Kritische Wahlunterstützung als revolutionäre Taktik

Die meisten vorgeblich revolutionären Organisationen, die bei der letzten Bundestagswahl noch die Trommel für SPD und PDS gerührt haben, sind nach vier Jahren Regierung Schröder leiser geworden. Die angeblich trotzkistische Gruppe Arbeitermacht erklärte beispielsweise seit Anfang des Jahres, Klassenkämpfe seien wichtiger als 1000 Wählerstimmen, um weiterhin – zunächst unter der Ladentheke – Wahlaufrufe für SPD und PDS zu verkaufen. Einen Monat vor den Wahlen legt sie nun ihre Ware offen auf den Tisch: “Stoppt Stoiber! Organisiert den Abwehrkampf! SPD oder PDS wählen!”

Solche Wahlaufrufe für SPD oder PDS, für welche die leninistische Position der kritischen Wahlunterstützung fälschlicherweise als Rechtfertigung herhalten muss, sind für uns Anlass genug, die leninistische Position zur Taktik der Wahlunterstützung noch mal zu erläutern.

Marxisten wissen, nur die Arbeiterklasse kann den Kapitalismus stürzen und sich selbst befreiend die ganze Menschheit befreien. Begründung: Die Arbeiterklasse ist die einzige Klasse, die durch alle Reihen ein objektives Interesse am Sturz des Kapitalismus hat. Sie ist weiterhin die einzige Klasse, die es in der Hand hat, durch ihre strategische Stellung bei der Produktion der materiellen Lebensgrundlagen die soziale und ökonomische Grundlage der Gesellschaft sozialistisch umzustürzen. Die Kämpfe der Arbeiterklasse sind augenblicklich aber nicht darauf ausgerichtet, den Kapitalismus zu stürzen. Die Perspektive all dieser Kämpfe ist systemimmanent.

Reformismus

Eine von uns Kommunisten beeinflussbare Ursache dafür ist die Tatsache, dass die bankrotte reformistische Bürokratie in Gewerkschaften und Sozialdemokratie die Arbeiterklasse führt. Seit knapp 100 Jahren bestreiten die reformistischen Führer ihre Existenz dadurch, sich in der Form der Vermittlung zwischen Kapital und Arbeit als Agenten des Kapitals in der Arbeiterbewegung zu betätigen. In Wirklichkeit vermitteln sie daher den Arbeitern (wie bei den Tarifkämpfen dieses Frühjahr) nichts als faule Kompromisse. Dabei müssen die Arbeiter für verhältnismäßig kleine ausgehandelte Zugeständnisse auf das verzichten, was sie bei der Entfaltung ihrer möglichen Kampfkraft erreichen würden. Entsprechend ist Reformismus sogar Verrat am konsequenten Kampf für Reformen. Abhängig von der Entwicklung der Klassenkämpfe und der Ökonomie reicht das Erscheinungsbild des Reformismus vom Reformismus mit Reformzugeständnissen über den Reformismus ohne Reformen bis zum Reformismus der Konterreformen  immer bleibt der Reformismus aber systematische bürgerliche Politik in der organisierten Arbeiterklasse.

Allerdings ist die reformistisch vermittelte Unterdrückung der Arbeiter kein permanenter Frontalangriff. Um ihre Verankerung unter den Arbeitern zu sichern, können sich die Bürokraten besonders in Phasen steigender Klassenkämpfe gezwungen sehen, vorzugeben, für bestimmte Forderungen der Arbeiter einzutreten. Doch als Übertragungsmechanismus der bürgerlichen Herrschaft in die organisierte Arbeiterbewegung müssen sie schließlich gegen die objektiven Interessen ihrer Arbeiterbasis verstoßen und die in sie gesetzten klassenkämpferischen Illusionen enttäuschen.

Diesen Widerspruch müssen Kommunisten gezielt ausnutzen. Denn der Job einer kommunistischen Partei, genauer ihr strategisches Ziel, muss es sein, das Proletariat von dieser bürgerlichen Führung zu brechen und für eine revolutionäre Führung zu gewinnen, die es für den Sturz des gesamten kapitalistischen Systems organisiert.

Einheitsfronttaktiken

Dafür bedient sie sich diverser Taktiken, welche die Eigenschaft haben, an den aktuellen Kämpfen und Forderungen der Arbeiterklasse anzuknüpfen, und sie dann gegen die bürokratische Führung der Arbeiterklasse zu kehren. Sie können die Einheit im Kampf auch um nicht-revolutionäre Forderungen suchen, ohne die Revolution zu verraten, weil eben selbst solche Forderungen nicht von Reformisten sondern nur von Revolutionären konsequent erkämpft werden können. Diese Taktik der Arbeitereinheitsfront zeigt praktisch in Kämpfen statt nur in Büchern und Pamphleten den verräterischen Charakter der reformistischen Bürokratie auf.

Anfang der 30er Jahre hätte das z.B. in Deutschland geheißen, die Taktik der Einheitsfront im antifaschistischen Kampf anzuwenden. Die kommunistische Partei genoss zwar nicht das Vertrauen der Mehrheit der deutschen Arbeiterklasse, aber es war auch den nichtkommunistischen Arbeitern durchaus bewusst, dass der Aufstieg der Faschisten die existentiellen Interessen der gesamten Arbeiterbewegung bedrohen würde. Wenn die kommunistische Partei nun an die Führung der Sozialdemokratie appelliert hätte, die Faschisten mit gemeinsamen Kräften militärisch zu stoppen, wäre dieser Appell auf das Einverständnis der sozialdemokratischen Arbeiter gestoßen, die durch die Erfahrungen im täglichen Klassenkampf die Nützlichkeit solch einer Einheitsfront sofort verstanden hätten. Wenn dann die sozialdemokratische Führung aus Sorge um den Kapitalismus den gemeinsamen Kampf mit der kommunistischen Partei abgelehnt hätte, hätte das den Einfluss der kommunistischen Partei unter den Arbeitern entscheidend gestärkt. Wäre die sozialdemokratische Führung (zögerlich) auf die Einheitsfront eingegangen, hätte die Kommunistische Partei auch gewonnen. Sie hätte dann ihre Überlegenheit über die sozialdemokratische Führung beweisen können, weil diese versucht hätte den antifaschistischen Kampf auf Schritt und Tritt zu behindern und nie bereit gewesen wäre, die Arbeiterklasse zu bewaffnen, die Finanziers Hitlers zu enteignen und so letztendlich zu siegen.

Kommunistische Wahltaktiken gegenüber anderen Parteien entsprechen genau derselben Logik – sie sind eine besondere Anwendung der Einheitsfronttaktik. In aller Regel kandidieren Kommunisten – wenn es ihre Kräfte zulassen – selbst zu Parlamentswahlen, um das Parlament als Tribüne für ihre antikapitalistische und antiparlamentaristische Propaganda zu nützen. Es kann aber auch sinnvoll sein, einer nicht-revolutionären Partei kritische Wahlunterstützung zu geben, um sie “zu stützen, wie ein Strick den Gehängten”, wie es Lenin ausgedrückt hat.

Organisatorische Unabhängigkeit

Notwendige Voraussetzung dafür ist, dass die Kandidatur der unterstützten Partei ein Ausdruck der von der Bourgeoisie unabhängigen Organisation der Arbeiterklasse ist. Wir unterscheiden deshalb rein bürgerliche Parteien von bürgerlichen Arbeiterparteien. Rein bürgerliche Parteien mögen wie die Demokratische Partei in den USA Arbeiter unter ihren Mitgliedern und Wählern haben und sogar die Unterstützung der Gewerkschaften erhalten, aber sie sind keine unabhängigen Gebilde der Arbeiterbewegung. In Deutschland sind die Grünen ein Beispiel einer pseudo-fortschrittlichen bürgerlichen Partei. Demgegenüber sind bürgerliche Arbeiterparteien durch die Arbeiterbewegung geschaffen worden, wobei sie vom Kapital organisatorisch unabhängig sind. Dem Programm und der Führung nach sind sie aber bürgerlich und deshalb politisch nicht unabhängig von Bourgeoisie. In Deutschland sind SPD und PDS solche reformistischen Parteien.

Die Notwendigkeit einer Arbeiterpartei zur Durchsetzung der eigenen Interessen ist die grundlegendste Einsicht des politischen Klassenbewusstseins, die Initialzündung des politischen Klassenkampfes. Bei fehlender organisatorischer Trennung der Arbeiterklasse von der Bourgeoisie geben Kommunisten unter geeigneten Klassenkampfbedingungen als taktische Losung aus: Für eine Arbeiterpartei! Nie geben sie jedoch einer rein bürgerlichen Partei ihre Wahlunterstützung.

Keine Stimme den Volksfrontparteien

Dennoch reicht die organisatorische Unabhängigkeit als Bedingung längst noch nicht aus für eine revolutionär erfolgreiche Anwendung der kritischen Wahlunterstützung. Die spanische Revolution ist wohl eines der tragischsten Beispiele für eine Revolution, die daran zu Grunde ging, dass das Proletariat keine vom Kapital politisch unabhängige Führung besaß. Die spanische Volksfront ordnete die Interessen des spanischen Proletariats einem imaginären antifaschistischen Flügel der Bourgeoisie unter. Während die übergroße Mehrheit der Bourgeoisie zwar feststellen durfte, wie viel Mühe sich die spanischen Stalinisten damit machten, das Privateigentum vor dem wütenden Proletariat zu schützen, gab sie letztendlich ihren Zuschlag aber doch Franco, da sie sich von den Faschisten mehr Stabilität versprach. In solchen Situationen sagen Trotzkisten: Keine (Wahl-) Unterstützung für Volksfrontparteien! Brecht mit den bürgerlichen Ministern! Eine Wahlunterstützung kann es nur unter dieser Bedingung geben, denn die Einheit der Arbeiterklasse ist nur möglich unter Bruch der nationalen Einheit mit dem Kapital. Das entsprach genau der täglichen Erfahrung der spanischen Arbeiterklasse: Die Bürgerlichen in der Volksfront hemmen uns nur im Kampf gegen Franco und sie nützen uns nichts. Verweigern sich die bürgerlichen Arbeiterparteien in der Volksfront der kommunistischen Forderung nach einem Bruch mit den bürgerlichen Parteien, demonstrieren sie ihre sklavische Anhänglichkeit ans Kapital und können im Ansehen der kämpfenden Arbeiter nur verlieren – gehen sie dagegen tatsächlich darauf ein, und schicken die übrig gebliebenen bürgerlichen Pappkameraden in der Volksfront zum Teufel, fehlt den Reformisten ein Vorwand für ihre anhaltende Unterordnung unter die Bourgeoisie.

Solange die Arbeiterbasis der reformistischen Parteien dagegen die Volksfront akzeptiert, akzeptiert sie auch die Volksfrontlogik der Rücksichtnahme auf den bürgerlichen Bündnispartner. Damit ist der Widerspruch zwischen Basis und Führung unterdrückt. Deshalb dürfen Kommunisten bürgerlichen Arbeiterparteien, die zugunsten einer Koalition mit rein bürgerlichen Parteien, d.h. einer sogenannten Volksfront, antreten, keine Stimme geben. Die großen Niederlagen der Arbeiterbewegung im Zwanzigsten Jahrhundert sind auf die Unterordnung der Arbeiterorganisationen in bürgerlichen Koalitionen zurückzuführen: China 1927, Spanien 1937, Chile 1973, um nur die wichtigsten zu nennen.

Dem Argument “Wählt ihr nicht die Volksfront-Parteien, nützt ihr nur den Rechten” halten Trotzkisten stets entgegen: Wie viele reformistische Illusionen muss man eigentlich haben, um zu glauben, die Bourgeoisie würde die Wahlurnen respektieren und auf den Faschismus verzichten, wenn sie den Faschismus in Wirklichkeit wünscht. Sollen wir dafür dem Proletariat empfehlen, zurückzustecken und einer Regierung der Klassenzusammenarbeit das eigene Schicksal anzuvertrauen? Nein! Wer herrscht, wird in Wirklichkeit im Betrieb und auf der Straße entschieden! Denkt an die chinesische, spanische und chilenische Erfahrung!

Wie der Strick den Gehängten …

Will eine revolutionäre Partei einer bürgerlichen Arbeiterpartei kritische Wahlunterstützung geben, hat sie vor, diese Partei einem Praxistest zu unterziehen, in dem die Reformisten nur versagen können. Lenin schlug diese Politik den englischen Kommunisten in seiner Schrift “Der linke Radikalismus, die Kinderkrankheit im Kommunismus” vor. Die englischen linken Kommunisten, repräsentiert durch Sylvia Pankhurst, hatten sich damals geweigert, an Parlamentswahlen teilzunehmen und die britische Labour Party kritisch zu unterstützen. Labour war zu dieser Zeit eine Partei, die vorgab, den Sozialismus auf parlamentarischem Weg in England einzuführen, und sie war isoliert von den britischen Liberalen und Konservativen, die Lloyd George gegen Labour zu einen versuchte. In diesem Fall war es richtig, Labour kritisch zu unterstützen.

Das war in diesem Fall die geschickteste Propaganda für den Kommunismus im eigenen Klassenlager. Unter dem begeisternden Einfluss der sozialistischen Oktoberrevolution in Russland waren in England ein Großteil der in Labour organisierten Arbeiterklasse für die Ideen des Kommunismus empfänglich geworden. Doch Labour erfasste damals fast das ganze organisierte Proletariat, während die Kommunisten schwach geblieben waren. Unter dem klassenpolitischen Druck der proletarischen Diktatur in Russland und der eigenen Basis war die Führung der Labour Party gezwungen, sich ein linkes Gesicht aufzulegen – zu behaupten, sie wolle die Arbeiterklasse an die Macht bringen, sozialistische Planwirtschaft einführen usw.. Sie gab vor, einen Klassenstandpunkt zu vertreten und konkurrierte in der Tat mit den Kommunisten um Elemente ihres bolschewistischen Programms. Nun musste es die Politik der Kommunisten sein, der Arbeiterbasis von Labour zu sagen: “Eure Führer geben vor, Euer Interesse zu vertreten und das Richtige (Arbeiterklasse an die Macht, sozialistische Planwirtschaft, usw., usf.) mit reformistischen Mitteln erreichen zu wollen. Wir wissen: Auf diesem falschen Weg werdet Ihr das Richtige jedoch nie erreichen. Solange uns aber die Mehrheit der Arbeiter noch nicht auf dem Weg zum Arbeiterstaat folgt, helfen wir Labour an die Macht im bürgerlichen Staat. Um durch diesen Test alle davon zu überzeugen, dass wir recht haben, geben wir eine kritische Wahlunterstützung.” Insofern hatte Labour seinen eigenen Sieg zu fürchten, wie Lenin es in “Der linke Radikalismus” ausdrückte.

Aktuell haben wir diese Taktik letztes Jahr bei den britischen Wahlen angewandt, als wir den Organisationen der britischen Linken (Socialist Alliance, Socialist Alternative, Scottish Socialist Party, Socialist Labour Party) eine kritische Wahlunterstützung gaben, die zumindest in einem Teil der Wahlbezirke unabhängige Kandidaten gegen Blairs New Labour Party aufstellten.

Keine bedingungslose Wahlunterstützung

Die revolutionäre Anwendung der kritischen Wahlunterstützung unterscheidet sich deutlich von der opportunistischen, die immer wieder bedingungslos ihre Stimmen den reformistischen Verrätern hinterher schmeißt:

“Während im Prinzip Marxisten bereit sind, dazu aufzurufen, für Kandidaten der Arbeiterbewegung zu stimmen, die auf weniger als einem revolutionären Programm antreten, ist es eine Vorbedingung für jegliche Art der Wahlunterstützung, dass sie wenigstens in einigen Fragen eine ernsthafte Herausforderung für die kapitalistischen Interessen präsentieren” (Wahlerklärung der IBT/Ukraine).

Schauen wir uns nach vergleichbaren Kriterien bei SPD oder PDS um, müsste es Kommunisten schwer fallen, diesen Parteien die leninistische Politik der kritischen Wahlunterstützung widerfahren zu lassen, geschweige denn, die Politik des revolutionären Entrismus. Nirgendwo geben SPD oder PDS vor, das Richtige zu machen. Deshalb können wir sie auch nicht packen, dass sie ihre Versprechen nicht halten. Die Genossen der Bosse sind offen zum Co-Management übergegangen und auch die PDS sagt ganz offen und unverhohlen was ihr Programm ist: Angefangen mit ihrem Ja zur kapitalistischen Konterrevolution in ihrer Geburtsstunde. Ja zur Marktwirtschaft. Tolerieren oder Mitregieren in den abschiebeintensivsten Bundesländern. Ja zu imperialistischen Kriegen unter UNO-Mandat. Statt in diesem Fall kritische Wahlunterstützung entschieden abzulehnen, gibt es immer noch einige selbsternannte Revolutionäre, die diese Politik mit einem Wahlaufruf vor der Klasse honorieren. Das ist nicht nur peinlich, es ist Beihilfe zum reformistischen Verrat!