Verteidigung des Leninismus
Anarchistische Organisation und Avantgardismus
Die Frage, welcher Typ revolutionärer Organisation, wenn überhaupt, notwendig ist, war für Anarchisten schon immer heikel. Der allerhärteste „organisatorische“ Trend unter Anarchisten ist der „Plattformismus“, benannt nach der Plattform von 1926, die von Nestor Machno, Peter Arschinow, Ida Mett und anderen vorangetrieben wurde, die mit Dielo Truda, der Zeitung russischer anarchistischer Emigranten in Paris, verbunden waren. Als die Autoren der Plattform die Lehren aus dem bolschewistischen Erfolg und dem anarchistischen Versagen in der russischen Revolution zogen, kamen sie zu dem Schluss, es sei notwendig, eine disziplinierte, programmatisch homogene anarchistische Organisation zu bilden. Sie verkündeten:
“Es wird Zeit, dass sich der Anarchismus aus dem Sumpf der Desorganisation zieht […] und sich für den Weg bewusster Zielsetzung und organisierter kollektiver Praxis entscheidet […] auf der Grundlage […] bestimmter ideologischer, taktischer und organisatorisch Positionen, […]”
— Arschinow 1926
In dem Artikel „Warum eine anarchistische Organisation nötig ist…, aber keine «Avantgarde-Partei»“ (Price 2006, Eig. Übers.) vom Januar 2006 sprach Wayne Price von der Northeastern Federation of Anarcho-Communists (NEFAC) den seit langem bestehenden Vorwurf anarchistischer Kritiker gegenüber dem Plattformismus an, dass er auf kaum mehr als heimlichen Leninismus hinauslaufe. Der Artikel von Price ist zum Teil eine Polemik gegen unsere Broschüre „Platformism & Bolshevism“ von 2002 (IBT 2002), auf die er sich als die „einzige längere Arbeit von Leninisten zu dem Thema“ bezieht.
Die Plattform von 1926 trat für die Schaffung einer „Allgemeinen Union der Anarchisten“ ein, aufgebaut auf vier organisatorischen Prinzipien. Zusätzlich zur traditionellen anarchistischen Vorliebe für „Föderalismus“ gegenüber Zentralismus favorisierten Machno u. a. „theoretische Einheit“, „taktische Einheit“ und „kollektive Verantwortung“. Theoretische Einheit bedeutet, dass die anarchistische Organisation auf einem „homogenen Programm“ basieren sollte. Dies stellte eine direkte Herausforderung der „synthetischen“ Auffassung dar, dass anarchistische Gruppierungen allumfassende Formationen sein sollten, die Ultraindividualisten, Syndikalisten und jede andere Art bekennender Anarchisten einschließen. „Taktische Einheit“ (auch bekannt als die „kollektive Aktionsmethode“) erfordert, dass Mitglieder ihre politischen Aktivitäten koordinieren und die demokratisch erreichten Entscheidungen der Gruppe umsetzen. Diese überschneidet sich etwas mit „kollektiver Verantwortung“, die festlegt, dass Mitglieder sowohl das Recht haben, sich an der kollektiven Entscheidungsfindung zu beteiligen, als auch die Pflicht haben, sich an die Ansicht der Mehrheit zu halten, wenn eine Entscheidung getroffen wurde. Das anarchistische Kollektiv, wie es sich die Autoren der Plattform von 1926 ausmalten, „verlangt, dass jedes Mitglied feste Organisationspflichten übernimmt, und es fordert die Durchführung gemeinschaftlicher Entscheidungen.“
Die Autoren der Plattform schlugen ein Exekutivkomitee als Teil der Arbeitsteilung in der geplanten „Allgemeinen Union der Anarchisten“ vor:
“Zur Koordinierung der Tätigkeit aller Organisationen, die der Union beitreten, wird ein spezielles Organ in Form eines Ausführenden Komitees der Union geschaffen, das folgende Aufgaben hat: die praktische Umsetzung der von der Union getroffenen Entscheidungen, wo ihm dies zum Auftrag gemacht wird; die ideelle und organisatorische Leitung der Tätigkeit der einzelnen Organisationen gemäß der gemeinsamen Ideologie und der gemeinsamen taktischen Linie der Union: die Beleuchtung des allgemeinen Zustands der Bewegung, die Unterhaltung operativer und organisatorischer Verbindungen zwischen allen Organisationen der Union; und anderes mehr.”
— Arschinow 1926
Zeitgenössische anarchistische Kritiker der Plattformisten erhoben den Vorwurf, dies sei gleichbedeutend mit Leninismus:
“Was ist mit dem Föderalismus geschehen? Sie sind nur einen Schritt entfernt vom Bolschewismus, ein Schritt, den die Autoren der Plattform nicht zu gehen wagen. Die Ähnlichkeit zwischen den Bolschewiki und den „Plattform-Anarchisten“ ist erschreckend für die russischen Genossen. Es macht keinen Unterschied, ob das oberste Organ der anarchistischen Partei Ausführendes Komitee heißt, oder ob wir es Konföderatives Sekretariat nennen.”
— Ervantian 2003 (Eig. Übers.)
Der ehrwürdige italienische Kämpfer Errico Malatesta, ein bekannter Verfechter des „proorganisatorischen“ Anarchismus, denunzierte die Idee der Plattformisten von kollektiver Verantwortung als „die absolute Negation jeder individuellen Unabhängigkeit und der Freiheit von Initiative und Aktion“ („Ein Projekt der anarchistischen Organisation“, Oktober 1927). Im Vorgriff auf diese Kritik hatte die Plattform notiert: „[Z]iemlich oft deformierte das föderalistische Prinzip in anarchistischen Reihen: Es wurde zu oft vor allem als Recht verstanden, sein «Ego» kundzutun ohne Verpflichtung, Aufgaben zu erfüllen, die die Organisation betreffen.“ Die Plattformisten lehnten jene, die die individuelle Autonomie auf die Spitze trieben, mit der Feststellung ab, dass eine ernsthafte revolutionäre Organisation nur auf der Grundlage funktionieren kann, dass die Mehrheit entscheidet:
“Fast immer und fast überall werden die praktischen Probleme unserer Bewegung durch Mehrheitsentscheidungen geklärt. Die Minderheit kann zur selben Zeit an ihren eigenen Ansichten festhalten, jedoch nicht die Entscheidung blockieren; generell und aus eigenem Antrieb, macht sie Zugeständnisse. Dies ist durchaus verständlich, da es keinen anderen Weg zur Problemlösung für Organisationen geben kann, die in praktischen Aktivitäten engagiert sind. Es gibt jedenfalls keine Alternative, wenn man wirklich handeln will.”
— Arshinov 1928 (Eig. Übers.)
In seinem Artikel räumt Price ein, dass die Mehrheitsentscheidung zwangsläufig ein Element der Zentralisierung verlangt:
“Allerdings verfügt eine anarchistische Föderation auch über ein gewisses Maß an „Zentralisierung“, d. h. spezielle Gremien und Einzelpersonen werden von der gesamten Mitgliedschaft besondere Aufgaben zugewiesen. Diese zentralen Gruppierungen sind gewählt und jederzeit abrufbar, mit einer Rotation der Aufgaben unter den Mitgliedern. Per Definition hält eine Föderation Zentralisierung und Dezentralisierung im Gleichgewicht, mit — unter Anarchisten — nur so viel Zentralisierung wie unbedingt nötig und so viel Dezentralisierung wie maximal möglich.”
— Price 2006 (Eig. Übers.)
Statt einfach auf „Föderalismus“ zu verzichten, haben Plattform-Anarchisten versucht, ihn neu zu definieren, um ein „Maß an Zentralisierung“ einzuschließen. Dies hat andere Anarchisten zu dem Vorwurf geleitet, Plattformismus sei nur ein Ende eines autoritären Kontinuums, das geradewegs zum Leninismus führt. Price versucht, plattformistische „Zentralisierung“ von der leninistischen mit der Begründung zu unterscheiden:
“„Zentralisierung“ ist nicht nur Koordinierung, Vereinheitlichung oder Zusammenarbeit. Zentralisierung („demokratisch“ oder nicht) bedeutet, dass alles von einem Zentrum geführt wird. Eine Minderheit ist verantwortlich.”
— Price 2006 (Eig. Übers.)
Die Frage, wer „verantwortlich“ ist, hängt letztlich davon ab, welche Mechanismen existieren, damit die Mitgliedschaft Entscheidungen aufheben oder eine neue Führung wählen kann. Es gibt keinen logischen Grund, warum eine Organisation nicht sowohl zentralistisch als auch demokratisch sein kann. Auch muss Zentralisierung nicht bedeuten, dass „alles vom Zentrum aus durchgeführt wird.“ Um effektiv zu sein, muss jede Organisation (ob anarchistisch, leninistisch, Unternehmen oder Militär) ein Gleichgewicht zwischen zentraler und lokaler Entscheidungsfindung herstellen, und den Akteuren vor Ort maximale taktische Flexibilität bei der Erfüllung ihrer Aufgaben einräumen. Es gibt auch keinen Grund, warum eine Debatte in einer leninistischen Organisation automatisch in der Beherrschung durch autoritäre Persönlichkeiten und die Verkümmerung der inneren Demokratie resultieren muss, während die internen Kämpfe der Plattformisten für „theoretische Einheit“ nur in einer egalitären, demokratischen Weise vorgehen können. Letztlich ist in jeder Organisation die einzige Garantie gegen Bürokratismus das politische Bewusstsein der Mitgliedschaft.
Price versucht, diese Probleme zu umgehen, indem er Zuflucht bei einer Karikatur sucht:
“Unter Leninisten ist die zentralistische Partei philosophisch gerechtfertigt. Die Partei weiß angeblich die Wahrheit, kennt „wissenschaftlichen Sozialismus“. Die Partei gilt als Verkörperung des proletarischen Bewusstseins. Proletarisches Bewusstsein ist nicht, was das Proletariat tatsächlich glaubt, sondern was es glauben sollte, was es glauben muss, was nur die Partei mit Sicherheit weiß.”
— Price 2006 (Eig. Übers.)
Der widerliche Personenkult von Stalin, Mao und Kim Il Sung schmückte spröde, autarke diktatorische Regime, die rücksichtslos jeden Widerspruch niederschlugen. Aber die bolschewistische Partei zu Lenins Zeit operierte völlig anders. Selbst unter den Bedingungen des Bürgerkrieges gab es heftige Debatten über ein breites Spektrum von Fragen der Wirtschafts- und Sozialpolitik und bisweilen war die zentrale Führung selbst tief gespalten (wie z. B. über die Bedingungen des vom deutschen Imperialismus aufgebürdeten räuberischen “Friedens”vertrages von Brest-Litowsk oder später über Gewerkschaftspolitik).
Die Oktoberrevolution war nur möglich, weil die bolschewistische Führung flexibel genug war, um lange aufrecht erhaltene Positionen im Lichte neuer Entwicklungen radikal zu revidieren. Im April 1917 gab die Partei ihre gesamte strategische Vorstellung von der „demokratischen Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft“ auf und verabschiedete ein Programm, das ursprünglich mit Trotzkis Theorie der permanenten Revolution verbunden war, die Lenin ein Dutzend Jahre lang verächtlich gemacht hatte. Die Partei ließ ihre langjährige Agrarpolitik zugunsten des Aufrufs der Sozialrevolutionäre zur Aufteilung des Großgrundbesitzes und der Verteilung auf einzelne Bauernfamilien fallen.
NEFAC’s „plattformistischer Anspruch“
Die ursprünglichen Plattformisten setzten hohe Priorität auf politische Homogenität:
“Ganze Schwaden von Personen, die sich als Anarchisten bezeichnen, haben nichts mit dem Anarchismus gemein. Eine Sammlung dieser Menschen (auf welcher Grundlage?) in „einer Familie“ und die Beschreibung dieser Ansammlung als „anarchistische Organisation“ wäre nicht nur Unsinn, es wäre geradezu schädlich. Wenn dies geschähe durch irgendwelche unglücklichen Umstände, gäbe es keine Perspektive für eine Entwicklung des Anarchismus zu einer revolutionären sozialen Bewegung der Werktätigen.
Es ist keine unterschiedslose Mischung, sondern vielmehr eine Auswahl gesunder anarchistischer Kräfte und ihre Organisation in einer anarchistisch-kommunistischen Partei, die für die Bewegung entscheidend ist; nicht die Synthese eines Sammelsuriums, sondern Differenzierung und Erforschung der anarchistischen Idee, um sie auf diese Weise zum Programm einer homogenen Bewegung zu machen. Das ist die einzige Möglichkeit für den Wiederaufbau und die Stärkung der Bewegung in den arbeitenden Massen.”
— GRAA 1927 (Eig. Übers.)
NEFAC behauptet in der plattformistischen Tradition zu stehen, lehnt aber die Idee einer „homogenen Bewegung“ ab:
“Damit es klar ist, wir glauben nicht, dass eine Organisation eine Bewegung an sich ist, und wir geben nicht vor [die] Gesamtheit der anarchistischen Bewegung zu vertreten. Während wir Vertrauen in unsere Ideen haben, glauben wir nicht, dass wir über DIE Wahrheit verfügen, und es ist wahrscheinlich, dass wir in dem einen oder anderen Punkt falsch liegen. Darum treten wir für revolutionären Pluralismus ein.”
— NEFAC 2002 (Eig. Übers.)
Die Autoren der Plattform von 1926, die behaupteten, Anarchismus „muss seine Kräfte in einer Organisation sammeln“, weil „Verteilung und Streuung ruinös sind“, erkannten, dass „revolutionärer Pluralismus“ ein Rezept für Ineffizienz und doppelte Arbeit ist. Ohne bedeutende politische Differenzen hat eine einzige größere Gruppe mit einer besseren Arbeitsteilung erhebliche Vorteile gegenüber mehreren kleineren. Die Existenz verschiedener Organisationen mit nahezu identischer Politik, von denen jede den Wunsch äußert, Massen zu organisieren, während sie an ihrer separaten Existenz als kleiner Zirkel festhält, wäre kaum geeignet, das Vertrauen unter radikalisierten Arbeitern anzufachen.
Nicolas Phebus, eines der Gründungsmitglieder der NEFAC, beschrieb freimütig andere Aspekte, in denen seine Gruppe hinter dem vorgeschlagenen Modell von Machno, Arschinow u. a. zurückbleibt:
“Trotz unserer „plattformistischen“ Ansprüche sind wir in vielerlei Hinsicht viel mehr ein Netzwerk als [sic] eine Föderation oder eine Organisation wie es Love & Rage war, mit „Ortsgruppen“ und so weiter. Unsere Grasswurzelknoten (d. h. Kollektive) sind wirklich autonom und in ständigem Kontakt mit allen anderen Knoten, ohne dass sie durch einen zentralen Filter gehen müssen.”
— Phebus 2005 (Eig. Übers.)
Phebus zufolge war NEFAC:
“[…] nicht imstande, zentrale Positionen zu schaffen, die von der gesamten Mitgliedschaft gewählt und kontrolliert werden. Es gibt keine gewählte zentrale Struktur in NEFAC; alle Aufgaben, sogar politische Aufgaben wie die Erstellung der Publikationen, werden mit einem vagen Auftrag an verschiedene Kollektive vergeben.”
— Phebus 2005 (Eig. Übers.)
Das Fehlen einer „zentralen Struktur“ (d. h, eines Führungsgremiums) schuf vorhersagbare Schwierigkeiten:
Wir haben regelmäßig Probleme kollektiver Verantwortung auf allen Ebenen. Da niemand zuständig ist für die Koordinierung der gesamten Föderation, haben wir immer noch Probleme Mandate zu befolgen (auch wenn wir immer besser werden, als zu der Zeit unserer ersten Formierung). Auch scheinen wir gemeinsam eine Abneigung gegen Budgetierung zu haben. Natürlich haben wir eine Kasse, und wir alle sollen eigentlich regelmäßige Beiträge zahlen, aber die allgemeine Funktionsweise der Organisation hängt vom guten Willen und der Selbstdisziplin unserer Mitglieder ab. Während guter Wille fast immer vorhanden ist, mangelt es manchmal an Selbstdisziplin.
— Phebus 2005 (Eig. Übers.)
Führung, Avantgarden & Revolutionäre Minderheiten
1926 erklärten die Autoren der Plattform als Erwiderung auf die anarchistische Kämpferin Maria Isidine, es sei ihre „Pflicht, alles in unserer Macht Stehende zu tun, um dafür zu sorgen, dass der ideologische Einfluss des Anarchismus auf dem Marsch zur Revolution maximiert wird“ („Supplement to the Organizational Platform [Questions and Answers]“, November 1926). Gleichzeitig warnten sie, dass die „treibende theoretische Kraft“, die von anarchistischen Ideen ausgeht, „nicht mit der politischen Führung der staatlichen Parteien verwechselt werden sollte, die schließlich zur Staatsmacht führt.“ Price erklärt diesen Unterschied folgendermaßen:
“Mit programmatischer und taktischer Einheit würden sich Mitglieder [einer plattformistischen Gruppe] an breiteren, heterogeneren Verbänden wie Gewerkschaften, Gemeinschaftsorganisationen, Antikriegsgruppen, und — wenn sie in einer revolutionären Periode erscheinen — an Arbeiterräten beteiligen. Solche anarchistischen Organisationen wären keine „Parteien“, weil sie nicht darauf aus wären, Macht für sich selbst zu erlangen. Sie würden versuchen, durch Ideen und mit gutem Beispiel voranzugehen, nicht durch die Übernahme und Beherrschung populärer Organisationen, ganz zu schweigen von der Ergreifung der Staatsmacht.”
— Price 2006 (Eig. Übers.)
Den meisten Anarchisten war der Wunsch der Plattformisten schon immer suspekt, für „Führung durch Ideen“ zu sorgen. 1927 bemerkten einige synthetische Kritiker:
“Wir erklären, dass die Aneinanderreihung des Wortes „führen“ mit dem Adverb „ideologisch“ die Position der Plattformautoren nicht signifikant verändert, weil sie die Organisation als eine disziplinierte Partei begreifen.”
— Ervantian 2003 (Eig. Übers.)
Es ist kein Geheimnis, dass revolutionäre Ideen derzeit in den meisten industrialisierten Ländern keine Massenpopularität genießen, und NEFAC Mitglieder sind sich der politischen Rückständigkeit der nordamerikanischen Arbeiterklasse wohl bewusst. Dies zu ändern, verlangt die Anstrengungen jener, die die Notwendigkeit eines revolutionären sozialen Wandels schon verstehen, wie Price erklärt:
“Allgemein werden Menschen, auf lange Sicht, unterschiedlich radikalisiert. In konservativen Zeiten, werden Leute vereinzelt zu Revolutionären. Wenn die Verhältnisse sich radikalisieren, werden sie es als Gruppen oder in Scharen. Schließlich in Zeiten des Umbruchs erheben sich ganze Bevölkerungen. Aber viele oder die meisten gerade radikalisierten Menschen haben ihre Ziele oder Strategien nicht durchdacht. Sie neigen dazu, voller Energie, aber verwirrt und unsicher zu sein, bis sie ihre Ideen aus eigener Erfahrung ordnen können. In diesen Perioden ist es für Reformisten ein Leichtes, sie irrezuführen zurück in alte Bahnen, oder für autoritäre Gruppen, um neue Herrscher aufzubauen […] .
Wenn Gruppen und Schichten Werktätiger und andere radikalisiert werden, haben sie die Chance, sich zu organisieren, um ihre Ideen unter dem Rest der (noch nicht radikalisierten) Bevölkerung effektiv zu verbreiten. Dies widerspricht nicht der Selbstorganisation der gesamten unterdrückten Bevölkerung. Es ist ein integraler Bestandteil dieser Selbstorganisation.”
— Price 2006 (Eig. Übers.)
Price stellt das Problem in folgenden Begriffen dar:
“Das Problem liegt hier im Verhältnis der Minderheit, die zu revolutionären Schlussfolgerungen gekommen ist, und der Mehrheit, die meistens nicht revolutionär ist — außer in revolutionären Perioden. (Dass die Mehrheit revolutionär geworden ist, macht eine Periode per definitionem zu einer revolutionären!) Spontaneistische und antiorganisatorische Anarchisten sehen darin kein Problem; sie leugnen, dass es existiert. Für sie bedeutet, schon von einer revolutionären Minderheit zu sprechen, autoritär zu sein. Sie leben in einer Welt der Negation (es müsste „in einer Welt der Verleugnung“ heißen). Es ist nur möglich, Gefahren des Autoritarismus zu begegnen, wenn wir zugeben, dass er aus der Spaltung in eine revolutionäre Minderheit und die Mehrheit heraus entstehen kann.”
— Price 2006 (Eig. Übers.)
Ob es einem gefällt oder nicht, jeder Versuch, einen Kern engagierter Aktivisten zu organisieren, die in der Lage sind, den Massen der Werktätigen Führung ( „ideologisch“ oder auf andere Weise) zu bieten, läuft auf „Avantgardismus“ hinaus. Dies anzuerkennen war schon immer schwierig für Plattformisten. Price versucht es mit einem Trick, indem er behauptet, dass jene, die eine „Führung der Ideen“ bieten, überhaupt keine wirklichen Führer seien. Er versucht dann, sein Argument mit einer groben Karikatur zu bekräftigen:
“Ich möchte nicht über Definitionen von Wörtern herumreden, wenn es die Begriffe sind, auf die es ankommt […]. Aber „Avantgarde“ bedeutet nicht nur eine Gruppe, die ihre eigenen Ideen hat, die revolutionäre Minderheit. Es steht für jene, die glauben, sie hätten all die Antworten und daher das Recht über andere zu herrschen. Dies ist es, was Anarchisten zurückweisen.”
— Price 2006 (Eig. Übers.)
Leninisten erheben nicht den Anspruch darauf, „all die Antworten“ zu haben, noch darauf, ein „Recht zu haben, über andere zu herrschen.“ Was wir behaupten, ist, dass nur die Ideen des Marxismus das Proletariat politisch bewaffnen können, um erfolgreich den Klassenkampf zu führen. Leninisten streben danach, für eine „Führung durch Ideen“ zu sorgen, dass also das marxistische Programm von den fortschrittlichen Schichten der Arbeiterklasse und der Unterdrückten angenommen wird. Der erfolgreiche politische Kampf der Bolschewiki, um die Unterstützung einer Delegiertenmehrheit für Arbeiter-und Soldatenräte im Jahr 1917 zu gewinnen, zeigt, wie dies erreicht werden kann. Leninisten verteidigen auch das Recht einer revolutionären Mehrheit, ihren Willen Streikbrechern, Reaktionären und anderen rückständigen Elementen aufzuzwingen.
Ein Großteil der praktischen Aktivitäten zeitgenössischer Plattformisten scheint die Teilnahme an Anti-Rassismus-, Anti-Kriegs-oder Anti-Armutskoalitionen auszumachen, in denen sie versuchen, „Selbstaktivität“ und „nicht-autoritäre“ Praktiken zu fördern. Die Politik dieser Formationen scheint bei NEFAC keine Bedenken auszulösen, selbst wenn sie die Förderung von extremem Reformismus beinhaltet (vgl. unseren Brief an das NEFAC Montreal Kollektiv). Für Nicolas Phebus ist wichtig:
“Wir sehen uns nicht als „Siedler“ in sozialen Bewegungen, sondern eher als Teil aller Aktivisten auf der Suche nach den besten Strategien, damit unsere Bewegungen gewinnen. So gehen wir an unsere Arbeit als politische Organisation heran und sagen darum, dass wir keine Führungspositionen für uns beanspruchen, sondern vielmehr eine „Führerschaft der Ideen“, was im Wesentlichen bedeutet, dass wir demokratisch innerhalb dieser Bewegungen kämpfen, um Einfluss für anarchistische Ideen zu gewinnen.”
— Phebus 2005 (Eig. Übers.)
Jeff Shantz, auch von NEFAC, bringt das gleiche Argument:
“Es ist eindeutig ein Fehler, Bewegungen entweder als Rekrutierungsfelder zu behandeln (wie es formellere Organisationen oft tun) oder als soziale Vereine (wie es typischer ist für informelle Gruppen) . Für uns liegt der Schlüssel darin, grundsätzlich involviert zu sein, was die Priorität eher auf den Aufbau proletarischer Stärke in unseren Gemeinden, Nachbarschaften und Arbeitsplätzen legt als auf den Aufbau unserer eigenen Organisation.”
— Shantz 2005, S. 112 (Eig. Übers.)
NEFAC verfolgt einen ähnlichen Ansatz in den Gewerkschaften:
“Anders als linke Gruppen, die ihre Energie darauf konzentrieren, oppositionelle Listen für Gewerkschaftswahlen aufzustellen oder oppositionelle Fraktionen zu bilden, arbeiten NEFACs Gewerkschafter für die Entwicklung der Mitgliederorganisation und [Militanz.] Wir vertreten die Position, ohne Rücksicht auf die Gewerkschaftsführung, dass die wahre Macht der organisierten Arbeit solange nicht verwirklicht wird, bis wir eine kämpferische und mobilisierte Mitgliederbewegung in Ortsgruppen und an Arbeitsplätzen, aufbauen.”
— Conway 2005, S. 109 (Eig. Übers.)
Die Macht der Arbeit kann nur in dem Maß verwirklicht werden, wie sich das revolutionäre politische Bewusstsein der fortschrittlichen Schichten der Arbeiterklasse entwickelt — was nicht als Nebenprodukt des Aktivismus einfacher Mitglieder am Arbeitsplatz auftritt. Ob man Kandidaten in dieser oder jener Gewerkschaft zur Wahl aufstellt oder nicht, ist eine sekundäre, taktische Frage, die abhängig von der konkreten Situation, den politischen Kampf gegen den schädlichen Einfluss der Arbeiterleutnants des Kapitals voranbringt oder nicht. Es reicht nicht, gegen die Bosse zu kämpfen oder gegen einen faulen Vertrag zu opponieren, der von Gewerkschaftsfunktionären gefördert wurde — es kommt darauf an, Arbeitern dabei zu helfen, Sachverhalte zu verstehen, die weit über ihre unmittelbaren Probleme am Arbeitsplatz hinausgehen. Dies bedeutet die Förderung einer kohärenten revolutionären politischen Alternative zum „gesunden Menschenverstand“ des Arbeiterreformismus und dafür zu kämpfen, dass diese Ideen in den Arbeiterorganisationen „Wurzeln schlagen“.
Price weist die Behauptung Leo Trotzkis im Übergangsprogramm zurück, dass in der endgültigen Analyse, die Krise der Menschheit auf eine Krise der proletarischen Führung zurückgeführt werden kann:
“Der Nachteil dieser Auffassung von Führung ist, dass sie sich dazu eignet, die Führung als die allerwichtigste Sache zu sehen. Die Aufgabe besteht also darin, die schlechten Führer durch gute Führer zu ersetzen, die schlechten Parteien mit der guten Partei: die Partei mit den richtigen Ideen. Statt sich darauf zu konzentrieren, die Menschen aufzurütteln, ihre Unabhängigkeit und Selbständigkeit zu ermutigen, heißt dies implizit, alles, was gebraucht werde, sei, die richtige Führung an die Macht zu bringen. Im schlimmsten Fall wird die Partei zum Ersatz für die Arbeiterklasse.”
— Price 2006 (Eig. Übers.)
Dies stellt den Kampf für eine revolutionäre „Führung“ sehr einseitig dar. Gewerkschaftliche Karrieristen kämpfen um persönliche Macht und materielle Privilegien im Rahmen des Kapitalismus, aber der revolutionäre „Kampf um die Führung“ hängt davon ab, dass Massen gewöhnlicher Werktätiger die Fähigkeit entwickeln, ihre eigenen objektiven Klasseninteressen zu erkennen und auf dieser Basis, Freund (streichen: und) (einfügen: „von“) Feind zu unterscheiden.
Die russische Revolution: Ein Gespenst sucht den Anarchismus heim
Das politische Erwachen der proletarischen Massen ist durch ihre zunehmende Erfahrenheit in der Bewertung der Äußerungen von Reformisten und links schwadronierender Zentristen, Quacksalber und Sonderlinge gekennzeichnet, die in Zeiten verschärfter sozialer Kämpfe auftauchen. Genau dies geschah zwischen Februar und Oktober 1917 in Russland, als die Arbeiterklasse sich stetig nach links bewegte und Zehntausende der besonders revolutionär gesonnenen und engagierten Kämpfer, darunter viele ehemalige Anhänger rivalisierender linker Formationen, sich den Bolschewiki anschlossen.
Die Oktoberrevolution war die erste — und bisher einzige — erfolgreiche Machtübernahme durch die Arbeiterklasse. Im Gegensatz zu den deformierten Arbeiterstaaten, die infolge der sowjetischen militärischen Besetzung (Osteuropa, Nord-Korea) oder durch aufständische bäuerliche Guerillaarmeen (China, Vietnam, Jugoslawien und Kuba) entstanden, wurde der russische Arbeiterstaat von einem hoch politisierten und erfahrenen städtischen Proletariat geschaffen, geführt von einer revolutionären Partei, die der sozialistischen Umgestaltung der Gesellschaft verpflichtet war.
Die Plattformisten von 1926 erkannten, dass wesentliche Elemente der traditionellen anarchistischen Lehre im Verlauf der sozialen Revolution in Russland auf die Probe gestellt und entscheidend widerlegt worden waren:
“Am deutlichsten und ausdrucksvollsten kam die Notwendigkeit einer allgemeinen Organisation in den Jahren der Russischen Revolution von 1917 zum Ausdruck. Während dieser Revolution zeigte sich die anarchistische Bewegung eben äußerst zersplittert und verworren. Das allgemeine Organisationsdefizit trieb viele anarchistische Aktivisten zu den Bolschewiken […]”
— Arschinow 1926, Einführung
Anarchistische Kämpfer gingen zu den Bolschewiki über, nicht nur wegen ihrer überlegenen Organisation, sondern auch, weil es ihnen damit ernst war, den repressiven Apparat des kapitalistischen Staates zu zerstören und seine Rolle in der Organisation der Produktion und der Zivilverwaltung durch direkt gewählte Arbeiterräte ( oder Sowjets) zu ersetzen. Genosse Price weist die Idee zurück:
“[…], dass die russische Revolution die Notwendigkeit einer zentralisierten, von oben nach unten aufgebauten, Avantgarde-Partei bolschewistischen Typs beweist. Ohne eine Partei dieser Art, so heißt es, hätte es keine sozialistische Revolution gegeben. Deshalb müssten wir diese Art von Partei heute aufbauen.”
— Price 2006 [Eig. Übers.]
Doch anders als die meisten Anarchisten bestreitet Price weder die führende Rolle, die die Bolschewiki in der Revolution spielten, noch die Realität der tiefgreifenden sozialen Transformation, die unter ihrer Führung stattfand. Er argumentiert stattdessen: „Die bolschewistische Partei machte die russische Revolution, als die Partei am meisten einer anarchistischen Föderation entsprach!“ und zitiert die Bemerkung des späten Murray Bookchin:
“Die bolschewistische Partei […] war während der meisten Jahre im Vorfeld der Revolution eine illegale Organisation. Die Partei wurde immer wieder zerschmettert und wiederaufgebaut, mit dem Ergebnis, dass sie bis zur Machtübernahme nie wirklich zu einer völlig zentralisierten, bürokratischen, hierarchischen Maschine aushärtete [es muss „verhärtete“ statt „aushärtete“ heißen). Darüber hinaus ging sie von Fraktionen durchgerüttelt […] in den Bürgerkrieg.”
— Price 2006 [Eig. Übers.]
Die bolschewistische Partei unter Führung Lenins und Trotzkis war „durchsetzt von Fraktionen“, gerade weil sich eine gesunde demokratisch-zentralistische Organisation mit einer komplexen und sich rasch wandelnden gesellschaftlichen und politischen Lage nur durch lebhafte interne Diskussionen und Debatten auseinandersetzen kann. In seinem Meisterwerk Verratene Revolution von 1936 stellte Trotzki fest:
“Die heutige Lehre, Bolschewismus toleriere keine Fraktionen, stellt einen Mythos aus der Verfallsepoche dar. In Wirklichkeit ist die Geschichte des Bolschewismus eine Geschichte von Fraktionskämpfen. Wie könnte eine echte revolutionäre Organisation, die sich zum Ziel setzt, die Welt aus den Angeln zu heben, und um ihr Banner verwegene Verneiner, Aufrührer und Kämpfer schart, auch leben und sich entwickeln ohne Ringen der Ideen, ohne Gruppierungen und zeitweilige Fraktionsbildungen.”
— Trockij 1971, S. 93
Die Transformation von einer revolutionären Organisation, in der die Führungsspitzen sich in scharfen politischen Debatten engagieren — sogar in den kritischsten Perioden — zu „einer vollständig zentralisierten, bürokratischen, hierarchischen Maschine“ mit einem unfehlbaren Führer und einer eingeschüchterten und politisch-atomisierten Mitgliedschaft verkörperte eine qualitative Degeneration.
Price beruft sich auch auf Alexander Rabinowitch’s Prelude to Revolution, dass:
“[…] die fast „monolithische Einheit“ und „eiserne Disziplin“ der bolschewistischen Partei im Jahre 1917 weitgehend ein Mythos war […] ([Rabinowitch] 1991, S. VIII-IX [Eig. Übers.]). Das Zentralkomitee der Partei konnte die vielen regionalen und lokalen Organisationen nicht lenken, und versuchte es normalerweise nicht […]. Im Zentralkomitee gab es viele Kämpfer mit starkem Willen, die für ihre Ansicht kämpften, wobei sie manchmal die Parteidisziplin ignorierten. Inzwischen hatte sich die Partei für Zehntausende neuer proletarischer Mitglieder geöffnet, die das Ganze erheblich durcheinander rüttelten. Als Lenin nach Russland zurückkehrte, verließ er sich auf diese neue Mitgliederbasis, um sich über die konservative Politik der alten Bolschewiki hinwegzusetzen. Rabinowitch zog den Schluss, dass diese „dezentralisierten und undisziplinierten“ ([Rabinowitch] 1991, S. IX) Spaltungen einige Schwierigkeiten verursachten, aber insgesamt waren sie äußerst nützlich. „[…] die organisatorische Flexibilität der Bolschewiki, ihre relative Offenheit und Empfänglichkeit […] wurden zu einer wichtigen Quelle der Stärke der Partei und ihrer Fähigkeit die Macht zu übernehmen.“([Rabinowitch] 1991, S. XI)”
— Price 2006 [Eig. Übers.]
Der Zustrom frisch radikalisierter Arbeiter, deren Anhängerschaft letztlich die Hegemonie der Bolschewiki in der russischen Arbeiterklasse ausmachte, führte intern zweifellos zu Lockerungen. Aber die bolschewistische Partei wurde zum natürlichen Ziel für radikalisierte Arbeiter vor allem wegen ihrer mutigen und anfangs äußerst unpopulären Ablehnung der russischen Intervention im Ersten Weltkrieg und ihrer eindeutigen Ablehnung der sich links gebärdenden bürgerlich-liberalen provisorischen Regierung. Lenins Vertrauen in „Zehntausende neuer Arbeitermitglieder“ zur Überwindung des konservativen Widerstands innerhalb der bolschewistischen alten Garde ist ein Modell dafür, wie eine revolutionäre Organisation Fehler korrigieren kann und abrupte Änderungen der Strategie mittels des Mechanismus des demokratischen internen politischen Kampfes vollzieht.
Der Zusammenbruch der Kommunikation zwischen dem Zentrum und lokalen bolschewistischen Organisatoren war keine Kraftquelle, weil er dazu tendierte, die Fähigkeit der Partei zu vermindern, ihre Kräfte zu bündeln und dadurch ihren Einfluss zu maximieren. Aber vor dem gleichen Problem standen auch alle ihre Konkurrenten. Selbst in den turbulentesten Perioden behielt die Führung der Partei das politische Vertrauen ihrer Mitglieder, und war daher in der Lage, die politische Kontrolle auszuüben. Dies war besonders wichtig während der Juli-Tage, als eine vorzeitige Auseinandersetzung mit der Kerenski-Regierung zu einer blutigen Niederlage hätte führen können.
Das wichtigste Beispiel für „Kämpfer mit starkem Willen“ im Zentralkomitee, die sich entschieden, „die Parteidisziplin zu ignorieren“, ereignete sich, als Grigori Sinowjew und Lew Kamenew, nachdem es ihnen nicht gelungen war, eine Mehrheit der bolschewistischen Führung zu überzeugen, dass es unklug sei, den Sturz Kerenskis weiter zu betreiben, die Disziplin brachen und erfolglos versuchten, das gesamte Projekt durch Ausplaudern der Pläne an die Presse zu Fall bringen. Lenin wollte die beiden „Streikbrecher“ für ihren Verrat ausschließen, aber kein anderes Mitglied des Zentralkomitees unterstützte seinen Vorschlag. Isaac Deutscher bemerkte:
“Es ist völlig unmöglich, diese und viele andere Episoden ähnlicher Art mit der Ansicht zu vereinen, daß in der bolschewistischen Partei seit Anbeginn eine monolithische oder totalitäre Einheitlichkeit bestanden hat.”
— Deutscher 1972, S. 521
Während Price versucht, Lenins Partei zur Zeit der Oktoberrevolution als quasi anarchistisch darzustellen, behandelt er die soziale Ordnung, die sie etablierte, als „staatskapitalistischen“ totalitären Albtraum. Die Erfordernisse des Kampfes gegen einen Bürgerkrieg (und ausländische Intervention) in einem Land, das bereits durch dreijährigen imperialistischen Krieg ausgelaugt war, verlangte von den Bolschewiki auf der Grundlage militärischer Zweckmäßigkeit, d. h. nicht im Einklang mit den Normen der sozialistischen Demokratie zu regieren. Als der Bürgerkrieg sich hinzog, sank der Lebensstandard und die Unterstützung durch die Bevölkerung für das bolschewistische Regime schrumpfte, während seine proletarische Klassenbasis dezimiert wurde. Dies stellte ein Dilemma für die junge revolutionäre Regierung dar, wie wir feststellten:
“[…] wir kritisieren die Bolschewiken nicht dafür, den Sieg über die Weißen im Bürgerkrieg verfolgt zu haben, trotz der Tatsache, dass sie in großen Teilen des Landes nicht länger die Unterstützung der Bevölkerung beanspruchen konnten oder gar der Arbeiterklasse.
[…]
Die Wahrheit ist immer konkret und die notwendige Taktik für Revolutionäre muss in jedem Stadium des Kampfes mit den real existierenden Möglichkeiten im Einklang stehen. In Russland 1920 gab es nur zwei Optionen, den Sieg der Roten oder den der Weißen. Neuwahlen zu den Sowjets hätten Mehrheiten für jene Parteien geschaffen, die sofort Schritte unternommen hätten, um den Kapitalismus wiedereinzuführen. Wie Serge, und viele andere Anarchisten, erkannten, war die Aufrechterhaltung der Herrschaft der Kommunistischen Partei die einzige Alternative zur Wiederherstellung der russischen Bourgeoisie.”
— IBT 2002
Price räumt ein, freie Wahlen hätten durchaus „die Entstehung eines Protofaschismus erlauben“ können, kommt aber zur diametral entgegengesetzten Schlussfolgerung:
“Allerdings hat dieser Ansatz nicht zum Sozialismus geführt, sondern zum Stalinismus, die Konterrevolution durch die Partei. Stalinismus war als Totalitarismus fast genauso brutal wie der Nationalsozialismus. Der IBT-Broschüre zufolge war die bolschewistische Partei 1924 nicht mehr revolutionär, nicht so lang nach der Revolution von 1917. Daher schließe ich, es wäre für die Bolschewiken besser gewesen, sie hätten sich an die revolutionäre Demokratie der ursprünglichen Sowjets gehalten, auch wenn sie von der Macht abgewählt worden wären. Nichts hätte schlimmer sein können, als das, was passiert ist.”
— Price 2006 [Eig. Übers.]
Price mag den Ausgang des Kampfes zwischen den Roten und Weißen gleichgültig betrachten, aber die meisten russischen Menschewiki, Anarchisten und andere linke Gegner des Regimes verstanden, dass es für sie buchstäblich eine Frage von Leben und Tod war, weshalb sie, trotz ihrer Bedenken, am Ende die Bolschewiki unterstützten.
Die Vorstellung, dass Russland sich zu einer sozialistischen (d. h. klassenlosen) Gesellschaft entwickeln könnte, wurde als unabhängige und unerfüllbare Phantasie von der gesamten bolschewistischen Führung in Lenins Zeit abgetan. Ihre gesamte Strategie basierte darauf, Russland als eine Probebühne für die proletarische Revolution im Ausland, vor allem in Westeuropa, zu sehen. Die Aussetzung der Sowjetdemokratie durch die Bolschewiki, die durch die stalinistische politische Konterrevolution systematisiert und vertieft wurde, wurde ursprünglich als eine außergewöhnliche, auf kurzfristigen Zeitgewinn ausgerichtete Maßnahme gesehen. So würde man sich daran erinnert haben, wenn es erfolgreiche revolutionäre Durchbrüche im Westen gegeben hätte.
Der Triumph der stalinistischen Oligarchie war überhaupt nicht vorherbestimmt. Der Sieg der Bürokratie ergab sich letzten Endes aus der Niederlage der revolutionären Welle nach dem Krieg in Europa, und im Besonderen aus der Unfähigkeit der unreifen Führung der Kommunistischen Partei Deutschlands die Chance zu nutzen, die 1923 durch die Krise geboten wurde. Eine frühere und entschiedenere Intervention der Kommunistischen Internationale hätte sehr wohl den Ausschlag geben können und hätte dadurch den gesamten Verlauf der Geschichte geändert.
Heutige Anarchisten haben eine Tendenz, die repressiven Maßnahmen des bolschewistischen Regimes Anfang der 20er Jahre unter Lenin und Trotzki mit Stalins blutigen Säuberungen Mitte der 30er Jahre zu verschmelzen. Es gibt jedoch einen qualitativen Unterschied zwischen ihnen, wie Victor Serge, ein ehemaliger Anarchist, der persönlich die Transformation bezeugte, anschaulich beschrieb:
“In Russland schufen der Bürgerkrieg und die Umzingelung eine Atmosphäre tödlicher Gefahr, in der Maßnahmen für die öffentliche Sicherheit diktiert wurden, manchmal schreckliche, aber nicht weniger schrecklich für die Partei an der Macht (an der Macht nur wegen der Abtrünnigkeit bestimmter Dissidenten) als für ihre Gegner in den Reihen der Revolution. Wenn die Diktatur des Proletariats den Menschewiki und den Anarchisten das Recht verwehrte, die Verteidigung einer Gemeinschaft, sogar mit den besten Absichten, zu sabotieren, die jeden Augenblick vom schlimmsten Schicksal bedroht war, zeigte sie sich nicht weniger streng gegenüber den Unzulänglichkeiten der Mitglieder der Kommunistischen Partei. Sie sprach ihren Dissidenten niemals das Recht auf Kritik ab, sie dachte niemals daran, ihnen das Existenzrecht zu verweigern. Es kann darüber hinaus behauptet werden, dass die bolschewistische Partei nicht triumphiert hätte, wenn sie zu Beginn erklärt hätte, dass sie ein totalitäres Regime errichten wolle, das jede Meinungsfreiheit der Arbeiter ausschließe — die Massen ziehen nicht in die Schlacht, um ins Gefängnis zu wandern; wir wissen, dass sie im Gegenteil die breiteste Arbeiterdemokratie ankündigte. Am Tag nach der Entwaffnung der anarchistischen Schwarzen Garden in Moskau (1918) erschien die anarchistisch-syndikalistische Tageszeitung weiterhin; der anarchistisch-syndikalistische Verlag der Stimme der Arbeit (Golos Truda) verschwand erst 1925 oder 1926; zur gleichen Zeit, d. h. nach dem Sieg der bürokratischen Reaktion verschwand auch das Organ der Linken Sozialrevolutionäre Das Banner der Arbeit (Znamia Truda ).Die anarchistischen Zeitungen Pochin ( Der Anfang ) und Der Maximalist hörten etwas eher auf. Die menschewistische Partei hatte 1919 in Moskau eine Tageszeitung, Wperjod (Vorwärts). Ihre Fraktionen hielten sich in den Sowjets bis 1923. Erst musste das Jahr 1927 erreicht werden, als die Bürokratie ihren Sieg in der Partei durch den Ausschluss der Trotzkisten vollendete, bevor man Tomski und Bucharin hören konnte, die mit einer Stimme proklamierten: „Unter der Diktatur des Proletariats, mögen zwei, drei oder vier Parteien existieren, aber unter der einzigen Bedingung, dass eine von ihnen an der Macht ist und die anderen im Gefängnis“.
[…] [Leninisten] können nicht auf die strenge Disziplin des Handelns verzichten, ohne die kein Sieg möglich ist, oder auf die Vorteile kollektiven Nachdenkens, genauso wenig wie sie aufgeben können, innerhalb der arbeitenden Klasse den Willen der Mehrheit durchzusetzen und an bestimmten Wendepunkten, den Willen der Vorhut gegenüber dem der Nachhut, die zugleich ängstlich, unfähig und korrumpiert ist und von der Bourgeoisie manövriert wird. Sie wissen auch, dass der Sozialismus nicht leben und wachsen kann, ohne lebendiges Denken, das heißt, ohne Meinungsfreiheit, Unterschiede, Kritik von den Massen, aktive öffentliche Meinung, Gegensätze von Ideen […]. In diesen Punkten hat der Stalinismus der Welt der Arbeiterklasse immensen Schaden zugefügt, den allein das Proletariat des Westens beseitigen kann. In Theorie und Praxis, hat der Gefängnisstaat nichts gemein mit den Maßnahmen der öffentlichen Sicherheit des Kommunestaates in der Zeit der Kämpfe: Er ist das Werk der triumphierenden Bürokraten, die gezwungen sind, um ihre Usurpation durchzusetzen, mit den grundlegenden Prinzipien des Sozialismus zu brechen und den Arbeitern jegliche Freiheit zu verwehren.”
— Serge 1937, S. 91-93 (Eig. Übers.)
1917 oder 1936: Wahl zwischen Sieg und Niederlage
Viele junge Kämpfer, die sehen, dass der kapitalistische Staat als Instrument der Unterdrückung und Ungleichheit operiert, hegen Sympathie für anarchistische Vorschläge der Abschaffung aller „Autorität“ und staatlicher Macht. Aber, wie viele russische Anarchisten im Jahr 1917 entdeckten, sind diese Begriffe in Situationen nutzlos, in denen die Frage der sozialen Revolution tatsächlich gestellt wird. Die Lektion wurde weniger als zwei Jahrzehnte später in Spanien wieder bestätigt durch die politische Kapitulation der anarcho-syndikalistischen Confederación Nacional del Trabajo (CNT) und der Federación Anarquista Ibérica (FAI) im Juli 1936, nachdem sich die Arbeiterklasse erfolgreich gegen einen rechtsgerichteten militärischen Staatsstreich unter Führung von General Francisco Franco erhoben hatte. Anstatt zu versuchen, den Kampf durch Enteignung der Kapitalisten und die Schaffung von Organen der direkten Macht der Arbeiterklasse voranzutreiben, wie es die Bolschewisten getan hatten, unterstützte die CNT/FAI-Führung, stolz auf sich selbst, für ihre Ablehnung sich in „Politik“ einzumischen, politisch die „demokratische“ bürgerliche Regierung.
Diego Abad de Santillán, ein prominenter FAI-Führer, schilderte, wie unmittelbar nach dem Aufstand der Arbeiter in Katalonien, Präsident Luís Companys den anarchistischen Führer sagte:
“Ihr seid jetzt die Herren der Stadt und Kataloniens, denn ihr allein habt die faschistischen Soldaten besiegt… Ihr habt gesiegt, und alles steht in eurer Macht. Wenn ihr mich als Präsidenten nicht braucht oder nicht wollt, sagt es jetzt, und ich werde nur noch wie jeder andere ein Soldat im antifaschistischen Kampf sein. Glaubt ihr aber, daß ich auch auf diesem Posten, den ich nur als Leiche einem Siegreichen geräumt hätte, mit meinen Parteikameraden, meinem Namen und meinem Prestige in diesem Kampf von Nutzen sein kann, so könnt ihr mit mir… rechnen…”
— Abad de Santillán 1940, S. 155
Santillán, der später den Posten des Wirtschaftsministers bekam, erklärte die Kapitulation der CNT/FAI-Führung als logische Folge ihrer „unpolitischen“ und „antiautoritären“ Ideologie:
“Wir hätten allein bleiben, unseren absoluten Willen allen aufzwingen, die Regionalregierung für erloschen erklären und an ihre Stelle die wirkliche Macht des Volkes setzen können; aber wir hatten nicht an die Diktatur geglaubt, als sie gegen uns ausgeübt wurde, und wir wollten sie nicht, als wir nun die Möglichkeit hatten, sie auf Kosten anderer auszuüben. Die Regionalregierung mit dem Präsidenten Companys an der Spitze sollte auf ihrem Posten bleiben, […].”
— Abad de Santillán 1940, S. 156
Die links-anarchistischen „Freunde Durrutis“, die die Kapitulation der CNT/FAI-Führung anprangerten, behaupteten unverblümt, dass „Revolutionen totalitär sind“, und folgerten, dass es nicht genug sei, den Staat der Kapitalisten zu zerstören — es sei auch notwendig, ihn mit einer revolutionären „Junta“ aus Arbeitervertretern zu ersetzen. Wie wir in unserer Broschüre kommentierten, gipfelte dies in der Befürwortung „der «Diktatur des Proletariats» in allem außer in der Benennung.“ Genosse Price entschied sich dafür, dies nicht zu kommentieren.
Die Vorstellung von Karl Marx, dass im Kommunismus die „freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“ (MEW 1972, S. 482) verlangt organisierten, disziplinierten, revolutionären Kampf, um die bürgerliche Maschinerie sozialer Kontrolle zu brechen und sie durch neue proletarische Institutionen zu ersetzen. Die Oktoberrevolution in Russland, geführt von den Bolschewiken mit aktiver Unterstützung von Anarchisten, linken Sozialrevolutionären und einer Vielzahl anderer Linker, ist das einzige historische Beispiel für einen erfolgreichen Sturz der kapitalistischen Herrschaft durch die Arbeiterklasse. Nur jene Revolutionäre, die diese Erfahrung annehmen und sich ihre Lehren aneignen, werden fähig sein, künftig neue Siege zu erringen.
Quellen
Für die Übersetzung der Quellen wurden möglichst deutschsprachige Veröffentlichungen herangezogen. In allen anderen Fällen handelt es sich um eigene Übersetzungen.
Abad de Santillán 1940
Abad de Santillán, Diego. Zitiert in: Broué & Témime 1968
Arschinow 1926
Arschinow, Peter A. ; Linsky ; Machno, Nestor. ; Mett, Ida ; Walewski, I. G.: Organisationsplattform der Allgemeinen Anarchistischen Union (Entwurf) : Gruppe russischer Anarchisten im Ausland ; 1926. 2007.
URL http://www.nestormakhno.info/german/platform/org_plat.htm
Arshinov 1928
Arshinov, Peter: Elements Old and New in Anarchism: A Reply to Maria Isidine [Alte und neue Elemente im Anarchismus: Eine Entgegnung auf Maria Isidine (Eig. Übers.]. — November-Dezember 1928.
URL http://nefac.net/node/589
Broué & Témime 1968
Broué, Pierre ; Témime, Émile: Revolution und Krieg in Spanien. Frankfurt am Main : Suhrkamp, 1968. 719 S.
Conway 2005
A Roundtable on Anti-Capitalism and Organization / ed. by Aidan Conway. In: Conway, A. (Hrsg.) Upping the Anti (2005), Nr. 1, S. 92-113
Deutscher 1972
Deutscher, Isaac: Trotzki. Der bewaffnete Prophet : 1879 – 1921. Stuttgart [u.a.] : Kohlhammer, 1972. 554 S.
Ervantian 2003
Ervantian ; Fleshin ; Lia ; Roman ; Schwartz ; Sobol ; Steiner ; Voline: Reply To The Platform (Sythesist).
URL http://nefac.net/node/572
GRAA 1927
Group of Russian Anarchists Abroad: Reply to Anarchism’s Confusionists [Gruppe russischer Anarchisten im Ausland: Erwiderung auf Konfusionisten des Anarchismus (Eig. Übers.]. — August 1927
IBT 2002
Platformism and Bolshevism / International Bolshevik Tendency (IBT). 2002.
[Siehe die deutsche Übersetzung Plattformismus und Bolschewismus in dieser Ausgabe].
URL https://bolsheviktendency.org/?p=1658
MEW 1972
Manifest der Kommunistischen Partei. In: Karl Marx/Friedrich Engels – Werke. (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 4, 6. Auflage 1972, unv. Nachdr. der 1. Aufl. 1959, Berlin/DDR. S. 459-493
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Northeastern Federation of Anarchist Communists (NEFAC): The Question Of The Revolutionary Anarchist Organization: A NEFAC Position Paper (adopted September 15, 2002). nefac.net.
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Phebus, Nicolas: We Learn As We Walk: Looking Back on Five Years of NEFAC. North Eastern Federation of Anarchist Communists, 2005.
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Price, Wayne: Why an Anarchist Organization is Needed … But Not a “Vanguard Party”. Northeastern Federation of Anarchist-Communists (2006-01-24).
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Trockij, Lev D.: Verratene Revolution : Was ist die Sowjetunion und wohin treibt sie? 1936 / Leo Trotzki. Berlin : Verl. Die Vierte Internationale, 1971. 303 S.