LRKIs Linkswende: “Keine schlüssige Zwischenposition”
Nicht mehr todgeweiht?
Die November 2000 Ausgabe von Workers Power gibt eine dramatische Wende über die Bedeutung und Wichtigkeit der Rückkehr zum Kapitalismus in Osteuropa und der ehemaligen UdSSR nach dem Zusammenbruch des Stalinismus in den Jahren 1989-1991 bekannt. Nach einer längeren internationalen Diskussion beschloß der Fünfte Kongreß der Liga für eine Revolutionäre Kommunistische Internationale (LRKI) im Juli 2000, die bisherige Charakterisierung Russlands als todgeweihter Arbeiterstaat zurückzunehmen. Sie halten Russland nunmehr für einen bürgerlichen restaurativen Staat. Es ist nicht ganz klar, ob dieser Wandel eine ernsthafte Linkswendung bedeutet oder lediglich der Versuch ist, eine beschämende Position loszuwerden – nämlich die, daß Boris Jelzin und Vladimir Putin in den letzten neun Jahren einen Staat mit einem proletarischen Klassencharakter verwalteten.
Die LRKI-Resolution bemerkt, daß in Übergangsperioden – Zeiten der Revolution oder Konterrevolution – der Klassencharakter des Staates in scharfer Opposition zum ökonomischen System, das innerhalb dieser Grenzen existiert, stehen kann. Weiterhin scheint die LRKI nun die elementare marxistische Position zu akzeptieren, daß der Klassencharakter eines Staates bestimmt wird durch die Klasseninteressen und Eigentumsverhältnisse, die er fördert und verteidigt:
Der Staat ist ein Instrument des Klassenkampfes – er repräsentiert die Macht fundamentaler sozialer Gruppen. Sein wesentlicher Charakter kann nicht verstanden werden, wenn wir ihn lediglich als passive Reflektion von unpersönlichen wirtschaftlichen Kräften sehen. Stattdessen müssen wir sein klassenpolitisches Wesen in Betracht ziehen – die Klasse und das soziale System, für die es aktiv kämpft.
Die Resolution charakterisiert eindeutig Jelzins Sieg über den versuchten Putsch der stalinistischen Hardliner im August 1991 als das entscheidende Ereignis bei der Zerstörung des degenerierten sowjetischen Arbeiterstaates:
die Übernahme der Macht durch Jelzin 1991 in Rußland und die Abschaffung der Kommunistischen Partei vollendete nicht sofort die Restauration des Kapitalismus. Aber es war ein entscheidender Schritt zur endgültigen Abschaffung der hinfälligen nachkapitalistischen Eigentumsverhältnisse &
Diese sehr wichtige Charakterisierung wird später im Text wiederholt:
Die Restauration des kapitalistischen Staates in Rußland fand statt, als Jelzin 1991 seine Regierung bildete und die Kommunistische Partei der Sowjetunion abschaffte.
Und, um es noch deutlicher zu machen, wird sie ein drittes Mal wiederholt:
Der russische Staat bewacht und verteidigt heute die entstehenden kapitalistischen Eigentumsverhältnisse in Rußland – seit 1991 fördert er dort aktiv die Klasseninteressen und das Eigentum der Weltbourgeoisie.
Die Position der LRKI nähert sich unserer damit stark an:
Alle verfügbaren Beweise bringen uns zu der Schlußfolgerung, daß die Niederlage des Coups und die Übernahme der Macht durch Elemente, die für den Wiederaufbau der Wirtschaft auf einer kapitalistischen Basis einstehen, einen qualitativen Wendepunkt bedeuten.
(“Counterrevolution Triumphs in USSR,” September 1991, 1917 No. 11)
Die Resolution der LRKI verwirft auch die Ansicht, daß es eine proletarische Institution geben kann, – den todgeweihten Arbeiterstaat – die Marxisten nicht verpflichtet sind, zu verteidigen. Sie schweigt jedoch zur Notwendigkeit, einen Arbeiterstaat gegen die innere Konterrevolution zu verteidigen. Es ist nicht wahrscheinlich, daß das einfach übersehen wurde. Während die Resolution eindeutig eine bedeutsame Änderung der Analyse zeigt, gibt es keinen Hinweis auf eine entsprechende programmatische Entwicklung und auch keine neue Einschätzung der Teilnahme von LRKI-Mitgliedern an der Verteidigung von Jelzins Hauptquartier während des Coups 1991.
August 1991: Der Gordische Knoten der LRKI
Zur Frage der Verteidigung folgerte die LRKI, daß ihre Position des todgeweihten Arbeiterstaates etwas vermissen läßt: theoretischen und programmatischen Nutzen – sie bringt nichts als Verwirrung in der Frage. Da ist jedoch immer noch Verwirrung innerhalb der LRKI, selbst unter den Kritikern der Todgeweiht-Theorie. Der Artikel berichtet, daß die Mehrheit auf dem vorangegangenen Kongreß der LRKI 1997 den Vorschlag ablehnte, Trotzkisten müßten Rußland unter Jelzin verteidigen, wenn es sich dabei um irgendeine Art von proletarischem Staat (wenn auch einem todgeweihten) handele. Die Befürworter der Theorie vom todgeweihten Arbeiterstaat:
brachten ein zwingendes Argument – wie könnte eine Einheitsfront mit dem retaurationistischen Regime von Jelzin die proletarischen Eigentumsverhältnisse verteidigen?”
Die absurde Theorie des todgeweihten Arbeiterstaates hatte einen absurden Nebendisput geschaffen. Der Gordische Knoten muß hier zerschnitten werden. Es kann keine Verteidigung geben, denn da ist kein Arbeiterstaat.
Die Theorie vom todgeweihten Arbeiterstaat ist wirklich absurd; indem die jetzige Mehrheit der LRKI nur neue Etiketten ohne programmatische Schlußfolgerungen vergibt, lassen sie ihren Gordischen Knoten unversehrt. Es war unmöglich, proletarische Eigentumsverhältnisse in einer Einheitsfront mit Jelzin zu verteidigen, und wenn, wie es die LRKI-Mehrheit nun anerkennt, die Konterrevolution im August mit der Niederlage des stalinistischen Coups triumphierte, dann hätten die Verteidiger der Sowjetunion militärisch auf der Seite Janajews gegen Jelzin stehen müssen.
Die neue LRKI-Resolution bezieht zwar keine Seite in dieser Konfrontation, aber sie kommt fast daran heran:
Breschnew war objektiv konterrevolutionär, reaktionär und untergrub die proletarischen Eigentumsverhältnisse, aber er war nicht aktiv darauf aus, sie zu zerstören. Auch Gorbatschow tat das nicht. Bis August 1991 sprachen sich Trotzkisten für revolutionäre Verteidigung und eine Einheitsfront mit dem Regime in Kriegszeiten aus, gegen den Imperialismus und kapitalistische Restauration. Seit August 1991 meint die LRKI, daß dies unmöglich gewesen wäre.
Bis August 1991 waren LRKI-Genossen Verteidiger. Nach August war dies unmöglich. Aber wo steht die LRKI bei der August-Krise? In einem Artikel der Mai 1993-Ausgabe von LRKI’s Trotskyist International mit dem Titel Sectarians abandon the Gains of October [Sektierer geben die Oktobererrungenschaften auf], attackiert uns Keith Harvey, der Begründer der todgeweihten Arbeiterstaat-Theorie, als Ultra-Linke, Dogmatiker und Stalinophiledafür, daß wir Jelzins Sieg als Triumph der Konterrevolution sahen. In der Einleitung zu seinem Artikel bemerkt Harvey:
Der Putschversuch im August 1991 in Moskau wirft auch weiterhin einen langen Schatten auf den stalinophilen Flügel des degenerierten Trotzkismus. Dieses Ereignis und Jelzins folgende Machtübernahme von Gorbatschow, seine Auflösung der KPSU und dann der UdSSR selbst stürzte diese Sekten in den tiefsten vorstellbaren Trübsinn.”
Sie stellen sich als völlig unfähig heraus zu analysieren, was wirklich geschah. Nach einer mehr oder weniger langen Zeit der Verwirrung haben sie alle entschieden, den Gordischen Knoten zu durchschneiden und zu verkünden, daß die Errungenschaften der Russischen Revolution endgültig liquidiert seien.
Heute scheint es so, als sei die LRKI selbst dicht daran, den Knoten zu durchschneiden, nachdem sie nun verspätet die Bedeutung von Jelzins Triumph erkannt hat.
Keine Zwischenposition
Die Kader der LRKI könnten merken, daß ein Blick auf Harveys Polemik von 1983 (in der der Begriff todgeweihter Arbeiterstaat vermutlich zum ersten Mal öffentlich benutzt wurde) hilft, die neue Position in einen schärferen Fokus zu bringen. Das Hauptthema, das der Genosse Harvey anspricht, ist unsere Erklärung, daß die Verteidiger der Sowjetunion militärisch auf der Seite der Führer des Putsches sein mußten. Harvey hingegen verteidigte die Entscheidung, 1991 auf Jelzins Seite zu stehen und kritisierte die “politischen Feiglinge” der Spartacist League/Internationale Kommunistische Liga, die sich aus eigenen Gründen weigerte, irgendeine Seite zu unterstützen. Korrekterweise bemerkte er, daß diejenigen die
insistieren, daß Jelzins Triumph gleichbedeutend mit dem Ende des Arbeiterstaates war&die Pflicht haben, rückblickend festzustellen, daß sie das SCSE [Janajews Notfall Komitee] hätten unterstützen müssen, da sie so zumindest den Ausgang verzögert hätten. Kurz gesagt, zwischen der IBT und der LRKI gibt es keine schlüssige Zwischenposition in der Frage des Putsches von 1991. (Hervorhebung durch 1917)
Genosse Harvey hatte vollkommen recht – es existiert keine Zwischenposition für die Verteidiger der Sowjetunion im August 1991. Nachdem die LRKI-Mehrheut festgestellt hat, daß Jelzins Sieg der entscheidende Schritt zur Zerstörung des degenerierten sowjetischen Arbeiterstaates war, muß sie, um politisch schlüssig zu sein, feststellen, daß Sowjetverteidiger die Pflicht hatten, mit Janajew gegen Jelzin zu blocken. Das gequälte Theoretisieren, das die absurde Behauptung produzierte, der sowjetische Arbeiterstaat überlebte unter Jelzin, und nun auch Putin, war, im Grunde, ein Rechtfertigungsversuch für den Block mit den Konterrevolutionären im Jahre 1991.
In seiner Polemik kritisierte Harvey unser rigides Festhalten an einem Dogma und nannte unsere folgende Feststellung einen Fehler:
Während wir demokratische Rechte verteidigen, halten wir kollektivierte Eigentumsformen bei den Produktionsmitteln als sehr viel wertvollere Errungenschaft für die Arbeiterklasse, und Privateigentum und nicht politische Diktatur als das größere Übel&
Harvey gestand ein:
das Dogma beginnt mit Trotzkis richtiger Beobachtung, daß die stalinistische Bürokratie ein Parasit war, der sich vom gesunden Körper der UdSSR ernährte; er hatte keine sinnvolle Funktion aber jedes Interesse am Selbstschutz des Körpers, ohne den er zugrunde gehen würde. Daher & könnten Arbeiter mit ihnen blocken, nicht zur Verteidigung von deren Privilegien aber um die Grundlage zukünftiger politischer und ökonomischer Errungenschaften zu verteidigen.
Der Genosse Harvey, dessen Position nur schwer von der des Dritten Lagers zu unterscheiden ist, verwarf dieses Dogma mit der Bemerkung, diese Wahrheit von Trotzki hatte eine historische Begründung und war daher relativ. Die Situation, behauptet Harvey, hätte sich in den 50 Jahren nach Trotzkis Tod so sehr geändert, daß sein Programm der Sowjet-Verteidigung nicht mehr gültig sei:
In der UdSSR war die größte Barriere für diese Aufgabe [proletarisches Klassenbewußtsein zu entwickeln] die Existenz der stalinistischen Bürokratie; sie war zugleich der Architekt und der Ausführer der politischen und nationalen Unterdrückung, der Desorganisator der Planwirtschaft und die Hauptquelle prokapitalistischer Ideen.
. . .
&mit der Bürokratie gegen die Arbeiterklasse und ihre demokratischen restaurativen Irreführer zu blocken ist kriminelle Torheit. Das heißt wirklich, das Banner mit Trotzkis Namen in den Schmutz des Stalinismus zu ziehen. (Hervorhebung durch 1917)
Harvey schlug vor:
Indem sie alles tut, um den stalinistisch-revanchistischen Coup zu bezwingen, konfrontiert die Arbeiterklasse den Feind Jelzin mit dem noch bevorstehenden entscheidenden Kampf. (Hervorhebung durch 1917)
Uns als ultraorthodoxe Dogmatiker anprangernd, besteht Harvey darauf: die imperialistische Bourgeoisie, die das eine oder andere über Eigentum weiß, hat keinen Zweifel daran, daß die fundamentale Überschreitung des Rubikon noch bevorsteht. Als dies geschrieben wurde, im Jahre 1993, waren die Imperialisten sehr besorgt über die tiefe Spaltung unter den Konterrevolutionären zwischen russischen Nationalisten (geführt von Alexander Ruzkoi) und den von Jelzin geführten pro-IWF Kompradoren. Es gab jedoch generelle Übereinstimmung, daß dies im Grunde ein Disput darüber war, wie der Kapitalismus in Rußland aufgebaut werden sollte. Die seriöse bürgerliche Presse war und ist einhellig der Meinung, daß der sowjetische Rubikon zwei Jahre vorher überschritten wurde, als Jelzin die Macht ergriff und die KPdSU zerschlug. Die Neueinschätzung der Bedeutung der Ereignisse im Jahre 1991 bedeutet zwar einen wichtigen Schritt vorwärts für die LRKI, wirft aber auch eine Reihe politischer Fragen auf. Harvey, das sei zu seiner Ehre gesagt, hatte die politische Courage der Logik seiner Position konsequent zu folgen und die politischen Schlußfolgerungen zu ziehen. Es ist noch nicht klar ob die neue Mehrheit ähnliche Entschlossenheit besitzt, denn eine ernsthafte politische Neueinschätzung des Fehlers der LRKI im August 1991 wird notwendigerweise eine Überprüfung der ganzen Kette politischer Fehler, die dahin führten, mit sich bringen.
Die Resolution, nachgedruckt in Workers Power, die Harveys Lösung zum Gordischen Knoten der LRKI widerruft, nimmt kein Blatt vor den Mund:
Wenn wir bei der Theorie des todgeweihten Arbeiterstaates bleiben, haben wir einen Arbeiterstaat – eine Institution unserer Klasse, den wir nicht gegen den Klassenfeind verteidigen. Dies bedeutet eines von zwei Dingen: entweder sind wir Feiglinge und Klassenverräter, oder, wie wir nun öffentlich zugeben sollten, wir haben dem Lexikon des Marxismus eine Kategorie hinzugefügt, die bedeutungslos und ohne programmatische Konsequenzen ist.
Während es sicher wahr ist, daß sich Feiglinge und Klassenverräter weigern, Arbeiterstaaten gegen den Klassenfeind zu verteidigen, folgt daraus nicht, daß die Theorie des todgeweihten Arbeiterstaates ohne programmatische Konsequenzen ist. Harveys Theorie war wesentlich, um die Unterstützung für Jelzins Gegenputsch zu rechtfertigen. Wenn Jelzins Sieg das Überleben des degenerierten Arbeiterstaates nicht bedroht hätte und die einzige Frage gewesen wäre, ob die durch Gorbatschow zugestandenen demokratischen Rechte zurückgenommen worden wären, dann hätte die Position der LRKI Sinn gemacht.
Die todgeweihte Konfusion über den Staat
Obwohl sie die Theorie des todgeweihten Arbeiterstaates offiziell widerrufen haben, muß die LRKI-Mehrheit politisch erst noch reinen Tisch machen. Dies wird deutlich in der Andeutung, daß Ereignisse in China zeigen, eine stalinistische Bürokratie sei in der Lage:
sich zu einer vollen restaurativen Politik zu bewegen und damit zu einem bürgerlichen Staat ohne Regierungswechsel oder Aufgabe des Einparteiensystems. Die [stalinistische regierende] Kaste als Ganze könnte der Auflösung durch die eigene erfolgreiche Transformation in die regierende Klasse entgehen.
Um zu erklären, wie eine zerbröckelnde Kaste von Parasiten, ohne gemeinsame ökonomische oder soziale Interessen außer der Mitgliedschaft in der Regierungspartei, sich selbst nahtlos und ohne viel Wirbel in eine neue Bourgeoisie transformieren könnte, greift die LRKI-Mehrheit auf einen der zentralen Sützpfeiler der Theorie des todgeweihten Arbeiterstaates zurück:
Warum sollten uns diese verschiedenen Möglichkeiten nicht erschüttern? Weil wir bereits erkannten, daß für die Restauration die Zerschlagung des Staates nicht notwendig ist. Die soziale Konterrevolution fand friedlich statt. Unter dem Stalinismus hatte der bürokratisch-militärische Apparat bereits eine bürgerliche Form: im Gegensatz zum echten revolutionären Arbeiterklassenstaat hatte er bereits ein stehendes Heer, eine Geheimpolizei, ungewählte Offiziere. Alles was notwendig für eine neue, dem Kapitalismus verpflichtete Regierung war, war die Kontrolle über die kommandierenden Kreise der Staatsmacht zu nehmen. (Hervorhebung durch 1917)
Dies Arguments paßt nicht so recht zur Erkenntnis der Resolution, daß der Staat ein Instrument des Klassenkampfes ist. Die Vorstellung, der selbe Staatsapparat könne verschiedenen sozialen Klassen dienen, widerspricht klar der marxistischen Position zu dieser Frage:
Die Revolution darf nicht darin bestehen, daß die neue Klasse mit Hilfe der alten Staatsmaschinerie kommandiert und regiert, sondern muß darin bestehen, daß sie diese Maschine zerschlägt und mit Hilfe einer neuen Maschine kommandiert und regiert – diesen grundlegenden Gedanken des Marxismus vertuscht Kautsky, oder aber er hat ihn überhaupt nicht begriffen.
(W.I. Lenin, Staat und Revolution)
Mehr noch, der Versuch der LRKI die bürgerliche Form die Sowjetunion mit deren stehendem Heer, Geheimpolizei, [und] ungewählten Offizieren in Gegensatz zu einem echten Arbeiterstaat zu setzen ist grotesk. Die Genossen der LRKI stimmen sicher zu, daß die UdSSR unter Lenin ein echter revolutionärer Arbeiterklassenstaat war; doch Trotzki stand einem stehenden Heer vor, Felix Dzerschinski führte eine Geheimpolizei (die Tscheka) und ein System der Parteiernennungen von ungewählten Offizieren in Schlüsselpositionen war weitgestreut.
Trotzki behandelte das scheinbare Rätsel des bürgerlichen Charakters des Apparats eines Arbeiterstaates in Die Verratene Revolution, in der er Lenins Bemerkungen zitiert:
daß nicht nur unter dem Kommunismus das bürgerliche Recht [bezüglich der Verteilung der Güter an Einzelne auf der Basis ihres individuellen Einsatzes] eine gewisse Zeit bestehen bleibt, sondern auch der bürgerliche Staat ohne – Bourgeoisie.
Trotzki erklärt, was dies bedeutet:
Unmittelbar nämlich bekommt der Staat von Anfang an einen doppelten Charakter: einen sozialistischen, soweit er das vergesellschaftete Eigentum an den Produktionsmitteln schützt, einen bürgerlichen, soweit die Verteilung der Lebensgüter mit Hilfe des kapitalistischen Wertmessers erfolgt, mit allen daraus sich ergebenden Folgen.
Die proletarische Revolution unterscheidet sich von allen vorherigen Revolutionen dadurch, daß die Macht an die Mehrheit geht und nicht von einer privilegierten Minderheit an eine andere. Das führt zu dieser wichtigen Feststellung:
Das Regime der proletarischen Diktatur höre auf diese Weise schon bei seiner Geburt auf, ein Staat im alten Sinne des Wortes zu sein, d.h. ein besonderer Apparat zwecks Anhaltung der Volksmehrheit zu Gehorsam.
(Ebd.)
Trotzki wies darauf hin, daß das bolschewistische Programm optimistisch davon ausgegangen war: Der Staat als bürokratischer Apparat beginnt vom ersten Tage der proletarischen Diktatur an abzusterben. Dies erwies sich als unmöglich durch den Druck des Imperialismus und das ererbte Vermächtnis der wirtschaftlichen Rückständigkeit. Trotzki schrieb den bürgerlichen Charakter des sowjetischen Arbeiterstaates nicht seiner bürokratischen Degeneration unter Stalin zu. Und er setzte Lenins bürgerlichem Staat ohne Bourgeoisie auch nicht einen hypothetischen echten Arbeiterstaat gegenüber:
Die Doppelheit aus der Funktion des Staates mußte sich notwendig auch in seiner Struktur verraten. Die Erfahrung zeigte, was die Theorie nicht mit genügender Klarheit vorherzusehen verstanden hatte& Zur Verteidigung des ‘bürgerlichen Rechts’ ist der Arbeiterstaat gezwungen, ein seinem Typus nach ‘bürgerliches’ Organ ins Leben zu rufen, d.h. wieder denselben Gendarm, wenn auch in neuer Uniform.
(Ebd.)
In einer Polemik im Jahre 1937 mit Joseph Carter und James Burnham, zwei Pionieren des Dritten Lagers, die, wie die LRKI, ebenfalls versuchten, den Unterschied zwischen einem echten Arbeiterstaat und Stalins Rußland aufzuzeigen, kam Trotzki nochmal auf die Frage zurück:
Die UdSSR als Arbeiterstaat entspricht nicht der traditionellen Norm. Das heißt nicht, daß sie kein Arbeiterstaat ist. Ebensowenig heißt das, daß sich die Norm als falsch erwiesen hat. Die ‘Norm’ ist auf den vollständigen Sieg der proletarischen Weltrevolution ausgelegt. Die UdSSR ist nur der teilweise und entstellte Ausdruck eines zurückgebliebenen und isolierten Arbeiterstaates.”
(&)
Die Behauptung, die Bürokratie eines Arbeiterstaates habe bürgerlichen Charakter, muß Menschen von formaler Denkungsart nicht nur als unverständlich, sondern als geradezu unsinnig erscheinen&. Der Arbeiterstaat ist als Staat notwenig, weil die bürgerlichen Verteilungsnormen noch in Kraft sind.”
Das heißt: Sogar die revolutionärste Bürokratie ist bis zu einem bestimmten Grad ein bürgerliches Organ im Arbeiterstaat. Selbstverständlich sind der Grad dieser Verbürgerlichung und die allgemeine Entwicklungstendenz von entscheidender Bedeutung. Wenn der Arbeiterstaat sich entbürokratisiert und allmählich abstirbt, so verläuft die Entwicklung in Richtung Sozialismus. Wenn aber umgekehrt die Bürokratie immer mächtiger, anmaßender, privilegierter und konservativer wird, so wachsen im Arbeiterstaat die bürgerlichen Tendenzen auf Kosten der sozialistischen; mit anderen Worten, dann geht der innere Widerspruch, der dem Arbeiterstaat seit dem ersten Tag seines Bestehens bis zu einem gewissen Grad innewohnt, nicht zurück, wie es die ‘Norm’ verlangt, sondern verschärft sich.
(Leo Trotzki, Weder proletarischer noch bürgerlicher Staat, 25. November 1937)
In der Mitte der 30er Jahre war die Staatsbürokratie unter Stalin zu einem bis dahin unerhörten Apparat des Zwangs angewachsen, der sich verwandelt hatte in eine unkontrollierte Kraft, die die Massen dominierte. Es war notwendig, einen bewaffneten Aufstand zu machen, eine politische Revolution, um den Griff der Oligarchie zu brechen und die direkte politische Herrschaft der Arbeiterklasse zurückzuerobern. Trotzdem bestand Trotzki weiterhin auf der Notwendigkeit der Verteidigung der Sowjetunion gegen kapitalistische Restauration und dem Schutz des Systems des kollektivierten Eigentums. Über diese Frage brachen Max Shachtman, Tony Cliff und all die anderen Feiglinge und Klassenverräter des Dritten Lagers mit dem Trotzkismus.
Wer die Russische Frage angreift,
greift die Revolution an
Der Schlußkommentar in der LRKI-Resolution zum todgeweihten Arbeiterstaat sagt:
Wenn es nicht erklärt, nichts programmatisch hinzufügt, nicht notwendig ist und nichts als Konfusion bringt, dann muß es weggeschnitten werden.
Die Theorie vom todgeweihten Arbeiterstaat brachte eine Menge Konfusion und verdient es weggeschnitten zu werden; dabei müssen die Mitglieder der LRKI sich mit ihrer Unterstützung für die Konterrevolutionäre um Jelzin im August 1991 auseinandersetzen. Mehr noch, es würde ihnen gut bekommen sich James P. Cannons markanter Beobachtungen zu erinnern:
Wer die russische Frage angreift, greift die Revolution an. Deshalb seid ernsthaft. Spielt nicht damit.
(Der Kampf für eine proletarische Partei)
Übersetzt aus 1917 Nr. 23, Februar 2001