich. Die imperialistische Bourgeoisie agiert mit dem Wissen, daß der sowjetische Arbeiterstaat nicht mehr existiert. Auch Marxisten müssen diese bittere Wahrheit erkennen. Arbeiter, die in der ehemaligen UdSSR dafür kämpfen, die Flut der Konterrevolution abzuwehren, werden wissen wollen, wann die Staatsmacht in die Hände ihrer Ausbeuter fiel. Sie werden außerdem wissen wollen, wo die verschiedenen selbsternannten trotzkistischen Gruppen, die danach streben, sie zu führen, in diesem schicksalshaften Augenblick standen.

„Juri Andropow-Brigade“ — lange her und weit weg

Die Robertson-Anhänger haben sich immer mit ihren Kenntnissen in der russischen Frage und über die Politik der deformierten Arbeiterstaaten gebrüstet. Trotzdem lagen sie durchweg falsch bei der gesamten Endkrise des Stalinismus. Als Ende 1989 Massendemonstrationen in der DDR gegen das stalinistische Regime ausbrachen, proklamierten sie den Anfang einer „proletarischen politischen Revolution“. Sie dachten, daß die Wiedervereinigungsperspektive innerhalb der Arbeiterklasse ausreichenden Widerstand provozieren würde, um die SED zu spalten, und daß ein großer Teil derselben zum Proletariat übergehen würde, um das kollektivisierte Eigentum zu verteidigen. Die IKL warf große Geldsummen und jeden verfügbaren Kader in ihre Intervention. Als die SED im Januar den Vorschlag der Spartacists akzeptierte, eine antifaschistische Mobilisierung im Ostberliner Treptower Park zu organisieren, wurde der einzigartige Führer der Spartacists, James Robertson, so berauscht vom Größenwahn, daß er (erfolglos) versuchte, ein Treffen mit dem damaligen Vorsitzenden der SED, Gregor Gysi, zu arrangieren.

Aber die erwartete politische Revolution kam nie zustande. Anstatt gegen die Wiedervereinigung Widerstand zu leisten, gingen die Stalinisten eine Koalition mit pro-kapitalistischen Parteien ein, um die Liquidierung der DDR durchzuführen. Zum Zeitpunkt der Volkskammerwahlen im März war die Entscheidung für die Wiedervereinigung schon gefallen. Trotzdem klammerten sich die Spartacists halsstarrig an die Vorstellung, daß eine proletarische politische Revolution voranschritt, daß Arbeiter und Soldaten dabei waren, Räte zu bilden, die Fabriken zu übernehmen und eine Doppelmacht zu etablieren in Opposition zur schwachen pro-kapitalistischen Regierung. Die IKL-Führung erwartete, daß Hunderttausende von Arbeitern ihre Wahl-Kampagne unterstützen und sie an die Führung einer aufständischen pro-sozialistischen Arbeiterklasse katapultiert werden würde. Die Ergebnisse waren ein vollkommenes Fiasko für die Spartacists; ihre Kandidaten schnitten deutlich schlechter ab als die Deutsche Biertrinker-Union.

Das deutsche Desaster war wahrscheinlich die unmittelbare Ursache für die politische Wende, die zur Neutralität der Spartacists während des August-Putsches führte. Es war der Höhepunkt einer Periode, in der die Spartacists eine ungesunde Vorliebe für stalinistische Regimes zeigten. Trotzkisten haben immer für die Stalinisten Seite bezogen gegen imperialistische Angriffe und interne Konterrevolution, wohlwissend, daß die degenerierten und deformierten Arbeiterstaaten auf Dauer nur durch eine politische Revolution verteidigt werden konnten, die die stalinistischen Parasiten stürzt.

Während der Reagan-Jahre jedoch überschritten die Robertson-Anhänger allzu oft die Grenze zwischen militärischer Verteidigung und politischer Unterstützung. 1983 wurde ein Block in einer Anti-Klan Demonstration in Washington Juri Andropow-Brigade genannt, nach dem damaligen sowjetischen Partei-Chef, der 1956 eine führende Rolle bei der Niederschlagung der ungarischen Arbeiterrevolution gespielt hatte. Als Andropow starb, druckte Workers Vanguard als Nachruf ein elegisches Gedicht auf ihrer Titelseite. Ein Porträt des polnischen starken Mannes, General Jaruzelski, schmückte die Wände des New Yorker Hauptquartiers der Spartacists. Und statt einfach für den militärischen Sieg der sowjetischen Truppen in Afghanistan aufzurufen, bestanden die Spartacists darauf, die Kreml-Intervention hochleben zu lassen.

Mit dem schmählichen Zusammenbruch der bürokratischen Regime 1989 in ganz Osteuropa wurde dieser pro-stalinistische Tilt langsam zu einer Quelle akuter Schwierigkeiten. Monate vor dem Putsch schon steuerte Workers Vanguard einen Mittelweg an zwischen Jelzin und der konservativen Fraktion der Bürokratie (welche einfach „Patrioten“ genannt wurden):

„Die sowjetischen Werktätigen müssen die falsche Trennung zwischen „Demokraten“ und „Patrioten“ durchbrechen. Diese sind beides Produkte der endgültigen Degeneration der reaktionären und parasitären stalinistischen Bürokratie. Beide sind Feinde und Unterdrücker der Arbeiterklasse, im Interesse des Weltkapitalismus“
WV, 15.03.1991

Workers Vanguard erwähnte nie die Möglichkeit, daß diese „falsche Trennung“ zu einer Konfrontation führen könnte, in der es für die Arbeiter notwendig wäre, eine Seite zu beziehen. Und als diese Konfrontation im August dann stattfand, schwenkten die Spartacists von ihrer früheren Neigung, die stalinistischen Regime politisch zu unterstützen, um zum Verlassen der elementaren trotzkistischen Taktik eines militärischen Blocks mit den Stalinisten gegen die Kräfte der offenen Konterrevolution. Die schändliche Neutralität der Robertson-Anhänger im August, zusammen mit der gleichzeitigen Weigerung, die Tatsache anzuerkennen, daß es den sowjetischen Arbeiterstaat nicht mehr gibt, zeigt, wie hohl ihr Anspruch auf die revolutionäre Führung ist.

Für die Wiederschaffung der IV. Internationale!

Vor über fünfzig Jahren schrieb Trotzki, daß der Kampf für eine proletarische Führung letztendlich ein Kampf um das Überleben der Menschheit sei. Die Schaffung einer neuen revolutionären Führung der Arbeiterklasse ist vor allem von den bewußten Bemühungen der überzeugten sozialistischen Militanten abhängig. Es ist von größter Wichtigkeit, daß jeder ernsthafte Sozialist sich die 74-jährige Geschichte der russischen Revolution aneignet: ihr Sieg, die Degeneration und die letztendliche Zerstörung. Die Kräfte des revolutionären Marxismus repräsentieren heute nur eine winzige Minderheit. Doch durch das Zusammenwirken von revolutionärer Entschlossenheit und dem Willen, für programmatische Klarheit zu kämpfen, werden sich die Kader sammeln, um die Welt noch einmal zu erschüttern. Revolutionäre Umgruppierung fängt an mit der Entlarvung der Verwirrung, des Schwankens und des Verrats der verschiedenen Reformisten, Zentristen und Scharlatane, die sich fälschlicherweise den Mantel des Trotzkismus anlegen. Durch harte politische Kämpfe, durch einen Prozeß von Spaltungen und Fusionen wird die Vierte Internationale, die Weltpartei der sozialistischen Revolution, wiedergeschaffen werden!

1917, 15.09.1991

Der Sieg der Konterrevolution in der UdSSR

Verteidigt die sowjetischen Arbeiter gegen Jelzins Angriffe!

Der fehlgeschlagene Coup in Moskau vom 19.-21. August wurde so schlecht geplant und ausgeführt, daß er so gut wie gar nicht stattfand. Und dennoch wird er als eines der entscheidensten Ereignisse des 20. Jahrhunderts in Erinnerung bleiben. Der Sieg der offen prokapitalistischen Kräfte um Boris Jelzin nach dem Scheitern des Putsches zerstörte die aus der Oktoberrevolution 1917 hervorgegangene Staatsmacht. Dies ist nicht nur für die sowjetische, sondern für die gesamte Arbeiterklasse international eine katastrophale Niederlage.

Die August-Ereignisse waren der Höhepunkt der vorangegangenen Machtkämpfe im Kreml und im gesamten Land. Aber im allgemeineren Sinne waren sie der Schlußpunkt der Degeneration der stalinistischcn Bürokratie, einer privilegierten Schicht, die Mitte der zwanziger Jahre die politische Macht im sowjetischen Arbeiterstaat eroberte. An Stelle der demokratisch gewählten Arbeiterräte von 1917 errichteten die Stalinisten einen autoritären Polizeistaat. Sie ersetzten den proletarischen Internationalismus von Lenin und Trotzki durch die Doktrin vom „Sozialismus in einem Land“, was ihren Verrat an Revolutionen in anderen Ländern zur Erlangung kleiner diplomatischer Vorteile rechtfertigen sollte. Doch trotz ihrer Verbrechen ruhte die stalinistische Bürokratie auf der kollektivierten Wirtschaft der Oktoberrevolution, und häufig versuchte sie in ihrer entstellten Art, diese ökonomischen Grundlagen gegen den imperialistischen Druck von außen oder gegen die Konterrevolution im eigenen Land zu verteidigen. Das Scheitern des August-Putsches beendete die Herrschaft dieser bürokratischen Kaste und führte zu ihrer Ersetzung durch fragile nationalistische Regime, die das Ziel haben, die verstaatlichte Wirtschaft zu zerstören und die Herrschaft des Kapitals wiederherzustellen.

Vor mehr als 50 Jahren warnte der Führer der Linken Opposition, Leo Trotzki, davor, daß ein Gesellschaftssystem, das auf verstaatlichtem Eigentum basiert, auf lange Sicht durch bürokratische Polizeimethoden weder entwickelt noch verteidigt werden könne. Die Stagnation der sowjetischen Wirtschaft unter Breschnew war eine deutliche Bestätigung dieser Voraussage. Michail Gorbatschow versuchte den ökonomischen Niedergang der UdSSR abzuwenden, indem er seine gefeierten Marktwirtschaftsreformen durchführte. Das von der Perestroika verursachte wirtschaftliche und politische Chaos polarisierte die sowjetische Bürokratie, deren Fraktionierung während des letzten Jahres besonders deutlich wurde. Auf der einen Seite setzte ein Flügel der herrschenden Elite, der sich mit dem früheren Moskauer Parteichef Jelzin identifizierte, offen auf die kapitalistische Restauration. Auf der anderen Seite sah eine Allianz aus Militärs, Partei- und Staatsapparatschiks, die sogenannten Hardliner, die Entwicklung zur Marktwirtschaft und den nationalen Zerfall als Bedrohung ihrer Macht. Gorbatschow agierte als Mittelsmann zwischen diesen beiden Fraktionen und neigte abwechselnd zu den „Reformern“ oder den „Hardlinern”.

Gorbatschows Zick-Zacks

Im Oktober 1990 eröffneten die „Hardliner“ eine Offensive in der KPdSU. Sie zwangen Gorbatschow, Schatalins 500-Tage-Plan zur Privatisierung der Wirtschaft fallenzulassen. Sie schickten Einheiten der „Schwarzen Barette“ in die baltischen Republiken, um gegenüber den pro-kapitalistischen, nach Lostrennung strebenden Regierungen hart durchzugreifen. Sie organisierten eine Säuberung in den höchsten Chargen der Partei, wobei sie Gorbatschow zwangen, „Reformer“ von zentralen Partei- und Staatsposten zu entfernen und sie durch loyale Diener des Apparates zu ersetzen. Diese Veränderungen trieben viele führende Reformer — am bekanntesten Gorbatschows Außenminister Schewardnadse — ins Lager von Jelzin und riefen große Spekulationen in den westlichen Medien hervor, ob Gorbatschow Perestroika aufgegeben habe.

Doch angesichts großer pro-Jelzin Demonstrationen in Moskau zu Beginn dieses Frühjahrs und aus Furcht, daß die Imperialisten noch weniger Wirtschaftshilfe leisten könnten, machte Gorbatschow einen Rückzieher und versuchte erneut, sich den Jelzin-Kräften anzunähern. Er weigerte sich, die baltische Intervention zu ihrem logischen Abschluß zu bringen und die Regierungen abzusetzen. Wieder einmal begann er, die Marktwirtschaft vorwärts zu treiben. Am bedrohlichsten war für die „Hardliner“, daß er der „Neun-plus-eins“-Vereinbarung zustimmte, die den größten Teil der Regierungsgewalt an die 15 Teilrepubliken übertragen hätte. Gorbatschows Versöhnungsversuche bestärkten bloß Jelzin, der mit einer Reihe von Dekreten die KPdSU aus der Polizei und den Fabriken der Russischen Republik ausschloß. Die „Hardliner“ folgerten daraus, daß die von Gorbatschow eingenommene Zwischenstellung zunehmend an Boden verlor, und daß sie sich nicht mehr darauf verlassen konnten, daß er Jelzin gegenüber Widerstand leisten würde. Daraufhin wurde das Notstandskomitee gegründet, das den sowjetischen Präsidenten am Morgen des 19. August inhaftierte.

Die Arbeiterklasse hatte eine Seite

Angesichts des kläglichen Scheiterns des Putsches mag die Diskussion über die Positionen der rivalisierenden Fraktionen jetzt als nutzlose akademische Übung erscheinen. Doch nur wenn die Arbeiterklasse eine richtige Position zu vergangenen Ereignissen einnimmt, kann sie sich für zukünftige Kämpfe wappnen. Der Putschversuch im August war eine Konfrontation, in der die Arbeiterklasse eine Seite hatte. Ein Sieg der Putschisten hätte die UdSSR nicht aus der ökonomischen Sackgasse, in die der Stalinismus sie geführt hat, befreien können, noch hätte er die Gefahr der kapitalistischen Restauration beseitigt. Er hätte jedoch den Restaurationsprozeß zumindest zeitweilig verlangsamen können, und somit der sowjetischen Arbeiterklasse einen kostbaren Zeitgewinn gebracht. Der Zusammenbruch des Putsches hingegen führte unvermeidlich zur Konterrevolution, die jetzt in vollem Gang ist. Es war die Pflicht von revolutionären Marxisten, mit den Putschisten gegen Jelzin und Gorbatschow Seite zu beziehen, ohne auf die Entlarvung ihres politischen Bankrotts zu verzichten.

Es ist nicht überraschend, daß der größte Teil der reformistischen und zentristischen Linken für Gorbatschow und Jelzin eingetreten ist. Diese Pseudo-Marxisten haben solche Angst davor, die bürgerlich-liberale Meinung zu vergrätzen, daß man sich darauf verlassen kann, sie auf Seiten der „Demokratie“ zu finden — sogar wenn die demokratischen Slogans als Deckmantel der kapitalistischen Konterrevolution dienen. Rätselhafter sind da schon die Argumente der zentristischen Gruppen, die Jelzin als Restaurationisten erkennen, zugeben, daß sein Sieg eine schwere Niederlage für die Arbeiterklasse bedeutete und sich aber trotzdem weigern, eine Seite beim Putsch zu beziehen. Zu den Vertretern der „beide Seiten sind gleich schlecht’ — Position gehört auch die Spartacist League (USA) mit ihren Übersee-Satelliten in der Internationalen Kommunistischen Liga, die sich jahrelang als die standhaftesten Verteidiger der Sowjetunion gepriesen haben.

Die Befürworter der Neutralität behaupten, daß die Putschisten nicht weniger auf die kapitalistische Konterrevolution gesetzt haben als Gorbatschow und Jelzin. Einige verweisen auf Abschnitte aus der Haupterklärung des Notstand-Kommitees, in denen die Putschisten versprachen, existierende Verträge mit dem Imperialismus einzuhalten und das Recht auf privates Unternehmertum in der UdSSR zu respektieren. Trotzkisten haben ihre politische Haltung jedoch niemals von den offiziellen Verlautbarungen der Stalinisten, sondern vielmehr von der inneren Logik der Ereignisse abhängig gemacht. Jeder der behauptet, daß es keinen wesentlichen Unterschied zwischen den sich bekämpfenden Fraktionen gab, würde Schwierigkeiten haben zu erklären, warum die Putschisten sich überhaupt erst auf dieses gefährliche Spiel eingelassen haben. Wenn eine Fraktion der Bürokratie den Präsidenten verhaftet, führende kapitalistische Restaurateure zu unterdrücken versucht und Panzer auf die Straßen schickt; wenn führende Mitglieder dieser Fraktion Selbstmordübereinkünfte mit ihren Ehefrauen eingehen und sich nach ihrem Scheitern erhängen, ist es mehr als deutlich, daß es sich um mehr handelt als um kleine Streitereien über Taktik.

Die Ursachen für die Handlungen der Putschisten sind offensichtlich. Sie repräsentierten die stalinistische Fraktion, die bei der Rückkehr zum Kapitalismus das meiste zu verlieren hatte. Sie sahen die Aggressivität Jelzins, die wachsende Macht der pro-kapitalistischen Nationalisten und Gorbatschows Lähmung gegenüber den Kräften, die eine tödliche Gefahr für den zentralisierten Apparat darstellten, von dem ihre Privilegien und ihr Ansehen abhingen. Sie handelten, wenn auch halbherzig und in letzter Minute, um die Katastrophe aufzuhalten.

Es kann keinen Zweifel daran geben, daß die „Hardliner“ völlig demoralisiert waren: Sie hatten das Vertrauen in eine sozialistische Zukunft jeglicher Art verloren, hegten viele der gleichen pro-kapitalistischen Vorstellungen wie ihre Gegner und waren nur allzu bereit, sich auf den großrussischen Chauvinismus und sogar Antisemitismus einzulassen, um ihr politisches Monopol zu schützen. Aber die trotzkistische Position der bedingungslosen Verteidigung der Sowjetunion bedeutete immer die Verteidigung des verstaatlichten Eigentums gegen restaurative Bedrohungen unabhängig vom Bewußtsein oder den subjektiven Absichten der Bürokraten. Der Status quo, den die „Hardliner“ — wenn auch inkompetent — verteidigen wollten, beinhaltete das Staatseigentum an Produktionsmitteln — ein objektives Hindernis für die Rückkehr der kapitalistischen Lohnsklaverei. Der Zusammenbruch der zentralen Staatsgewalt bereitete den Weg für die reaktionäre Flut, die jetzt über das Gebiet der ehemaligen UdSSR hereinbricht Um das Vordringen dieser Katastrophe aufzuhalten, mußten Revolutionäre bereit sein, eine taktische militärische Allianz mit jeder Sektion der Bürokratie einzugehen, die sich dieser Welle, aus welchen Gründen auch immer, entgegenstellte.

Schlagt die Konterrevolution zurück!

Noch ist beileibe nicht alles für die Arbeiterklasse der Sowjetunion verloren. Die pro-kapitalistischen Regierungen, die sich in den Sattel geschwungen haben, sind noch sehr schwach und haben ihren eigenen staatlichen Repressionsapparat noch nicht konsolidiert. Der überwiegende Teil der Wirtschaft befindet sich noch in staatlichen Händen und die Jelzin-Fraktion ist mit der gewaltigen Aufgabe konfrontiert, den Kapitalismus ohne Unterstützung einer einheimischen Bourgeoisie wiederherzustellen. Der Widerstand der Arbeiter gegen die bevorstehenden Angriffe auf ihre Rechte und ihren Lebensstandard beinhaltet daher die Verteidigung eines großen Teils des sozial-ökonomischen Status quo. Die jetzt in der ex-UdSSR entstehenden, embryonalen bürgerlichen Regime können viel leichter weggefegt werden als entwickelte kapitalistische Staaten.

Das ändert jedoch nichts an der Tatsache, daß die Arbeiter nun gezwungen sind, in einer Situation zu kämpfen, die sich grundsätzlich zu ihrem Nachteil verändert hat. Sie haben sich noch nicht als eine unabhängige politische Kraft konstituiert und sind noch immer extrem desorientiert. Der stalinistische Apparat, der ein objektives Interesse an der Aufrechterhaltung des verstaatlichten Eigentums hatte, ist zerstört worden. Weiterer Widerstand seitens der Stalinisten ist unwahrscheinlich, da sie bereits in einem entscheidenden politischen Test versagt haben, und die Kader, die versuchten, sich zur Wehr zu setzen, sind nun zwangsweise in Pension, im Gefängnis oder tot. Mit einem Wort, das wichtigste organisatorische Hindernis zur Konsolidierung eines bürgerlichen Staates ist beseitigt worden. Vor dem Coup hätte massiver Arbeiterwiderstand gegen die Privatisierung zur Spaltung der Bürokratie und ihrer bewaffneten Verteidiger geführt. Heutige Arbeiterkämpfe mit dem Ziel den Restaurationsprozeß zu wenden, werden auf „Formationen bewaffneter Menschen“ stoßen, die den Zielen der westlichen Kapitalisten und ihren internen Verbündeten dienen. Diese entstehende Staatsmacht muß von den Arbeitern entwaffnet und zerstört werden.

Der Übergang von einem degenerierten Arbeiterstaat zu einem voll entwickelten bürgerlichen Staat ist nicht etwas, das sich innerhalb eines Monats oder eines Jahres vollziehen kann. Trotzkis Voraussage von 1937 war:

„Im Falle einer erfolgreichen bürgerlichen Konterrevolution in der UdSSR müßte sich die neue Regierung für eine längere Zeitspanne auf die nationalisierte Wirtschaft stützen. Was bedeutet dann aber ein derartiger zeitweiliger Gegensatz zwischen Staat und Wirtschaft? Er bedeutet Revolution oder Konterrevolution. Der Sieg einer Klasse über eine andere bedeutet doch, daß sie die Wirtschaft im Interesse des Siegers umgestalten wird“
— „Weder proletarischer noch bürgerlicher Staat?“.

Uns ist es ebenso klar wie Trotzki, daß eine solche Transformation nur das Ergebnis eines Prozesses sein kann, bei dem der Arbeiterstaat nach und nach unterminiert wird. Die Aufgabe der Analyse ist es, den entscheidenden Punkt in dieser Transformation festzustellen, d.h. den Punkt, nach dem die vorherrschende Entwicklung nicht mehr ohne die Zerstörung der Staatsmacht gewendet werden kann. Die Entwicklung zur kapitalistischen Restauration in der Sowjetunion hat sich in den letzten Jahren entfaltet. Alle verfügbaren Informationen führen zur Schlußfolgerung, daß die Niederlage des Putsches und die Machtübernahme durch Kräfte, die sich der Reorganisierung der Wirtschaft auf kapitalistischer Grundlage verschrieben haben, einen qualitativen Wendepunkt markierten.

Revolutionäre Arbeit kann nicht auf der Grundlage schöner Wünsche geleistet werden. Der Kampf für die sozialistische Zukunft erfordert die Fähigkeit, die Realität in ihrer gesamten Dimension zu erfassen und „den Massen die Wahrheit zu sagen, wie bitter sie auch sein mag“. Der Sieg der Jelzin-Fraktion ist eine große Niederlage für die Arbeiterklasse. Der Versuch den Kapitalismus in der Sowjetunion wieder einzuführen wird Angriffe auf die grundlegenden Interessen von Millionen von arbeitenden Menschen mit sich bringen. Doch durch die Abwehr solcher Angriffe können die sowjetischen Arbeiter ihre eigene heroische Tradition wiederentdecken. Die revolutionären Ideen des Bolschewismus, die allein der Notwendigkeit des historischen Fortschritts für die Menschheit entsprechen, können jedes Hindernis beseitigen. Aber diese Ideen können nur durch die Vermittlung einer Partei, wie sie 1917 die Revolution führte, zu einem geschichtlichen Faktor werden — einer Partei, die im unversöhnlichen revolutionären Geist von Lenin und Trotzki geschult ist. Der Kampf für eine solche Partei, die wiedergeschaffene IV. Internationale, bleibt die Hauptaufgabe unserer Zeit.

15.09.1991