Lenin über den Imperialismus
Im August 1914, bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs, war Wladimir Lenin fassungslos über die Welle des Sozialpatriotismus, die die Zweite Internationale, einschließlich ihrer deutschen Vorzeigesektion, der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD), überrollte. All die feierlichen Beschlüsse der führenden Sozialisten der Welt zum Widerstand gegen den zwischen-imperialistischen Krieg durch gleichzeitige Generalstreiks der Arbeiter in den kriegführenden Ländern entpuppten sich als wertlose Fetzen Papier. Der Eifer, mit dem die Massenparteien der Arbeiterklasse auf beiden Seiten ihre Anhänger dazu aufforderten, sich an einem gegenseitigen Brudermord zu beteiligen, zwang den bolschewistischen Führer zu einer umfassenden Neubewertung vieler seiner Annahmen, insbesondere derjenigen über die Führung der SPD und der Internationale.
Jahrelang nahm Lenin Rosa Luxemburgs Anprangerungen der SPD-Führung, die die Perspektive eines allmählichen, evolutionären Weges zum Sozialismus vertrat, nicht ernst. Auf der Suche nach den Wurzeln des Verrats erkannte er jedoch die Zusammenhänge zwischen der Entwicklung einer neuen, imperialistischen Phase des Kapitalismus und der Kapitulation der führenden Parteien der Sozialistischen Internationale vor ihrer jeweiligen Bourgeoisie. Heute identifiziert sich jede Gruppe, die den Mantel des Leninismus für sich beansprucht, angeblich mit seiner Analyse des Imperialismus, doch nur wenige haben sich als fähig erwiesen, sie auf den aktuellen Konflikt in der Ukraine anzuwenden. Viele Gruppen, die die Angriffe der NATO auf den Irak und Libyen zu Recht als imperialistische Aggression anprangerten, reagierten auf den Krieg in der Ukraine, indem sie die Anprangerung des „russischen Neo-Imperialismus” durch den deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz und das US-Außenministerium wiederholten.
Das „Monopolstadium des Kapitalismus“
Lenin beschrieb den Imperialismus kurz und bündig wie folgt:
„Würde eine möglichst kurze Definition des Imperialismus verlangt, so müßte man sagen, daß der Imperialismus das monopolistische Stadium des Kapitalismus ist. Eine solche Definition enthielte die Hauptsache, denn auf der einen Seite ist das Finanzkapital das Bankkapital einiger weniger monopolistischer Großbanken, das mit dem Kapital monopolistischer Industriellenverbände verschmolzen ist, und auf der anderen Seite ist die Aufteilung der Welt der Übergang von einer Kolonialpolitik, die sich ungehindert auf noch von keiner kapitalistischen Macht eroberte Gebiete ausdehnt, zu einer Kolonialpolitik der monopolistischen Beherrschung des Territoriums der restlos aufgeteilten Erde.“
– Wladimir Iljitsch Lenin, Imperialismus – Das höchste Stadium des Kapitalismus, 1916
Das „Monopolstadium des Kapitalismus“ entwickelte sich, als größere, finanziell besser ausgestattete und technologisch fortgeschrittenere Unternehmen ihre Konkurrenten unaufhaltsam ausschalteten:
„Vor einem halben Jahrhundert, als Marx sein Kapital schrieb, erschien der überwiegenden Mehrheit der Ökonomen die freie Konkurrenz als ein ‚Naturgesetz‘. Die offizielle Wissenschaft versuchte das Werk von Marx totzuschweigen, der durch seine theoretische und geschichtliche Analyse des Kapitalismus bewies, daß die freie Konkurrenz die Konzentration der Produktion erzeugt, diese Konzentration aber auf einer bestimmten Stufe ihrer Entwicklung zum Monopol führt. Das Monopol ist jetzt zur Tatsache geworden. Die Ökonomen schreiben Berge von Büchern, beschreiben die einzelnen Erscheinungsformen des Monopols und verkünden nach wie vor einstimmig, daß der ‚Marxismus widerlegt‘ sei. Aber Tatsachen sind ein hartnäckig Ding, sagt ein englisches Sprichwort, und man muß ihnen wohl oder übel Rechnung tragen. Die Tatsachen zeigen, daß die Unterschiede zwischen einzelnen kapitalistischen Ländern, z.B. in bezug auf Schutzzoll oder Freihandel, bloß unwesentliche Unterschiede in der Form der Monopole oder in der Zeit ihres Aufkommens bedingen, während die Entstehung der Monopole infolge der Konzentration der Produktion überhaupt ein allgemeines Grundgesetz des Kapitalismus in seinem heutigen Entwicklungsstadium ist.“
– Ebenda
Lenin betonte, dass die Monopole „infolge der Konzentration der Produktion“ entstehen. Marx hatte beobachtet, dass die kapitalistischen Unternehmen, die Waren effizienter produzierten, ihre Konkurrenten unterbieten konnten:
„Der Konkurrenzkampf wird durch Verwohlfeilerung der Waren geführt. Die Wohlfeilheit der Waren hängt, caeteris paribus <unter sonst gleichbleibenden Umständen>, von der Produktivität der Arbeit, diese aber von der Stufenleiter der Produktion ab. Die größeren Kapitale schlagen daher die kleineren.”
– Karl Marx, Das Kapital Band 1, 1867
Die Arbeitsproduktivität, die sowohl vom technologischen Stand der Produktionsmittel als auch von der Ausbildung und der effizienten Organisation der Arbeitskräfte abhängt, führte in Verbindung mit den natürlichen Einsparungen der Großproduktion zu Monopolen, da kleinere Unternehmen von ihren größeren und besser organisierten Konkurrenten unterboten wurden und schließlich in den Bankrott getrieben wurden.
Es ist wichtig, zwischen Monopolen, die sich aus dem kapitalistischen Wettbewerb ergeben, und Staatsmonopolen zu unterscheiden, die durch staatliche Eingriffe in weniger entwickelten Ländern entstanden sind. Ein Beispiel für Letzteres war die Verstaatlichung der in britischem Besitz befindlichen Ölgesellschaften in Mexiko in den 1930er Jahren:
„In den industriell rückständigen Ländern spielt das Auslandskapital eine entscheidende Rolle. Daher die relative Schwäche der nationalen Bourgeoisie im Vergleich zum nationalen Proletariat. Dies schafft besondere Bedingungen für die Staatsmacht. Die Regierung schwankt zwischen ausländischem Kapital und einheimischem Kapital, zwischen der schwachen nationalen Bourgeoisie und dem relativ mächtigen Proletariat. Dies verleiht der Regierung einen besonderen bonapartistischen Charakter sui generis [eigener Art]. Sie erhebt sich sozusagen über die Klassen. In Wirklichkeit kann sie regieren, entweder indem sie sich selbst zum Instrument des ausländischen Kapitals macht und das Proletariat in den Ketten einer Polizeidiktatur hält, oder indem sie mit dem Proletariat manövriert und sogar so weit geht, ihm Zugeständnisse zu machen und so die Möglichkeit zu erobern, eine gewisse Freiheit gegenüber ausländischen Kapitalisten zu genießen. Die derzeitige Politik der Regierung befindet sich in der zweiten Phase: Ihre größten Erfolge sind die Enteignungen der Eisenbahnen und der Ölindustrie.
Diese Maßnahmen liegen vollständig im Bereich des Staatskapitalismus. In einem halbkolonialen Land steht der Staatskapitalismus jedoch unter starkem Druck des ausländischen Privatkapitals und seiner Regierungen, und kann sich nicht ohne die aktive Unterstützung der Arbeiter aufrechterhalten.“
– Leo Trotzki, Verstaatlichte Industrie und Arbeiterverwaltung, Juni 1938
Heute halten viele neokoloniale Länder Staatsmonopole aufrecht, weil einheimische Unternehmen nicht mit den imperialistischen Monopolen konkurrieren können. Die verstaatlichten venezolanischen, brasilianischen und russischen Energiesektoren wurden alle geschaffen, um sich der Übernahme oder Kontrolle durch ausländisches Kapital zu widersetzen.
Die Einführung der Neuen Ökonomischen Politik im sowjetischen Arbeiterstaat im Jahr 1921 basierte auf der Existenz von Staatsmonopolen, die in der Lage waren, Schlüsselsektoren des kollektivierten Eigentumssystems vor unregulierter kapitalistischer Konkurrenz abzuschirmen:
„Wir wissen sehr wohl, daß die ökonomische Grundlage der Spekulation die in Rußland außerordentlich breite Schicht der Kleineigentümer und der privatwirtschaftliche Kapitalismus ist, der in jedem Kleinbürger seinen Agenten hat. Wir wissen, daß diese kleinbürgerliche Hydra mit ihren Millionen Fangarmen bald hier, bald dort einzelne Schichten der Arbeiter erfaßt, daß die Spekulation an Stelle des Staatsmonopols in alle Poren unseres sozialökonomischen Lebens eindringt.“
– W. I. Lenin, Über die Naturalsteuer, 21. April 1921, LW-Band 32
In einem polemischen Wortwechsel mit P. Kievsky (Georgy Pyatakov) beschrieb Lenin, wie Finanzkapitalisten aus einem imperialistischen Land ausländische Konkurrenten „annektieren“:
„Imperialismus ist, ökonomisch gesehen, monopolistischer Kapitalismus. Um das Monopol vollkommen zu machen, muss man die Konkurrenten nicht nur vom inneren Markt (vom Markt des betreffenden Staates), sondern auch vom äußeren, in der ganzen Welt verdrängen. Gibt es nun ‚in der Ära des Finanzkapitals‘ eine ökonomische Möglichkeit, die Konkurrenz auch in einem fremden Staate zu verdrängen? Natürlich: dieses Mittel ist die finanzielle Abhängigkeit sowie der Ankauf der Rohstoffquellen und später auch aller Unternehmungen der Konkurrenten. … Das große Finanzkapital eines Landes ist stets in der Lage, seine Konkurrenten auch in einem fremden, politisch unabhängigen Lande aufzukaufen, und tut dies auch immer. Ökonomisch ist dies durchaus zu verwirklichen. Die ökonomische ‚Annexion‘ ist durchaus ‚verwirklichbar‘ ohne die politische, und sie kommt auch ständig vor. In der Literatur über den Imperialismus finden wir auf Schritt und Tritt solche Hinweise, wie z. B., dass Argentinien in Wirklichkeit eine ‚Handelskolonie‘ Englands, Portugal faktisch ein ‚Vasall‘ Englands ist u. dgl. Das ist richtig: die ökonomische Abhängigkeit von den englischen Banken, die Verschuldung an England, der Aufkauf der Eisenbahnen, der Gruben, des Bodens usw. durch England – all das macht die genannten Länder zu einer ‚Annexion‘ Englands im ökonomischen Sinne, ohne Verletzung der politischen Unabhängigkeit dieser Länder.“
– Ders., Über eine Karikatur auf den Marxismus und über den „imperialistischen“ Ökonomismus, Oktober 1916
Im Kapital führte Marx Auslandsinvestitionen als ein Mittel an, mit dem die Kapitalisten den tendenziellen Fall der Profitrate teilweise ausgleichen könnten:
„Kapitale, im auswärtigen Handel angelegt, können eine höhere Profitrate abwerfen, weil hier erstens mit Waren konkurriert wird, die von andern Ländern mit mindren Produktionsleichtigkeiten produziert werden, so daß das fortgeschrittnere Land seine Waren über ihrem Wert verkauft, obgleich wohlfeiler als die Konkurrenzländer. Sofern die Arbeit des fortgeschrittnern Landes hier als Arbeit von höherm spezifischen Gewicht verwertet wird, steigt die Profitrate, indem die Arbeit, die nicht als qualitativ höhere bezahlt, als solche verkauft wird. Dasselbe Verhältnis kann stattfinden gegen das Land, wohin Waren gesandt und woraus Waren bezogen werden; daß dies nämlich mehr vergegenständlichte Arbeit in natura gibt, als es erhält, und daß es doch hierbei die Ware wohlfeiler erhält, als es sie selbst produzieren könnte. Ganz wie der Fabrikant, der eine neue Erfindung vor ihrer Verallgemeinerung benutzt, wohlfeiler verkauft als seine Konkurrenten und dennoch über dem individuellen Wert seiner Ware verkauft, d.h., die spezifisch höhere Produktivkraft der von ihm angewandten Arbeit als Mehrarbeit verwertet. Er realisiert so einen Surplusprofit. Was andrerseits die in Kolonien etc. angelegten Kapitale betrifft, so können sie höhere Profitraten abwerfen, weil dort überhaupt wegen der niedrigen Entwicklung die Profitrate höher steht, und ebenfalls, bei Anwendung von Sklaven und Kulis etc., die Exploitation der Arbeit.“
– Karl Marx, Das Kapital Band III, 1894
Lenin sah im Kapitalexport ein Mittel zur Profitmaximierung:
„Solange der Kapitalismus Kapitalismus bleibt, wird der Kapitalüberschuß nicht zur Hebung der Lebenshaltung der Massen in dem betreffenden Lande verwendet – denn das würde eine Verminderung der Profite der Kapitalisten bedeuten –, sondern zur Steigerung der Profite durch Kapitalexport ins Ausland, in rückständige Länder. In diesen rückständigen Ländern ist der Profit gewöhnlich hoch, denn es gibt dort wenig Kapital, die Bodenpreise sind verhältnismäßig nicht hoch, die Löhne niedrig und die Rohstoffe billig. Die Möglichkeit der Kapitalausfuhr wird dadurch geschaffen, daß eine Reihe rückständiger Länder bereits in den Kreislauf des Weltkapitalismus hineingezogen ist, die Hauptlinien der Eisenbahnen bereits gelegt oder in Angriff genommen, die elementaren Bedingungen der industriellen Entwicklung gesichert sind usw. Die Notwendigkeit der Kapitalausfuhr wird dadurch geschaffen, das in einigen Ländern der Kapitalismus ‚überreif‘ geworden ist und dem Kapital (unter der Voraussetzung der Unentwickeltheit der Landwirtschaft und der Armut der Massen) ein Spielraum für ‚rentable‘ Betätigung fehlt.“
– W. I. Lenin, Imperialismus – Das höchste Stadium des Kapitalismus, a.a.O.
Seiner Ansicht nach ist der Kapitalexport im Gegensatz zum Warenexport charakteristisch für den Kapitalismus in seinem imperialistischen Stadium:
„Der Kapitalexport, als besonders charakteristische Erscheinung zum Unterschied vom Warenexport im nicht-monopolistischen Kapitalismus, steht in engem Zusammenhang mit der wirtschaftlichen und der politisch-territorialen Aufteilung der Welt.“
– Ders., Der Imperialismus und die Spaltung des Sozialismus, Oktober 1916
Lenin legte fest, dass das exportierte Kapital nicht nur einen Gewinn, sondern einen Extraprofit – oder „Surplusprofit“, wie Marx es nannte – erwirtschaften muss, d. h. eine Rendite, die deutlich über dem inländischen Durchschnitt liegt:
„…ein Monopol [erzielt] Extraprofit …, d.h. ein Profitüberschuß über den in der ganzen Welt üblichen normalen kapitalistischen Profit. … Imperialismus ist monopolistischer Kapitalismus. Jedes Kartell, jeder Trust, jedes Syndikat, jede der Riesenbanken ist ein Monopol. Der Extraprofit ist nicht verschwunden, sondern geblieben. Die Ausbeutung aller übrigen Länder durch ein privilegiertes, finanziell reiches Land ist geblieben und hat sich verstärkt. Ein Häuflein reicher Länder – es gibt ihrer im ganzen vier, wenn man selbständigen und wirklich riesengroßen ‚modernen‘ Reichtum im Auge hat: England, Frankreich, die Vereinigten Staaten und Deutschland –, dieses Häuflein Länder hat Monopole in unermeßlichen Ausmaßen entwickelt, bezieht einen Extraprofit in Höhe von Hunderten Millionen, wenn nicht von Milliarden, saugt die anderen Länder, deren Bevölkerung nach Hunderten und aber Hunderten Millionen zählt, erbarmungslos aus und kämpft untereinander um die Teilung der besonders üppigen, besonders fetten, besonders bequemen Beute. Eben darin besteht das ökonomische und politische Wesen des Imperialismus…“
– Ebenda
Auf dem Vierten Weltkongress der Kommunistischen Internationale 1922, dem letzten unter der Leitung von Lenin, wurde in den „Leitsätzen zur Orientfrage“ die folgende, elegant einfache Formel aufgestellt: „…das Wesen des Imperialismus besteht in der Ausnutzung der verschiedenen Entwicklungsstufen der Produktivkräfte in den verschiedenen Gebieten der Weltwirtschaft zwecks Erzielung monopolistischer Extraprofite.“
Ein imperialistisches Land ist ein Land, das so weit fortgeschritten ist, dass sein wirtschaftlicher Austausch mit der Außenwelt über einen längeren Zeitraum zu Extraprofiten führt. Ungeachtet vorübergehender Schwankungen sind imperialistische Länder solche, die im Laufe der Zeit einen Nettozufluss von Werten aus weniger entwickelten Ländern anhäufen.
Imperialismus als Spiel der Großmächte und die Rolle Russlands im Ersten Weltkrieg
Viele Linke neigen dazu, den Imperialismus als eine Frage des geopolitischen Gewichts, der nationalen Unterdrückung, der militärischen Kapazitäten und der territorialen Ambitionen zu betrachten und nicht als eine Frage der Gewinnung von Wert aus wirtschaftlich weniger entwickelten Ländern. In Lenins Schriften finden sich Formulierungen, die die Grenzen zwischen der „Gewinnung von Wert“ und der militärischen Fähigkeit, „Einflusssphären“ abzugrenzen, verwischen. Dies ist darauf zurückzuführen, dass zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein intensiver Wettbewerb der Großmächte um die Aneignung und alleinige Ausbeutung weniger entwickelter Gebiete stattfand. In seinen Schriften von 1916 betrachtete Lenin das Kolonialsystem als typische Erscheinungsform imperialistischer Herrschaft:
„Selbstbestimmung der Nationen heißt ihre politische Unabhängigkeit. Der Imperialismus hat die Tendenz, diese zu durchbrechen, da bei politischer Annexion die wirtschaftliche häufig leichter, billiger (es ist leichter, die Beamten zu bestechen, Konzessionen zu erhalten, vorteilhafte Gesetze durchzubringen u. ä.), bequemer, geruhsamer ist – genau so wie der Imperialismus die Tendenz hat, die Demokratie überhaupt durch die Oligarchie zu ersetzen.“
– W. I. Lenin, Über eine Karikatur auf den Marxismus und über den „imperialistischen“ Ökonomismus, a.a.O.
Lenin war sich sehr wohl bewusst, dass die imperialistische Herrschaft auch andere Formen annehmen konnte, wie er in demselben Text feststellte:
„…einerseits liefert uns der gegenwärtige imperialistische Krieg Beispiele dafür, wie es gelingt, kleine, politisch unabhängige Staaten in den Kampf zwischen den Großmächten hineinzuziehen, kraft finanzieller Bindungen und wirtschaftlicher Interessen (England und Portugal). Andererseits bewirkt die Verletzung der Demokratie kleinen Nationen gegenüber, die noch weit hilfloser (in wirtschaftlicher wie in politischer Hinsicht) ihren imperialistischen ‚Beschützern‘ gegenüberstehen, entweder Aufstände (Irland) oder den Übergang ganzer Regimenter auf die Seite des Feindes (Tschechen). Unter diesen Umständen ist es vom Standpunkt des Finanzkapitals für die Trusts, für ihre imperialistische Politik, für ihren imperialistischen Krieg, nicht nur ‚durchführbar‘, sondern manchmal direkt vorteilhaft, einzelnen kleinen Nationen möglichst weitgehende demokratische Freiheit zu geben, bis zur staatlichen Unabhängigkeit, um nicht die ‚eigenen‘ militärischen Operationen zu beeinträchtigen. Die Eigenart der politischen und strategischen Wechselbeziehungen vergessen und bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit immer wieder das eine auswendig gelernte Wörtchen ‚Imperialismus‘ wiederholen, ist beileibe kein Marxismus.“
– Ebenda
Nach dem Zweiten Weltkrieg bemühten sich die USA, ihre besiegten Rivalen, Westdeutschland und Japan, in die Institutionen der Weltwirtschaftsordnung unter der Pax Americana zu integrieren, während sie gleichzeitig die „Entkolonisierung“ des französischen und britischen Imperiums inszenierten, die dem US-Kapital die Tür zur Durchdringung der neu „unabhängigen“ ehemaligen Kolonien öffnete. Das zentrale Anliegen der US-Politiker zu dieser Zeit war es, die Sowjetunion zurückzudrängen oder zumindest „einzudämmen“ und der Ausbreitung des „Kommunismus“ über China, Nordvietnam, Nordkorea und Osteuropa hinaus entgegenzuwirken. Das „antikoloniale“ Auftreten der USA war zum Teil darauf ausgerichtet, weitere soziale Revolutionen zu verhindern. Ende der 1970er Jahre wurde die direkte koloniale Herrschaft (mit sehr wenigen Ausnahmen) beendet, während die wirtschaftliche Ausbeutung fortgesetzt und sogar noch intensiviert wurde. Vor dem Triumph der Konterrevolution im ehemaligen Sowjetblock in den Jahren 1989-91 gab es eine Art „Einheitsfront“ der größeren imperialistischen Mächte (Deutschland, Japan, Großbritannien, Frankreich, Kanada, Italien, Australien) unter Führung der USA. Das Ende des sowjetischen Gegengewichts zur globalen imperialistischen Vorherrschaft öffnete die Tür für den „Washington Consensus“, in dessen Rahmen die Märkte und Ressourcen der halbkolonialen Welt für eine ungehemmte Ausbeutung geöffnet wurden.
Lenins Tendenz, imperialistische Ausbeutung mit nackter Kolonialherrschaft zu assoziieren (was typisch für die Zeit war, in der er schrieb), hat einige zeitgenössische „Leninisten“ verwirrt, die immer noch dazu neigen, Konflikte um Territorien als Beweis für Imperialismus zu betrachten. Diese Verwirrung wird durch die oberflächlichen Ähnlichkeiten zwischen Russland, Brasilien usw. und den tatsächlichen imperialistischen Ländern noch vertieft; die große Mehrheit der Länder hat heutzutage sowohl Auslandsinvestitionen als auch inländische Monopole. Aber die Nettowertströme sind für die halbkolonialen Länder über einen längeren Zeitraum durchweg negativ, ungeachtet der relativ geringen Beteiligungen, die sie im Ausland besitzen mögen. Ebenso entstehen ihre „Monopole“ in der Regel als protektionistische Maßnahmen, um besser finanzierte und fortschrittlichere ausländische Wettbewerber abzuwehren. Diese Merkmale sind kein Beweis für tatsächlichen Imperialismus – dieser wird durch die Nettowertströme bestimmt, d. h. dadurch, ob ein bestimmtes Land ein Nettoausbeuter rückständigerer Länder ist oder selbst einer Nettoausbeutung durch das Ausland unterliegt.
Lenin erörterte, wie das Finanzkapital in der Lage war, Länder zu unterjochen, die formal unabhängig von den Kolonialherren waren:
„Neben den Kolonialbesitz der Großmächte haben wir die kleinen Kolonien der kleinen Staaten gesetzt, die gewissermaßen das nächste Objekt einer möglichen und wahrscheinlichen ‚Neuaufteilung‘ der Kolonien bilden. Diese kleinen Staaten behalten ihre Kolonien zumeist nur dank dem Umstand, daß unter den Großstaaten Interessengegensätze, Reibungen usw. bestehen, die sie hindern, sich über die Teilung der Beute zu verständigen. … Das Finanzkapital ist eine so gewaltige, man darf wohl sagen, entscheidende Macht in allen ökonomischen und in allen internationalen Beziehungen, daß es sich sogar Staaten unterwerfen kann und tatsächlich auch unterwirft, die volle politische Unabhängigkeit genießen.“
– Ders., Imperialismus – Das höchste Stadium des Kapitalismus, a.a.O.
Lenin betonte den grundlegenden Unterschied zwischen dem modernen Imperialismus des „Finanzkapitals“ und allen früheren Formen:
„Kolonialpolitik und Imperialismus hat es auch vor dem jüngsten Stadium des Kapitalismus und sogar vor dem Kapitalismus gegeben. Das auf Sklaverei beruhende Rom trieb Kolonialpolitik und war imperialistisch. Aber ‚allgemeine‘ Betrachtungen über den Imperialismus, die den radikalen Unterschied zwischen den ökonomischen Gesellschaftsformationen vergessen oder in den Hintergrund schieben, arten unvermeidlich in leere Banalitäten oder Flunkereien aus, wie etwa der Vergleich des ‚größeren Rom mit dem größeren Britannien‘. Selbst die kapitalistische Kolonialpolitik der früheren Stadien des Kapitalismus unterscheidet sich wesentlich von der Kolonialpolitik des Finanzkapitals.“
– Ebenda
Er fügte hinzu:
„Den zahlreichen ‚alten‘ Motiven der Kolonialpolitik fügte das Finanzkapital noch den Kampf um Rohstoffquellen hinzu, um Kapitalexport, um ‚Einflußsphären‘ d.h. um Sphären für gewinnbringende Geschäfte, Konzessionen, Monopolprofite usw. – und schließlich um das Wirtschaftsgebiet überhaupt.“
– Ebenda
Was den modernen Imperialismus von „selbst [der] kapitalistischen Kolonialpolitik früherer Stadien des Kapitalismus“ unterschied, war die erweiterte Fähigkeit, aus den Beziehungen eines Landes mit der Außenwelt sowie aus seiner wirtschaftlichen Tätigkeit im Inland einen Mehrwert zu ziehen. Portugal, damals eine Kolonialmacht mit imperialistischen Ambitionen, wurde von Lenin als „Handelskolonie Großbritanniens“ charakterisiert, d. h. als ein nicht-imperialistisches Land im Sinne des Finanzkapitals:
„1884 war Portugal die einzige europäische Macht mit Siedlungen in Zentralafrika und war das einzige Land, das umfangreiche Handelsbeziehungen mit afrikanischen Binnenstaaten unterhielt. Kein anderer Europäer hatte eine Präsenz, die an die der Portugiesen heranreichte. Portugals Gebietsansprüche waren daher viel stärker als die anderer Europäer. … Portugals Entschlossenheit, in Afrika auf der Ebene der Großmächte zu konkurrieren, hatte gemischte Folgen. 1892 konnte Portugal seine internationalen Schulden nicht begleichen und sah sich mit der Aussicht konfrontiert, sein Reich fast so schnell zu verlieren, wie es erworben worden war. Dass es dies nicht tat, war zum Teil das Ergebnis des Wohlstandsflusses aus dem Reich – Reexporte von Kolonialwaren, harter Währung, die durch die Häfen und Eisenbahnen verdient wurde, und Überweisungen der Wanderarbeiter, die die Rand-Minen am Laufen hielten.”
– Malyn Newitt, Portugal in European and World History, 2009 (eigene Übersetzung)
Trotz seiner Auslandsinvestitionen und seines Kolonialbesitzes betrachtete Lenin Portugal zu Recht als „Vasall“ des britischen Imperiums und nicht als eigenständige imperialistische Macht.
Lenin bezeichnete die Beteiligung Russlands am Ersten Weltkrieg als „imperialistisch“, obwohl er feststellte, dass sie „im großen und ganzen“ einen anderen, primitiveren Charakter hatte als die der fortgeschritteneren kapitalistischen Staaten:
„In Rußland fand der kapitalistische Imperialismus moderner Prägung seinen klaren Ausdruck in der Politik des Zarismus gegenüber Persien, der Mandschurei und der Mongolei, aber im großen und ganzen überwiegt in Rußland der militärische und feudale Imperialismus. Nirgends in der Welt gibt es eine solche Unterdrückung der Mehrheit der Landesbevölkerung wie in Rußland: Die Großrussen machen nur 43 Prozent der Bevölkerung aus, d.h. weniger als die Hälfte, alle anderen aber sind als ‚Fremdstämmige‘ entrechtet. Von den 170 Millionen Einwohnern Rußlands sind rund 100 Millionen unterdrückt und entrechtet. Der Zarismus führt den Krieg, um Galizien zu erobern und die Freiheit der Ukrainer endgültig zu erwürgen, um Armenien, Konstantinopel usw. zu erobern. Der Zarismus sieht im Krieg ein Mittel, die Aufmerksamkeit von der wachsenden Unzufriedenheit im Innern des Landes abzulenken und die anschwellende revolutionäre Bewegung zu unterdrücken. Gegenwärtig entfallen im Russischen Reich auf zwei Großrussen zwei bis drei rechtlose ‚Fremdstämmige‘; mittels des Krieges sucht der Zarismus die Anzahl der von Rußland unterdrückten Nationen zu erhöhen, ihn Unterdrückung zu verstärken und so auch den Freiheitskampf der Großrussen selbst zu lähmen. Die Möglichkeit, fremde Völker zu unterdrücken und auszuplündern, verstärkt den ökonomischen Stillstand, denn als Profitquelle dient statt der Entwicklung der Produktivkräfte nicht selten die halbfeudale Ausbeutung der ‚Fremdstämmigen‘. Auf seiten Rußlands trägt der Krieg also einen ausgesprochen reaktionären und freiheitsfeindlichen Charakter.“
– W. I. Lenin, Sozialismus und Krieg, Juli – August 1915
Damit wurde der etwas widersprüchliche Status Russlands als imperialistische Macht zu jener Zeit erfasst – nur in „Persien, der Mandschurei und der Mongolei“ betrieb die russische Bourgeoisie einen „Imperialismus moderner Prägung“, während „im großen und ganzen der militärische und feudale Imperialismus [überwiegt]“.
Die russische Bourgeoisie gründete ihre Niederlassungen in den weniger entwickelten Ländern im „angrenzenden Ausland“ nicht aufgrund eines übermäßig konzentrierten Inlandsmarkts, sondern aufgrund autokratischer Beschränkungen der inländischen Kapitalakkumulation. In einem im März 1917 veröffentlichten Artikel stellte Trotzki fest, dass die russische Bourgeoisie 1905 auf die Verabschiedung einer Reihe von Reformen gehofft hatte, um eine „normalere“ Form der kapitalistischen Entwicklung zu ermöglichen:
„1905 bezeichnete Miljukow, der heutige kämpferische Außenminister, den russisch-japanischen Krieg als Abenteuer und forderte dessen sofortige Beendigung. Dies war auch der Geist der liberalen und radikalen Presse. Die stärksten Industrieverbände sprachen sich trotz der beispiellosen Katastrophen für einen sofortigen Frieden aus. Warum war das so? Weil sie innere Reformen erwarteten. Die Einführung eines Verfassungssystems, eine parlamentarische Kontrolle über den Haushalt und die Staatsfinanzen, ein besseres Schulsystem und vor allem eine Vergrößerung des Landbesitzes der Bauern würden, so hofften sie, den Wohlstand der Bevölkerung erhöhen und einen großen Binnenmarkt für die russische Industrie schaffen.“
– Leo Trotzki, Krieg oder Frieden, 30. März 1917 (eigene Übersetzung aus dem Englischen)
Die Reformen kamen nicht zustande, und die russische Bourgeoisie, die nun durch die Bedrohung durch den stürmischen Volksaufstand von unten verängstigt war, fand sich mit dem autokratischen Status quo ab:
„Die Bauernaufstände, der immer stärker werdende Kampf des Proletariats und die Ausbreitung von Aufständen in der Armee führten dazu, dass die liberale Bourgeoisie in das Lager der zaristischen Bürokratie und des reaktionären Adels zurückfiel. Ihr Bündnis wurde durch den Staatsstreich vom 3. Juni 1907 besiegelt. Aus diesem Staatsstreich gingen die Dritte und Vierte Duma hervor. Die Bauern erhielten kein Land. Das Verwaltungssystem änderte sich nur dem Namen nach, nicht aber in der Substanz. Die Entwicklung eines Binnenmarktes, der aus wohlhabenden Bauern nach amerikanischem Vorbild bestand, fand nicht statt. Die kapitalistischen Klassen, die sich mit dem Regime des 3. Juni abgefunden hatten, richteten ihre Aufmerksamkeit auf die Usurpation ausländischer Märkte.“
– Ebenda
Lenin stellte fest, dass in einigen Gebieten, die Russland zwangsweise eingegliedert wurden, „die Entwicklung des Kapitalismus und das allgemeine kulturelle Niveau häufig in den ‚fremdstämmigen‘ Grenzgebieten auf höherer Stufe stehen als im Zentrum des Reiches.“ (Über das Recht der Nationen auf Selbstbestimmung, Februar 1914). Wie Lenin in seiner Polemik gegen seinen bolschewistischen Mitstreiter Georgi Pjatakow erläuterte, diente das Eintreten für das „Selbstbestimmungsrecht“ der unterworfenen Völker des zaristischen „Gefängnisses“ nicht dazu, die imperialistische Ausbeutung durch das Monopolkapital zu bekämpfen, sondern einfach dazu, demokratische Rechte zu unterstützen:
„Man kann durch keinerlei politische Maßnahmen die Ökonomik verbieten. Keine politische Form Polens – ob es nun ein Bestandteil des zaristischen Russlands oder Deutschlands, oder ein autonomes Gebiet, oder ein politisch unabhängiger Staat sein wird – kann seine Abhängigkeit vom Finanzkapital der imperialistischen Mächte und den Aufkauf der Aktien seiner Unternehmungen durch dieses Kapital verbieten oder aufheben.
Die Unabhängigkeit Norwegens, die im Jahre 1905 ‚verwirklicht‘ wurde, ist nur politischer Natur. Die ökonomische Abhängigkeit sollte und konnte dadurch nicht berührt werden. Gerade das behandeln unsere Thesen. Wir haben gerade darauf hingewiesen, dass die Selbstbestimmung sich nur auf die Politik bezieht und dass es infolgedessen falsch ist, die Frage der ökonomischen Unmöglichkeit ihrer Verwirklichung auch nur zu stellen.“
– W. I. Lenin, Über eine Karikatur auf den Marxismus und über den „imperialistischen“ Ökonomismus, a.a.O.
Russlands „überwiegend militärischer und feudaler Imperialismus“ erlaubte ihm die Überausbeutung rückständigerer Regionen wie Turkestan, aber die Gesamtheit seiner wirtschaftlichen Beziehungen führte zu einem Netto-Werttransfer nach außen an das „anglo-französische imperialistische Kapital“. Im September 1914 bezeichnete Lenin den Zarismus im Wesentlichen als einen Handlanger des britischen und französischen Imperialismus:
„An der Spitze der anderen Gruppe der kriegführenden Nationen steht die englische und französische Bourgeoisie, die die Arbeiterklasse und die werktätigen Massen betrügt, indem sie behauptet, sie führe Krieg, um die Heimat, die Freiheit und die Kultur gegen den deutschen Militarismus und Despotismus zu verteidigen. In Wirklichkeit aber hat diese Bourgeoisie für ihre Milliarden schon seit langem die Truppen des russischen Zarismus, der reaktionärsten und barbarischsten Monarchie Europas, zum Überfall auf Deutschland gedungen und bereitgestellt.“
– Ders., Der Krieg und die russische Sozialdemokratie, 28. September 1914, LW-Band 21
Nach dem Sturz des Zaren im Februar 1917 waren die Kriegsanstrengungen der Kerenski-Regierung im Wesentlichen die eines untergeordneten Partners des französischen und britischen Imperialismus:
„In der Außenpolitik, die infolge der objektiven Bedingungen jetzt im Vordergrund steht, ist die neue Regierung eine Regierung der Fortsetzung des imperialistischen Krieges, eines Krieges im Bündnis mit den imperialistischen Mächten, mit England, Frankreich usw., eines Krieges um die Teilung der kapitalistischen Beute, um die Erdrosselung der kleinen und schwachen Völker.
Den Interessen des russischen Kapitals und seines mächtigen Gönners und Gebieters, des englisch-französischen imperialistischen Kapitals, des reichsten in der ganzen Welt, untergeordnet, hat die neue Regierung entgegen den vom Sowjet der Soldaten- und Arbeiterdeputierten im Namen der unzweifelhaften Mehrheit der Völker Rußlands in der entschiedensten Weise ausgesprochenen Wünschen keine realen Schritte unternommen, um dem Völkergemetzel, das um der Interessen der Kapitalisten willen veranstaltet wurde, ein Ende zu bereiten. Sie hat nicht einmal jene geheimen, ausgesprochen auf Raub abzielenden Verträge (über die Aufteilung Persiens, über die Ausplünderung Chinas, über die Ausplünderung der Türkei, über die Aufteilung Österreichs, über die Annexion Ostpreußens, über die Annexion der deutschen Kolonien usw.) veröffentlicht, die, wie jeder weiß, Rußland an das englisch-französische imperialistische Raubkapital ketten. Sie hat diese Verträge bestätigt! die vom Zarismus geschlossen wurden – vom Zarismus, der im Laufe der Jahrhunderte mehr Völker ausgeraubt und unterdrückt hat als die anderen Tyrannen und Despoten, der das großrussische Volk nicht nur unterdrückte, sondern auch mit Schmach bedeckte und korrumpierte, indem er es zum Henker anderer Völker machte.“
– Ders., Die Aufgaben des Proletariats in unserer Revolution, April 1917
Lenin geißelte Kerenski und seine „sozialistischen“ Unterstützer für ihre sklavische Unterordnung unter den britischen und französischen Imperialismus:
„Unsere Menschewiki und Sozialrevolutionäre, die sich gegen dieses Programm wenden, die den Bruch mit ‚England und Frankreich‘ fürchten, führen damit faktisch ein kapitalistisches Programm in der Außenpolitik durch, das sie zu bemänteln suchen, indem sie es mit den Blüten einer naiven Redefertigkeit ausschmücken, wie: ‚Revision der Verträge‘, Erklärungen zugunsten eines ‚Friedens ohne Annexionen‘ usw. Alle diese frommen Wünsche sind dazu verurteilt, ein Nichts zu bleiben, denn die kapitalistische Wirklichkeit läßt keine Ausflüchte zu: entweder Unterordnung unter die Imperialisten einer der Gruppen oder revolutionärer Kampf gegen jeglichen Imperialismus. …
Das ‚Bündnis‘ mit den Imperialisten, das heißt schändliche Abhängigkeit von ihnen, das ist die Außenpolitik der Kapitalisten und der Kleinbürger. Das Bündnis mit den Revolutionären der fortgeschrittenen Länder und mit allen unterdrückten Völkern gegen alle Imperialisten, welcher Art auch immer, das ist die Außenpolitik des Proletariats.“
– Ders., Die Außenpolitik der russischen Revolution, 27. Juni 1917, LW-Band 25
Lenin wies darauf hin, dass die britischen Imperialisten der Provisorischen Regierung damit drohten, die Erlaubnis zur Beschlagnahme der dem Zaren versprochenen Gebiete zurückzuziehen, wenn sie nicht weiterkämpfen würde:
„England wird in keinem Falle auf den Raub (Annexion) Palästinas und Mesopotamiens verzichten, aber es ist bereit, die Russen zu bestrafen (für den ‚faktischen Waffenstillstand‘ an der deutsch-russischen Front) durch den Verlust Galiziens, Konstantinopels, Armeniens usw. …“
– Ders., Die Geheimnisse der Außenpolitik, 23. Mai 1917
Trotzkis rückblickende Beschreibung der Rolle Russlands im Ersten Weltkrieg entsprach weitgehend den zeitgenössischen Beobachtungen Lenins:
„Die Beteiligung Rußlands am Kriege war den Motiven und Zielen nach widerspruchsvoll. Der blutige Kampf ging im wesentlichen um die Weltherrschaft. In diesem Sinne überstieg er Rußlands Kraft. Rußlands sogenannte Kriegsziele (die türkischen Meerengen, Galizien, Armenien) hatten provinziellen Charakter und konnten nur nebenbei gelöst werden, je nachdem sie mit den Interessen der entscheidenden Kriegsteilnehmer im Einklang standen. Gleichzeitig aber konnte Rußland als Großmacht der Rauferei der fortgeschrittenen kapitalistischen Länder nicht fernbleiben, wie es sich in der vorangegangenen Epoche auch der Einführung von Fabriken, Eisenbahnen, Schnellfeuergeschützen und Flugzeugen nicht hatte verschließen können. Der unter den russischen Historikern der neuesten Schule nicht seltene Streit, in welchem Maße das zaristische Rußland für die moderne imperialistische Politik reif gewesen wäre, verfällt häufig in Scholastik, denn sie betrachten Rußland in der Weltarena isoliert, als selbständigen Faktor. Indes war es nur das Glied eines Systems.“
– Leo Trotzki, Geschichte der russischen Revolution, 1929
Der überwiegend „militärische und feudal-imperialistische“ Charakter des zaristischen Russlands diktierte ihm die Rolle des Juniorpartners der Finanzkapitalisten der fortgeschritteneren Länder:
„Indien beteiligte sich am Kriege dem Wesen und der Form nach als Kolonie Englands. Die Einmischung Chinas, formell eine ‚freiwillige‘, war tatsächlich die Einmischung eines Sklaven in die Balgerei der Herren. Die Beteiligung Rußlands lag irgendwo in der Mitte zwischen der Beteiligung Frankreichs und der Chinas. Rußland bezahlte damit das Recht, mit fortgeschrittenen Ländern im Bunde zu sein, Kapital einzuführen und Prozente dafür zu zahlen, das heißt im wesentlichen das Recht, eine privilegierte Kolonie seiner Verbündeten zu sein; aber gleichzeitig auch das Recht, die Türkei, Persien, Galizien, überhaupt alle Länder, die schwächer und rückständiger waren als es selbst, zu knebeln und zu plündern. Der zwiespältige Imperialismus der russischen Bourgeoisie trug in seinem Kern den Charakter einer Agentur anderer, gewaltigerer Weltmächte.“
– Ebenda
Lenin betrachtete den zeitgenössischen „Imperialismus“ als das letzte, monopolistische Stadium der kapitalistischen Entwicklung. Bei der Beschreibung des „Imperialismus“ im zaristischen Russland stellte er fest, dass dieser größtenteils die überholte Form des „militärischen und feudalen Imperialismus“ annahm.
Die populäre Vorstellung von Imperialismus als der Beherrschung kleiner Länder durch größere, in der Regel mit militärischen Mitteln, veranlasste verschiedene anarchistische, pseudo-trotzkistische und maoistische Strömungen, die UdSSR als „imperialistisch“ oder „sozialimperialistisch“ zu bezeichnen. Als die sowjetische Armee 1939 in Übereinstimmung mit den Bedingungen des Hitler-Stalin-Pakts Ostpolen besetzte, erklärte eine abtrünnige Fraktion der trotzkistischen Vierten Internationale unter der Führung von Max Shachtman und James Burnham dies zu einer Form des sowjetischen „Imperialismus“ und gab bald darauf die Verteidigung der UdSSR gegen einen kapitalistischen Angriff auf. Trotzki antwortete darauf:
„Kann man die gegenwärtige Expansion des Kremls Imperialismus nennen? Zuerst müssen wir feststellen, welchen sozialen Inhalt dieser Ausdruck enthält. Die Geschichte kennt den ‚Imperialismus‘ des römischen Staates, der auf Sklavenarbeit gegründet war, den Imperialismus des feudalen Grundbesitzes, den Imperialismus des Handels- und Industriekapitals, den Imperialismus der zaristischen Monarchie usw. Die treibende Kraft hinter der Moskauer Bürokratie ist zweifellos die Neigung, ihre Macht, ihr Ansehen und ihre Einkünfte auszudehnen. Das ist der Bestandteil des ‚Imperialismus‘ im weitesten Sinne des Wortes, den in der Vergangenheit alle Monarchien Oligarchien, herrschenden Kasten, mittelalterlichen Stände und Klassen besaßen. Jedoch versteht man in der zeitgenössischen Literatur, zumindest in der marxistischen Literatur, unter Imperialismus die expansionistische Politik des Finanzkapitals, die einen sehr scharf abgegrenzten wirtschaftlichen Inhalt hat. Den Begriff ‚Imperialismus‘ auf die Außenpolitik des Kremls anzuwenden – ohne zu erklären, was er genau bedeutet –, heißt einfach, die Politik der bonapartistischen Bürokratie mit der Politik des Monopolkapitalismus auf der Grundlage gleichzusetzen, daß beide ohne Unterschied militärische Gewalt zur Expansion benutzen. Solch eine Gleichsetzung, die nur Verwirrung wecken kann, schickt sich eher für kleinbürgerliche Demokraten als für Marxisten.“
– Leo Trotzki, Wieder und immer wieder über den Charakter der UdSSR, Oktober 1939, in: Verteidigung des Marxismus, 1939-40
Lenin über zwischen-imperialistische Konflikte
In den letzten Jahrzehnten hat sich die industrielle Arbeiterklasse in vielen abhängigen kapitalistischen Ländern enorm ausgeweitet. Diese Entwicklung steht in drastischem Widerspruch zu Rosa Luxemburgs Spekulation, dass die Bourgeoisie der fortgeschrittenen Länder aufgrund einer absoluten Grenze für die kapitalistische Reproduktion im Inland gezwungen war, in nicht-kapitalistische Gebiete zu expandieren – ein Prozess, der sich nur verlangsamen konnte, da immer mehr Regionen in den internationalen Markt integriert wurden. Luxemburg prognostizierte, dass, sobald der Kapitalismus den Planeten beherrsche, die gesamte bürgerliche Ordnung in den endgültigen Niedergang eintreten werde:
„Der Kapitalismus ist die erste Wirtschaftsform mit propagandistischer Kraft, eine Form, die die Tendenz hat, sich im Erdrund auszubreiten und alle anderen Wirtschaftsformen zu verdrängen, die keine anderen neben sich duldet. Es ist aber zugleich die erste, die allein, ohne andere Wirtschaftsformen als ihr Milieu und ihren Nährboden, nicht zu existieren vermag, die also gleichzeitig mit der Tendenz, zur Weltform zu werden, an der inneren Unfähigkeit zerschellt, eine Weltform der Produktion zu sein.“
– Rosa Luxemburg, Die Akkumulation des Kapitals, 1913, Gesammelte Werke Band 5
Luxemburgs Theorie ging von einem automatischen Zusammenbruch des Kapitalismus aus, obwohl sie sich für politische Aktivitäten der Arbeiterklasse als Reaktion auf die Kriege und Wirtschaftskrisen aussprach, die durch die Todesspirale des Kapitalismus hervorgerufen wurden. Lenin, der ihre Analyse scharf kritisierte, kommentierte dies in einem Brief an Lew Kamenew:
„Ich habe Rosas neues Buch ‚Die Akkumulation des Kapitals‘ gelesen. Schauderhaft falsche Auffassungen! Sie hat Marx entstellt.“
– W. I. Lenin, An die Redaktion des „Sozial-Demokrat“, 29. März 1913, LW-Band 35
Lenin vertrat die Ansicht, dass die kapitalistische Herrschaft nur durch die revolutionäre Übernahme der Macht durch die Arbeiterklasse beendet werden könne. Er vertrat die Auffassung, dass die zunehmende Zentralisierung der kapitalistischen Wirtschaft mit riesigen Konzernen, die die Produktion in großem Umfang planen, den Boden für die künftige sozialistische Neuorganisation der Weltwirtschaft bereitet:
„Wenn aus einem Großbetrieb ein Mammutbetrieb wird, der planmäßig, auf Grund genau errechneter Massendaten, die Lieferung des ursprünglichen Rohmaterials im Umfang von zwei Dritteln oder drei Vierteln des gesamten Bedarfs für Dutzende von Millionen der Bevölkerung organisiert; wenn die Beförderung dieses Rohstoffs nach den geeignetsten Produktionsstätten, die mitunter Hunderte und Tausende Meilen voneinander entfernt sind, systematisch organisiert wird; wenn von einer Zentralstelle aus alle aufeinanderfolgenden Stadien der Verarbeitung des Materials bis zur Herstellung der verschiedenartigsten Fertigprodukte geregelt werden; wenn die Verteilung dieser Produkte auf Dutzende und Hunderte von Millionen Konsumenten nach einem einzigen Plan geschieht (Petroleumabsatz in Amerika wie in Deutschland durch den amerikanischen Petroleumtrust) – dann wird es offensichtlich, daß wir es mit einer Vergesellschaftung der Produktion zu tun haben und durchaus nicht mit einer bloßen ‚Verflechtung‘; daß privatwirtschaftliche und Privateigentumsverhältnisse eine Hülle darstellen, die dem Inhalt bereits nicht mehr entspricht und die daher unvermeidlich in Fäulnis übergehen muß, wenn ihre Beseitigung künstlich verzögert wird, eine Hülle, die sich zwar verhältnismäßig lange in diesem Fäulniszustand halten kann (wenn schlimmstenfalls die Gesundung von dem opportunistischen Geschwür auf sich warten lassen sollte), die aber dennoch unvermeidlich beseitigt werden wird.“
– Ders., Imperialismus – Das höchste Stadium des Kapitalismus, a.a.O.
Im Gegensatz zu Luxemburg bestand Lenin darauf, dass der Kapitalismus nicht automatisch zusammenbrechen würde – nur die bewusste revolutionäre Intervention des Proletariats könne die Schrecken der Ausbeutung und des zwischen-imperialistischen Krieges beenden. Er zitierte die Beobachtungen von Rudolph Hilferding, einem linken SPD-Intellektuellen, wie der Kapitalexport aus den entwickelteren kapitalistischen Ländern letztlich das Leben in jeder Region der Welt verändern würde:
„Mit Recht hebt Hilferding den Zusammenhang des Imperialismus mit der Verschärfung der nationalen Unterdrückung hervor. ‚In den neu erschlossenen Ländern selbst aber‘, schreibt er, ‚steigert der importierte Kapitalismus die Gegensätze und erregt den immer wachsenden Widerstand der zu nationalem Bewußtsein erwachenden Völker gegen die Eindringlinge, der sich leicht zu gefährlichen Maßnahmen gegen das Fremdkapital steigern kann. Die alten sozialen Verhältnisse werden völlig revolutioniert, die agrarische, tausendjährige Gebundenheit der „geschichtslosen Nationen“ gesprengt, diese selbst in den kapitalistischen Strudel hineingezogen. Der Kapitalismus selbst gibt den Unterworfenen allmählich die Mittel und Wege zu ihrer Befreiung. Das Ziel, das einst das höchste der europäischen Nationen war, die Herstellung des nationalen Einheitsstaates als Mittel der ökonomischen und kulturellen Freiheit, wird auch zu dem ihren. Diese Unabhängigkeitsbewegung bedroht das europäische Kapital gerade in seinen wertvollsten und aussichtsreichsten Ausbeutungsgebieten, und immer mehr kann es seine Herrschaft nur durch stete Vermehrung seiner Machtmittel erhalten.‘“
– Ebenda
In den letzten Jahrzehnten kam es in weiten Teilen der halbkolonialen Welt zu einer enormen Ausweitung der Produktion. In den späten 1980er und frühen `90er Jahren wuchsen die asiatischen „Tigerstaaten“ rasant, ebenso wie Irland, der „keltische Tiger“, und in jüngster Zeit wird der Aufstieg der BRICS-Staaten von vielen als eine ernsthafte wirtschaftliche Herausforderung für die imperialistische Hegemonie angesehen. Bis heute ist die einzige ernsthafte Herausforderung für den wirtschaftlichen Würgegriff der US-geführten imperialistischen Ordnung China, dessen spektakuläre wirtschaftliche Entwicklung erst durch die soziale Revolution von 1949 möglich wurde, die die imperialistischen Räuber vertrieb und die kapitalistische Herrschaft beseitigte.
Die Industrialisierung vieler abhängiger kapitalistischer Länder in den letzten Jahrzehnten hat viele Linke verwirrt, einschließlich der Anhänger der ehemals mit Moskau verbündeten stalinistischen Parteien. Die Kommunistische Partei Griechenlands (KKE) hat sich eine „Pyramidentheorie“ zu eigen gemacht, die im Wesentlichen eine Abwandlung der Behauptung der „Linkskommunisten“ der 1920er Jahren ist, dass alle kapitalistischen Staaten imperialistisch seien. Lenin übte scharfe Kritik an solchen Auffassungen und betonte, wie wichtig es ist, zwischen fortgeschrittenen und rückständigen Ländern zu unterscheiden:
„Die Resolutionen unserer Partei sprechen von diesem Krieg als einem aus den allgemeinen Bedingungen der imperialistischen Epoche heraus entstandenen. Der Zusammenhang zwischen der ‚Epoche‘ und ‚diesem Krieg‘ ist bei uns marxistisch richtig gestellt: wenn man Marxist sein will, muss man jeden einzelnen Krieg konkret betrachten. … Es fragt sich: geht aus dem Umstand, dass der fortgeschrittene europäische (und amerikanische) Kapitalismus in die neue Epoche des Imperialismus getreten ist, hervor, dass jetzt nur mehr imperialistische Kriege möglich sind? Das wäre eine läppische Behauptung, wäre Unfähigkeit, die gegebene konkrete Erscheinung von der Summe der verschiedenartigen Erscheinungen der Epoche zu unterscheiden. Eine Epoche heißt deshalb Epoche, weil sie eine Summe verschiedenartiger Erscheinungen und Kriege umfasst – typische und nicht typische, große und kleine, den fortgeschrittenen und den rückständigen Ländern eigene. Diese konkreten Fragen mit allgemeinen Redensarten über die ‚Epoche‘ abzutun, wie das P. Kijewski macht, heißt mit dem Begriff der ‚Epoche‘ Schindluder treiben.“
– Ders., Über eine Karikatur auf den Marxismus und über den „imperialistischen“ Ökonomismus, a.a.O.
Während des Ersten Weltkriegs stellte Lenin die fortgeschrittenen „unterdrückenden“ Länder, die sich durch ihre Teilnahme am kapitalistischen Weltmarkt bereicherten, den „unterdrückten“ Nationen gegenüber, denen sie Reichtum entzogen:
„Der Imperialismus ist die fortschreitende Unterdrückung der Nationen der Welt durch eine Handvoll Großmächte. Er ist die Epoche der Kriege zwischen ihnen um die Erweiterung und Festigung der nationalen Unterdrückung. Er ist die Epoche des Betrugs der Volksmassen durch die heuchlerischen Sozialpatrioten, d. h. durch die Leute, die unter dem Vorwände der ‚Freiheit der Nationen‘, des ‚Selbstbestimmungsrechts der Nationen‘, der ‚Vaterlandsverteidigung‘ die Unterdrückung der Mehrheit der Nationen der Welt durch die Großmächte rechtfertigen und verteidigen.
Eben deshalb muss die Einteilung der Nationen in unterdrückende und unterdrückte den Zentralpunkt in den sozialdemokratischen Programmen bilden, da diese Einteilung das Wesen des Imperialismus ausmacht und von den Sozialpatrioten, Kautsky einbegriffen, verlogenerweise umgangen wird.“
– Ders., Das revolutionäre Proletariat und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen, 16. Oktober 1915
Die Unterscheidung zwischen imperialistischen und nicht-imperialistischen Ländern bedeutet nicht, dass alle Mitglieder der beiden Kategorien gleich stark sind. In Imperialismus – Das höchste Stadium des Kapitalismus stellte Lenin fest, dass die relative Wirtschaftskraft der verschiedenen Imperialisten stark schwankte:
„Bekanntlich haben die Kartelle zu Schutzzöllen neuer, origineller Art geführt: es werden gerade diejenigen Produkte geschützt (das hat bereits Engel in dritten Band des Kapitals vermerkt), die exportfähig sind. Bekannt ist ferner das den Kartellen und dem Finanzkapital eigene System der ‚Ausfuhr zu Schleuderpreisen‘, des ‚Dumping‘, wie die Engländer sagen: Im Inland verkauft das Kartell seine Erzeugnisse zu monopolistischen Höchstpreisen, im Ausland aber setzt es sie zu Schleuderpreisen ab, um die Konkurrenz zu untergraben, die eigene Produktion zu steigern usw. Wenn Deutschlands Handel mit den englischen Kolonien sich schneller entwickelt als der Englands, so beweist das lediglich, daß der deutsche Imperialismus frischer, kräftiger, organisierter ist und höher steht als der englische, es beweist aber keineswegs die ‚Überlegenheit‘ des freien Handels, denn hier kämpft nicht Freihandel gegen Schutzzollsystem und koloniale Abhängigkeit, sondern Imperialismus gegen Imperialismus, Monopol gegen Monopol, Finanzkapital gegen Finanzkapital. Die Überlegenheit des deutschen Imperialismus über den englischen ist stärker als die Mauer der Kolonialgrenzen oder der Schutzzölle…“
Lenin sah in der raschen wirtschaftlichen Entwicklung Deutschlands im Vergleich zu Frankreich und Großbritannien einen Schlüsselfaktor für die Auslösung des zwischenimperialistischen Krieges. Deutschland stieg verspätet in das „Spiel“ der kolonialen Eroberung ein und hatte keinen Zugang zu den Märkten und Ressourcen der Kolonien seiner Rivalen. Lenin wies die Behauptungen der Imperialisten auf beiden Seiten zurück, dass sie den Ersten Weltkrieg zur Verteidigung von Freiheit, Demokratie und ihrer nationalen Heimat führten:
„Kurz: ein Krieg zwischen imperialistischen (d. h. eine ganze Reihe fremder Völker unterdrückenden und sie in das Netz der Abhängigkeit vom Finanzkapital verstrickenden usw.) Großmächten oder im Bunde mit ihnen ist ein imperialistischer Krieg. Ein solcher Krieg ist der Krieg von 1914-1916. ‚Vaterlandsverteidigung‘ ist Betrug in diesem Krieg, ist dessen Rechtfertigung.“
– Ders., Über eine Karikatur auf den Marxismus und über den „imperialistischen“ Ökonomismus, a.a.O.
Die treffende Formel des deutschen Revolutionärs Karl Liebknecht, dass für die Arbeiter auf beiden Seiten „der Hauptfeind im eigenen Land steht“, deckte sich mit Lenins Ansatz:
„Die Umwandlung des gegenwärtigen imperialistischen Krieges in den Bürgerkrieg ist die einzig richtige proletarische Losung. Das zeigt die Erfahrung der Kommune, das ist im Basler Manifest (1912) vorgesehen, und das ergibt sich aus den ganzen Bedingungen des imperialistischen Krieges zwischen hochentwickelten bürgerlichen Ländern. Wie groß die Schwierigkeiten dieser Umwandlung zur gegebenen Zeit auch sein mögen – die Sozialisten werden niemals ablehnen, die Vorarbeiten in der bezeichneten Richtung systematisch, unbeugsam und energisch auszuführen, da der Krieg zur Tatsache geworden ist. Nur so wird das Proletariat imstande sein, sich aus seiner Abhängigkeit von der chauvinistischen Bourgeoisie frei zu machen und in der einen oder anderen Form, mehr oder minder rasch, entschlossene Schritte auf dem Wege zur wirklichen Freiheit der Völker und auf dem Wege zum Sozialismus zu tun.“
– Ders., Der Krieg und die russische Sozialdemokratie, 28. September 1914, LW-Band 21
Formen imperialistischer Herrschaft über abhängige kapitalistische Länder
Nicht alle Kriege sind zwischen-imperialistische Kriege – auch nicht in der „imperialistischen Ära“. Für Lenin war die Frage, ob die Teilnehmer an einem bestimmten Konflikt imperialistisch sind oder nicht, entscheidend für die Bestimmung der Haltung von Revolutionären. Er kritisierte die polnischen Marxisten, die die Unabhängigkeitskämpfe der Kolonialvölker unterstützten, aber gleichgültig gegenüber der Misere der wirtschaftlich besser entwickelten unterdrückten Nationen (einschließlich Polens) waren:
„Die polnischen Genossen haben … versucht einen Unterschied zwischen ‚Europa‘ und den Kolonien zu konstruieren. Nur in bezug auf Europa werden sie zu inkonsequenten Annexionisten und weigern sich, die Annexionen, die bereits erfolgt sind, rückgängig zu machen. Für die Kolonien dagegen proklamieren sie die unbedingte Forderung: ‚Fort aus den Kolonien‘!
Die russischen Sozialisten sollen fordern: ‚Fort aus Turkestan, aus Chiwa, aus Buchara usw.‘, aber angeblich würden sie in ‚Utopismus‘, in ‚unwissenschaftliche‘ ‚Sentimentalität‘ usw. verfallen, wenn sie dieselbe Freiheit der Lostrennung für Polen, Finnland, die Ukraine usw. forderten. …
Aber revolutionäre Bewegungen aller Art darunter auch nationale sind unter europäischen Verhältnissen eher möglich, eher zu verwirklichen, hartnäckiger, zielbewußter und schwerer zu besiegen als in den Kolonien.“
– Ders., Die Ergebnisse der Diskussion über die Selbstbestimmung, Juni 1916
Lenin war sich sehr wohl bewusst, dass das Niveau der wirtschaftlichen Entwicklung in den nicht-imperialistischen Ländern sehr unterschiedlich war:
„In Europa sind die abhängigen Nationen meistenteils kapitalistisch entwickelter (wenn auch nicht alle: die Albanesen, viele nationale Minderheiten Rußlands) als in den Kolonien. Aber gerade das ruft einen stärkeren Widerstand gegen die nationale Unterdrückung und die Annexionen hervor! Gerade darum ist die Entwicklung des Kapitalismus in Europa unter allen politischen Verhältnissen, auch im Falle einer Lostrennung, gesicherter als in den Kolonien. ‚… dort‘, sagen die polnischen Genossen von den Kolonien (I, 4), ‚ist noch die dem Kapitalismus bevorstehende Aufgabe der Entwicklung der Produktivkräfte selbständig zu erfüllen …‘ In Europa ist das noch sichtbarer: in Polen, in Finnland, in der Ukraine und im Elsaß entwickelt der Kapitalismus die Produktivkräfte zweifellos rascher, stärker und selbständiger als in Indien, in Turkestan, in Ägypten und den anderen Kolonien von reinem Typus. In der Gesellschaft der Warenproduktion ist weder eine selbständige noch überhaupt irgendeine Entwicklung ohne Kapital möglich. In Europa haben die abhängigen Nationen sowohl eigenes Kapital als auch die Möglichkeit, sich leicht Kapital zu den verschiedenartigsten Bedingungen zu beschaffen. Die Kolonien haben kein oder fast kein eigenes Kapital, und anders als auf dem Wege der politischen Unterwerfung können sie sich unter den Verhältnissen des Finanzkapitals kein Kapital beschaffen.“
– Ebenda
Lenin vertrat die Auffassung, dass weder formale politische Unabhängigkeit noch der Stand der wirtschaftlichen Entwicklung die Verantwortung der Revolutionäre für die Verteidigung der abhängigen kapitalistischen Länder (d. h. der Länder mit Nettowertabflüssen in ihren Außenwirtschaftsbeziehungen) gegen imperialistische Räuber beeinflussten.
In ihrem Bestreben, ihre Märkte zu erweitern, wenden die imperialistischen Länder alle möglichen Druckmittel auf nicht-imperialistische Länder an, darunter auch weniger zwingende Mittel wie die Bestechung von Beamten und den Kauf von Wahlen, wie Lenin gegenüber Pjatakow betonte:
„Wenn für den ‚Reichtum‘ überhaupt die Herrschaft über jede beliebige demokratische Republik durch Bestechung und Börse verwirklichbar ist, wie kann dann P. Kijewski, ohne in eine amüsante ‚logische Antinomie‘ zu verfallen, behaupten, dass der gigantische Reichtum der Trusts und Banken, die über Milliarden verfügen, nicht die Herrschaft des Finanzkapitals über eine fremde, d. h. politisch unabhängige Republik ‚verwirklichen‘ kann?
Wie? Ist etwa die Bestechung von Beamten in einem fremden Staate ‚nicht zu verwirklichen‘?“
– Ders., Über eine Karikatur auf den Marxismus und über den „imperialistischen“ Ökonomismus, a.a.O.
Im letzten Vierteljahrhundert haben die USA und ihre Verbündeten eine Reihe von Kriegen gegen halbkoloniale Länder geführt, in denen Millionen von Menschen getötet wurden. Diese kostspieligen Interventionen hatten auch den Tod von Tausenden ihrer eigenen Soldaten zur Folge, was die Unterstützung der Bevölkerung für künftige militärische Abenteuer dämpfte. Als Alternative zu stumpfer militärischer Gewalt haben die Imperialisten in verschiedenen abhängigen kapitalistischen Ländern eine Reihe von „Farbrevolutionen“ durchgeführt, die von pro-imperialistischen Oppositionen angeführt wurden, die mit aktiver Unterstützung verschiedener angeblicher „Nicht-Regierungsorganisationen“ organisiert wurden.
Trotzki stellte fest, dass autoritäre Regime (manchmal mit einer parlamentarischen Fassade) in halbkolonialen Ländern die Norm sind. Die herrschenden Eliten in diesen Gesellschaften haben Schwierigkeiten, die Bevölkerung mit dem Nötigsten zu versorgen oder Kapital für Investitionen zu akkumulieren, weil durch die Mechanismen der imperialistischen Investitionen und Kontrolle ständig Wert abgezogen wird. Infolgedessen sind abhängige kapitalistische und halbkoloniale Länder tendenziell weniger stabil, und ihre Herrscher halten es häufiger für notwendig, zu grober Repression zu greifen:
„Insofern die Hauptrolle in zurückgebliebenen Ländern nicht von einheimischem, sondern von ausländischem Kapital gespielt wird, nimmt die nationale Bourgeoisie, vom Standpunkt ihrer gesellschaftlichen Lage gesehen, eine weit unbedeutendere Stellung ein, als ihr auf Grund der industriellen Entwicklung entsprechen würde. Insofern das ausländische Kapital nicht Arbeiter einführt, sondern die eingeborene Bevölkerung proletarisiert, beginnt das nationale Proletariat bald die wichtigste Rolle im Leben des Landes zu spielen. Unter diesen Umständen ist die Regierung, so weit sie dem ausländischen Kapitalismus Widerstand zu leisten versucht, gezwungen, sich mehr oder weniger auf das Proletariat zu stützen. Auf der anderen Seite werden von den Regierungen jener zurückgebliebenen Länder, die es für unvermeidlich oder gewinnbringender halten, Schulter an Schulter mit dem ausländischen Kapital zu marschieren, die Arbeiterorganisationen vernichtet, und es wird ein mehr oder weniger totalitäres Regime gebildet.
So entziehen die Schwäche der einheimischen Bourgeoisie, das Fehlen einer Tradition von Selbstverwaltung in den Gemeinden, der Druck des ausländischen Kapitalismus und das relativ schnelle Anwachsen des Proletariats einem beständigen demokratischen Regime jede Grundlage. Die Regierungen zurückgebliebener, d.h. kolonialer und halbkolonialer Länder nehmen früher oder später einen bonapartistischen Charakter an; sie unterscheiden sich voneinander dadurch, daß die einen versuchen, sich in demokratischer Richtung zu orientieren und ihre Stütze unter den Arbeitern und Bauern finden, während die anderen der Militär- und Polizeidiktatur sehr ähnliche Regime errichten.“
– Leo Trotzki, Die Gewerkschaften in der Epoche des imperialistischen Niedergangs, August 1940
Zynisches imperialistisches Lamento über das Fehlen von „Demokratie“ in nicht-imperialistischen Ländern – derzeit das Thema westlicher Propaganda gegen Russland, Iran und China – wird routinemäßig sowohl von Pseudomarxisten als auch von Liberalen nachgeplappert. Doch, wie Trotzki feststellte, wird die bürgerliche Demokratie in den imperialistischen Ländern mit dem Blut der halbkolonialen Welt bezahlt:
„Die Ungleichheit der Entwicklung hat den fortgeschrittenen Ländern enorme Vorteile geschaffen, welche, obgleich in verschiedenem Grade, sich weiterentwickelten auf Kosten der rückständigen Länder, diese ausbeutend, als Kolonie unterwerfend, oder zumindest ihren Aufstieg zur kapitalistischen Aristokratie verhindernd. Die Vermögen Spaniens, Hollands, Englands, Frankreichs sind nicht allein durch Plünderung ihres eigenen Kleinbürgertums, sondern auch durch die systematische Plünderung ihrer überseeischen Besitzungen entstanden. Die Ausbeutung der Klassen wurde vervollständigt und ihre Macht wuchs durch die Ausbeutung der Nationen. Die Bourgeoisie der Mutterländer ist imstande gewesen, ihrem eigenen Proletariat, vor allem dessen oberer Schicht, mittels eines Teils der aufgehäuften Überprofite aus den Kolonien eine privilegierte Position zu sichern. Ohne das würde die Beständigkeit der demokratischen Regimes unmöglich gewesen sein. In ihrer entwickeltsten Form ist und bleibt die Demokratie immer eine Regierungsform, welche nur den aristokratischen und ausbeutenden Nationen zugänglich ist. Die antike Demokratie fußte auf Sklaverei, die imperialistische Demokratie fußt auf der Ausplünderung der Kolonien.“
– Ders., Marxismus in unserer Zeit, April 1939
Das Fehlen von Demokratie in den meisten Ländern des Globalen Südens, eine Folge der imperialistischen Ausbeutung, ist kein Grund, die Verteidigung halbkolonialer Länder gegen „demokratische“ Räuber abzulehnen:
„In Brasilien, das jetzt von einem halbfaschistischen Regime beherrscht wird, zu dem sich jeder Revolutionär nicht anders als mit Hass verhalten kann. Nehmen wir jedoch an, dass England morgen in einen militärischen Konflikt mit Brasilien gerät. Ich frage Sie, auf wessen Seite wird die Weltarbeiterklasse in diesem Konflikt stehen? Ich antworte darauf für mich: In diesem Fall werde ich auf der Seite des ‚faschistischen‘ Brasilien gegen das ‚demokratische‘ Großbritannien stehen. Warum? Weil es im Konflikt zwischen ihnen überhaupt nicht um Demokratie und Faschismus gehen würde. Wenn England gewinnt, wird es in Rio de Janeiro einen weiteren Faschisten einpflanzen und Brasilien doppelte Ketten auferlegen. Im Gegenteil, wenn Brasilien gewinnt, wird es dem nationalen und demokratischen Bewusstsein des Landes einen starken Impuls geben und zum Sturz der Diktatur Vargas führen. Die Niederlage Englands würde gleichzeitig dem britischen Imperialismus einen Schlag versetzen und der revolutionären Bewegung des britischen Proletariats Auftrieb geben. Es ist notwendig, einen wirklich leeren Kopf zu haben, um Weltantagonismen und militärische Konflikte auf den Kampf zwischen Faschismus und Demokratie zu reduzieren. Unter allen Masken muss man Ausbeuter, Sklavenhalter und Raubtiere unterscheiden können!“
– Ders., Gespräch des Genossen Trotzki mit dem argentinischen Delegierten Genosse Fossa, 23. September 1938
Die jüngsten von den USA angeführten Angriffe auf Afghanistan, den Irak und Libyen, die als Initiativen zur Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung und der politischen Demokratie begründet wurden, führten alle zu wirtschaftlicher und sozialer Verwüstung. In der langen Geschichte der kolonialen/imperialistischen Eroberung weniger entwickelter Länder gab es nie eine Ausnahme von diesem Schema – weshalb Leninisten imperialistische Angriffe auf halbkoloniale Länder kategorisch ablehnen.
Die Klassenunterdrückung ist in Ländern, die der imperialistischen Ausbeutung unterworfen sind, tendenziell brutaler, weil ihre gesamte Wirtschafts- und Sozialstruktur durch den Zwang zur Maximierung der Renditen für parasitäre ausländische Investoren verzerrt ist. Marxisten unterstützen Maßnahmen der abhängigen kapitalistischen Staaten, wie begrenzt sie auch sein mögen, um die imperialistische Ausbeutung einzuschränken. Trotzki befürwortete die Verstaatlichung der US-amerikanisch-britisch-holländischen Erdölvorkommen in Mexiko durch Präsident Lázaro Cárdenas im Jahr 1938:
„Das halbkoloniale Mexiko kämpft politisch wie ökonomisch für seine nationale Unabhängigkeit. … Die Petroleumkönige sind keine einfachen Kapitalisten, keine gewöhnlichen Bourgeois. Nachdem sie die größten Naturreichtümer eines fremden Landes an sich gebracht haben, stützen sie sich auf ihre Milliarden und auf die militärisch-diplomatische Hilfe ihrer Metropole und streben danach, in dem unterworfenen Land ein Regime des imperialistischen Feudalismus zu errichten, indem sie sich Gesetzgebung, Rechtsprechung und Verwaltung untertänig machen. Unter solchen Bedingungen ist die Enteignung das einzige wirksame Mittel zur Verteidigung der nationalen Unabhängigkeit und der elementaren Voraussetzungen der Demokratie.“
– Ders., Mexiko und der britische Imperialismus, Oktober 1938
Imperialistische Mächte verteidigen ihr „Recht“, Halbkolonien auszubeuten, seit jeher mit nackter militärischer Aggression – Lenin stellte fest, dass die britische Marine „die Rolle des Gerichtsvollziehers“ spielt, um den abhängigen Ländern erpresserische Verträge aufzuerlegen:
„Die Einnahmen der Rentner sind also im ‚handelstüchtigsten‘ Lande der Welt fünfmal so groß wie die Einnahmen aus dem Außenhandel! Das ist das Wesen des Imperialismus und des imperialistischen Parasitismus. Der Begriff ‚Rentnerstaat‘ oder Wucherstaat wird daher in der ökonomischen Literatur über den Imperialismus allgemein gebräuchlich. Die Welt ist in ein Häuflein Wucherstaaten und in eine ungeheure Mehrheit von Schuldnerstaaten gespalten. ‚Unter den ausländischen Anlagen aber‘, schreibt Schulze-Gaevernitz, ‚stehen diejenigen voran, welche politisch abhängigen oder nächstverbündeten Ländern zuteil werden: England borgt an Ägypten, Japan, China, Südamerika. Seine Kriegsflotte ist hier im Notfall der Gerichtsvollzieher. Politische Macht schützt England gegen die Schuldnerempörung.‘“
– W. I. Lenin, Imperialismus – Das höchste Stadium des Kapitalismus, a.a.O.
Lenin trat für die Verteidigung der abhängigen kapitalistischen Länder ein, die sich einer imperialistischen Aggression gegenübersehen:
„Ein Krieg gegen imperialistische, d. h. unterdrückende Mächte von Seiten der unterdrückten (z. B. kolonialen Völker) ist ein wirklich nationaler Krieg. So ein Krieg ist auch heute möglich. Die ‚Vaterlandsverteidigung‘ seitens eines national unterdrückten Landes gegen ein national unterdrückendes ist kein Betrug, und die Sozialisten sind keineswegs gegen die ‚Vaterlandsverteidigung‘ in einem solchen Kriege.“
– Ders., Über eine Karikatur auf den Marxismus und über den „imperialistischen“ Ökonomismus, a.a.O.
Trotzki führte dies weiter aus, indem er erklärte, warum diese Politik nicht durch den politischen Charakter des Regimes in einem rückständigeren Land beeinflusst wird:
„Der unterdrückende Imperialismus der fortgeschrittenen Nationen kann nur deshalb existieren, weil rückständige Nationen, unterdrückte Nationalitäten, koloniale und halbkoloniale Länder auf unserem Planeten weiterbestehen. Der Kampf der unterdrückten Völker für nationale Vereinigung und Unabhängigkeit ist doppelt fortschrittlich, denn einerseits bereitet er günstigere Bedingungen für ihre eigene Entwicklung vor, während er andererseits dem Imperialismus Schläge erteilt. Das im besonderen ist der Grund, warum die Sozialisten im Kampf zwischen einer zivilisierten imperialistischen demokratischen Republik und einer rückständigen barbarischen Monarchie eines kolonialen Landes trotz seiner Monarchie zur Gänze auf der Seite des unterdrückten Landes und gegen das Unterdrückerland stehen, ungeachtet seiner ‚Demokratie‘.“
– Leo Trotzki, Lenin und der imperialistische Krieg, 30. Dezember 1938
Die Verteidigung halbkolonialer Länder gegen imperialistischen Raub impliziert keine politische Unterstützung der einheimischen herrschenden Klasse. Revolutionäre in diesen Ländern haben die Pflicht, die Kämpfe der unterdrückten und ausgebeuteten Massen sowohl gegen das ausländische als auch gegen das einheimische Kapital zu unterstützen. Diese Haltung steht nicht im Widerspruch zu der Politik der militärischen Blockbildung mit bürgerlichen Kräften im Widerstand gegen imperialistische Eroberung, sondern ergänzt sie, wie Trotzki erklärte, als Japan in den 1930er Jahren in China einmarschierte:
„Stellen wir uns einmal einen Arbeiter vor, der sich sagte: ‚Ich will an dem Streik nicht teilnehmen, weil die Führer Agenten des Kapitals sind.‘ Diesen Doktrinär oder ultralinken Dummkopf gälte es mit seinem wahren Namen zu brandmarken: Streikbrecher. Der Fall des chinesisch-japanischen Krieges ist von diesem Gesichtspunkt ganz analog. Ist Japan ein imperialistisches Land und China das Opfer des Imperialismus, so sind wir auf Seiten Chinas. Der japanische Patriotismus ist die abscheuliche Maske internationaler Räuberei. Der chinesische Patriotismus ist rechtmäßig und fortschrittlich. Beide auf dieselbe Stufe stellen und von ‚Sozialpatriotismus‘ reden, kann nur der, der von Lenin nichts gelesen, von der Haltung der Bolschewiki im imperialistischen Krieg nichts verstanden hat, und der die Lehren des Marxismus nur kompromittieren und prostituieren kann.
Die Eiffelianer haben gehört, dass die Sozialpatrioten die Internationalisten bezichtigten, Agenten des Feindes zu sein, und erwidern uns: ‚Ihr tut dasselbe!‘ Im Krieg zwischen zwei imperialistischen Ländern dreht es sich weder um Demokratie noch um nationale Unabhängigkeit, sondern um die Unterdrückung der zurückgebliebenen nicht-imperialistischen Völker. In einem solchen Krieg befinden sich beide Länder auf derselben historischen Stufe. Die Revolutionäre in beiden Armeen sind Defätisten Aber Japan und China befinden sich nicht auf derselben historischen Stufe. Der Sieg Japans würde die Versklavung Chinas, den Stillstand seiner ökonomischen und sozialen Entwicklung und eine furchtbare Verstärkung des japanischen Imperialismus bedeuten. Chinas Sieg dagegen würde die soziale Revolution in Japan und die freie, d.h. von äußerer Unterdrückung ungehinderte Entwicklung des Klassenkampfes in China bedeuten.
Aber kann Tschiang Kai-schek den Sieg sichern? Ich glaube es nicht. Aber er ist es, der den Krieg begann und der ihn heute leitet. Um ihn ersetzen zu können, gilt es entscheidenden Einfluss auf das Proletariat und die Armee zu gewinnen: und um das zu erreichen, muss man nicht in der Luft schweben bleiben, sondern sich auf die Basis dieses Krieges stellen. Es gilt Einfluss und Prestige im militärischen Kampf gegen den Einfall des äußeren Feindes und im politischen Kampf gegen die Schwächen, Mängel und den Verrat im Innern zu gewinnen. Auf einer gewissen Etappe, die wir nicht vorweg bestimmen können, kann und muss sich diese politische Opposition in bewaffneten Kampf verwandeln, denn der Bürgerkrieg wie der Krieg überhaupt ist nichts anderes als die Fortsetzung der Politik. Aber man muss auch wissen, wann und wie die politische Opposition zum bewaffneten Aufstand werden soll.“
– Ders., Zum chinesisch-japanischen Krieg, 23. September 1937
Klassenbewusste Aktivisten in imperialistischen Ländern haben die Pflicht, den Arbeitern in halbkolonialen Ländern, die angegriffen werden, durch Volksaufstände und Streiks zur Seite zu stehen, insbesondere, wenn möglich, gegen imperialistische Waffenlieferungen:
„Wenn morgen die französischen Arbeiter erfahren sollten, zwei Schiffsladungen Munition würden für den Seetransport aus Frankreich vorbereitet, eine nach Japan und die andere nach China – wie wird sich Craipeau dazu stellen? Ich halte ihn soweit für einen Revolutionär, dass er die Arbeiter auffordern würde, das für Tokio bestimmte Schiff zu boykottieren und das Schiff nach China durchzulassen, ohne jedoch seine Meinung über Tschiang Kai-schek zu verbergen, und das geringste Vertrauen für Chautemps zu äußern.“
– Ders., Noch einmal: die UdSSR und ihre Verteidigung, 4. November 1937
Lenin argumentierte, dass die Arbeiter in den imperialistischen Ländern durch die aktive Unterstützung der Kämpfe der Unterdrückten für nationale Befreiung dazu beitragen, die Grundlage für eine zukünftige sozialistische Weltrepublik zu schaffen:
„Sachlich ist nur eines geblieben: die sozialistische Revolution wird alles lösen! Oder, wie manchmal Anhänger der Auffassung P. Kijewskis sagen: die Selbstbestimmung ist unter dem Kapitalismus unmöglich und unter dem Sozialismus überflüssig.
Dies ist theoretisch eine unsinnige, praktisch-politisch eine chauvinistische Auffassung. Diese Auffassung zeugt von Nichtverstehen der Bedeutung der Demokratie. Der Sozialismus ist unmöglich ohne die Demokratie in zweifachem Sinne: (1) das Proletariat kann die sozialistische Revolution nicht durchführen, wenn es sich nicht auf sie im Kampfe für die Demokratie vorbereitet; (2) der siegreiche Sozialismus kann seinen Sieg nicht behaupten und die Menschheit nicht zum Absterben des Staates bringen ohne die restlose Verwirklichung der Demokratie. Wenn man daher sagt: die Selbstbestimmung ist im Sozialismus überflüssig, so ist das ebenso eine hilflose Konfusion, wie wenn man sagte: die Demokratie ist im Sozialismus überflüssig.
Die Selbstbestimmung ist im Kapitalismus nicht unmöglicher und unter dem Sozialismus ebenso überflüssig wie die Demokratie überhaupt.
Der ökonomische Umsturz schafft die notwendigen Voraussetzungen für die Vernichtung aller Arten politischer Unterdrückung. Eben deshalb ist es unlogisch, ist es unrichtig, sich mit dem Hinweis auf den ökonomischen Umsturz zu begnügen, sobald die Frage steht: wie die nationale Unterdrückung vernichten. Man kann sie nicht vernichten ohne den ökonomischen Umsturz. Das ist unbestritten. Aber sich darauf beschränken, heißt in einen lächerlichen und armseligen imperialistischen ‚Ökonomismus‘ verfallen.
Man muss die nationale Gleichberechtigung herstellen, die gleichen ‚Rechte‘ aller Nationen verkünden, formulieren und verwirklichen. … Und die konsequente, das heißt sozialistische Demokratie verkündet, formuliert und verwirklicht dieses Recht, ohne das es keinen Weg zur vollen und freiwilligen Annäherung und Verschmelzung der Nationen gibt.“
– W. I. Lenin, Über eine Karikatur auf den Marxismus und über den „imperialistischen“ Ökonomismus, a.a.O.
Lenin betrachtete die militärische Verteidigung halbkolonialer Länder als einen potenziellen Hebel zur Förderung der sozialistischen Revolution in den imperialistischen Ländern selbst:
„Imperialismus bedeutet unter anderem auch Kapitalexport. Die kapitalistische Produktion wird in immer beschleunigterem Tempo auch in die Kolonien verpflanzt. Sie aus ihrer Abhängigkeit vom europäischen Finanzkapital herauszureißen ist unmöglich. Vom militärischen Standpunkt wie auch vom Standpunkt der Expansion (Ausdehnung) ist die Lostrennung der Kolonien in der Regel erst zusammen mit dem Sozialismus zu verwirklichen, unter dem Kapitalismus hingegen entweder als Ausnahmefall oder aber um den Preis einer Reihe von Revolutionen und Aufständen sowohl in der Kolonie als auch in der Metropole.“
– Ders., Die Ergebnisse der Diskussion über die Selbstbestimmung, a.a.O.
Imperialismus und revolutionäres Klassenbewusstsein
Lenin beschrieb, wie die imperialistische Bourgeoisie versuchte, privilegierte Schichten der Arbeiterklasse mit einem Anteil an den durch die koloniale Ausbeutung erzielten Extraprofiten zu bestechen:
„Dadurch, daß die Kapitalisten eines Industriezweiges unter vielen anderen oder eines Landes unter vielen anderen usw. hohe Monopolprofite herausschlagen, bekommen sie ökonomisch die Möglichkeit, einzelne Schichten der Arbeiter, vorübergehend sogar eine ziemlich bedeutende Minderheit der Arbeiter zu bestechen und sie auf die Seite der Bourgeoisie des betreffenden Industriezweiges oder der betreffenden Nation gegen alle übrigen hinüberzuziehen. Diese Tendenz wird durch den verschärften Antagonismus zwischen den imperialistischen Nationen wegen der Aufteilung der Welt noch verstärkt. So entsteht der Zusammenhang von Imperialismus und Opportunismus, der sich am frühesten und krassesten in England auswirkte, weil dort gewisse imperialistische Züge der Entwicklung bedeutend früher als in anderen Ländern zutage traten.“
– Ders., Imperialismus – Das höchste Stadium des Kapitalismus, a.a.O.
Reformistische Elemente innerhalb der Arbeiterbewegung werden nicht alle mit Brosamen vom imperialistischen Tisch gefüttert: Lenin kritisierte auch die Schiroki-Sozialisten, eine opportunistische Strömung innerhalb der bulgarischen sozialdemokratischen Partei.
Lenin rief die Revolutionäre dazu auf, entschieden mit den reformistisch dominierten Massenparteien der Zweiten Internationale zu brechen – sowohl in den wirtschaftlich fortgeschrittenen als auch in den rückständigen kapitalistischen Ländern:
„Der verhältnismäßig ‚friedliche‘ Charakter der Epoche 1874 bis 1914 nährte den Opportunismus anfangs als Stimmung, dann als Richtung, schließlich als Gruppe oder Schicht der Arbeiterbürokratie und der kleinbürgerlichen Mitläufer. Diese Elemente konnten die Arbeiterbewegung nur beherrschen, indem sie in Worten die revolutionären Ziele und die revolutionäre Taktik anerkannten. Sie konnten das Vertrauen der Massen erringen, weil sie schworen, daß die ganze ‚friedliche‘ Arbeit nur eine Vorbereitung der proletarischen Revolution sei. … Die Einheit mit den Sozialchauvinisten ist die Einheit mit der ‚eigenen‘ nationalen Bourgeoisie, die andere Nationen ausbeutet, ist die Spaltung des internationalen Proletariats. Das bedeutet nicht, daß die Abspaltung von den Opportunisten überall sofort möglich sei, es bedeutet nur, daß sie historisch herangereift, für den revolutionären Kampf des Proletariats notwendig und unumgänglich ist, daß die Geschichte, die vom ‚friedlichen‘ zum imperialistischen Kapitalismus geführt hat, diese Spaltung vorbereitet.“
– Ders., Der Opportunismus und der Zusammenbruch der II. Internationale, Januar 1916
Lenin hielt pseudomarxistische zentristische Strömungen wie Karl Kautskys Unabhängige Sozialdemokratische Partei (USPD, auch bekannt als “Unabhängige”) und die Independent Labour Party in Britannien für ebenso verkommen wie die offenen Reformisten:
„‚Die prinzipiellen Versöhnler‘ versuchen eine Verfälschung des Marxismus im Sinne z. B. des Gedankenganges, dass Reformen die Revolution nicht ausschließen, dass der imperialistische Frieden mit gewissen ‚Verbesserungen‘ der Grenzen der Nationen oder des Völkerrechts oder der Rüstungsausgaben usw. gleichzeitig mit revolutionären Bewegungen möglich sei, als ‚eines der Momente der Entfaltung‘ dieser Bewegung usw. usf.
Das wäre eine Verfälschung des Marxismus. Natürlich schließen Reformen die Revolution nicht aus. Aber davon ist jetzt nicht die Rede, sondern davon, dass die Revolutionäre sich nicht gegenüber den Reformisten ausschließen dürfen, d. h. dass die Sozialisten ihre revolutionäre Arbeit nicht durch reformistische ersetzen dürfen.“
– Ders., Bürgerlicher und sozialistischer Pazifismus, 1. Januar 1917
In demselben Artikel sprach Lenin ein Problem an, das Revolutionäre kennen, die in die heutigen „Friedensbewegungen“ intervenieren wollen:
„Denn der Friede erscheint den bürgerlichen Pazifisten und ihren ‚sozialistischen‘ Nachahmern oder Nachbetern nach wie vor als etwas vom Krieg grundsätzlich Verschiedenes, so dass der Gedanke: ‚der Krieg ist die Fortsetzung der Politik des Friedens, der Friede ist die Fortsetzung der Politik des Krieges‘ – den Pazifisten beider Schattierungen stets unverständlich geblieben ist. Dass der imperialistische Krieg von 1914 bis 1917 die Fortsetzung der imperialistischen Politik von 1898 bis 1914, wenn nicht einer noch früheren Periode ist, das haben weder Bourgeois noch Sozialimperialisten einsehen wollen noch wollen sie es jetzt tun. Dass ein Friede jetzt, wenn die bürgerlichen Regierungen nicht durch die Revolution gestürzt werden, nur ein imperialistischer Friede sein kann, der den imperialistischen Krieg fortsetzt, sehen weder die bürgerlichen noch die sozialistischen Pazifisten ein.“
– Ebenda
Als die USPD Interesse an einem Beitritt zur Kommunistischen Internationale bekundete, schlug Lenin eine klare programmatische Abgrenzung vor, um die subjektiv revolutionäre Mehrheit der Unabhängigen (die sich bald der KPD anschloss) von Kautsky und der reformistischen Minderheit zu trennen, die schließlich zur SPD zurückkehrte. Als Antwort auf das Angebot der USPD verurteilte Lenin das pseudolinke Programm Kautskys und seinesgleichen:
„Der Umstand, daß die Unabhängigen und die Longuetisten mit den vom Imperialismus verseuchten Oberschichten der Arbeiter nicht brechen wollen oder können, kommt auch darin zum Ausdruck, daß sie keine Agitation für eine direkte und bedingungslose Unterstützung aller Aufstände und revolutionären Bewegungen der Kolonialvölker treiben. Unter diesen Umständen ist die Verurteilung der Kolonialpolitik und des Imperialismus nichts als Heuchelei oder der Stoßseufzer eines stumpfsinnigen Spießers. … Im großen und ganzen ist die gesamte Propaganda, die gesamte Agitation, die gesamte Organisation der Unabhängigen und der Longuetisten eher kleinbürgerlich-demokratisch als revolutionär-proletarisch; pazifistisch, nicht aber revolutionär-sozialistisch. Deshalb bleibt die ‚Anerkennung‘ der Diktatur des Proletariats und der Sowjetmacht ein bloßes Lippenbekenntnis.“
– Ders., Entwurf (oder Thesen) für eine Antwort der KPR auf das Schreiben der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, März 1920, LW-Band 30
Die militärische Unterstützung abhängiger kapitalistischer Länder, die sich gegen eine imperialistische Aggression wehren, bedeutet kein politisches Übereinkommen mit den herrschenden Eliten dieser Länder:
„…die Notwendigkeit, einen entschiedenen Kampf zu führen gegen die Versuche, den bürgerlich-demokratischen Befreiungsströmungen in den zurückgebliebenen Ländern einen kommunistischen Anstrich zu geben. Die Kommunistische Internationale darf die bürgerlich-demokratischen nationalen Bewegungen in den Kolonien und zurückgebliebenen Ländern nur unter der Bedingung unterstützen, daß die Elemente der künftigen proletarischen Parteien, die nicht nur dem Namen nach kommunistische Parteien sind, in allen zurückgebliebenen Ländern gesammelt und im Bewußtsein ihrer besonderen Aufgaben, der Aufgaben des Kampfes gegen die bürgerlich-demokratischen Bewegungen innerhalb ihrer Nation, erzogen werden. Die Kommunistische Internationale muß ein zeitweiliges Bündnis mit der bürgerlichen Demokratie der Kolonien und der zurückgebliebenen Länder eingehen, darf sich aber nicht mit ihr verschmelzen, sondern muß unbedingt die Selbständigkeit der proletarischen Bewegung – sogar in ihrer Keimform – wahren.“
– Ders., Ursprünglicher Entwurf der Thesen zur nationalen und kolonialen Frage, 5. Juni
Die „[Wahrung] der Selbständigkeit der proletarischen Bewegung – sogar in ihrer Keimform“ bedeutet natürlich, die Grundlagen für eine revolutionäre Partei zu schaffen, die sich dem Kampf für die Unterdrückten und Ausgebeuteten und dem Sturz der herrschenden Klasse im eigenen Land verpflichtet. Im Gegensatz zur menschewistischen Annahme, dass jedes Land erst eine kapitalistische Entwicklung durchlaufen müsse, bevor eine sozialistische Revolution möglich sei, behauptete Lenin, dass die halbkolonialen Länder mit Hilfe der wirtschaftlich fortgeschritteneren sozialistischen Länder ihre eigene soziale Revolution durchführen und ein kollektives Eigentumssystem einführen könnten:
„Können wir die Behauptung als richtig anerkennen, daß die zurückgebliebenen Völker, die sich jetzt befreien und unter denen wir jetzt, nach dem Krieg, eine fortschrittliche Bewegung beobachten, das kapitalistische Entwicklungsstadium der Volkswirtschaft unbedingt durchlaufen müssen? Diese Frage haben wir mit einem Nein beantwortet. Wenn das siegreiche revolutionäre Proletariat unter ihnen eine planmäßige Propaganda treibt und wenn die Sowjetregierungen ihnen mit allen verfügbaren Mitteln zu Hilfe kommen, dann ist es falsch anzunehmen, daß das kapitalistische Entwicklungsstadium für die zurückgebliebenen Völker unvermeidlich sei. In allen Kolonien und zurückgebliebenen Ländern müssen wir nicht nur selbständige Kader von Kämpfern und Parteiorganisationen schaffen, nicht nur unverzüglich Propaganda treiben für die Organisierung von Bauernsowjets und sie den vorkapitalistischen Verhältnissen anzupassen suchen, die Kommunistische Internationale muß auch den Leitsatz aufstellen und theoretisch begründen, daß die zurückgebliebenen Länder mit Unterstützung des Proletariats der fortgeschrittensten Länder zur Sowjetordnung und über bestimmte Entwicklungsstufen zum Kommunismus gelangen können, ohne das kapitalistische Entwicklungsstadium durchmachen zu müssen.“
– Ders., Bericht der Kommission über die nationale und koloniale Frage (auf dem Zweiten Weltkongress der Kommunistischen Internationale), 26. Juli 1920, LW-Band 31
Im Oktober 1917 war die russische Arbeiterklasse eine winzige Minderheit in einer überwiegend bäuerlichen Gesellschaft, doch unter der Führung der Bolschewiki stürzte sie die Kerenski-Regierung, enteignete die Bourgeoisie und gründete den ersten Arbeiterstaat der Welt. Lenin erklärte, dass die Voraussetzung für die Durchführung einer sozialistischen Revolution in einem relativ rückständigen Land die unmittelbar bevorstehende Möglichkeit einer internationalen Ausdehnung der Revolution war:
„Als wir seinerzeit die internationale Revolution begannen, taten wir es nicht in dem Glauben, daß wir ihrer Entwicklung vorgreifen könnten, sondern deshalb, weil eine ganze Reihe von Umständen uns veranlaßte, diese Revolution zu beginnen. Wir dachten: Entweder kommt uns die internationale Revolution zu Hilfe, und dann ist unser Sieg ganz sicher, oder wir machen unsere bescheidene revolutionäre Arbeit in dem Bewußtsein, daß wir selbst im Falle einer Niederlage der Sache der Revolution dienen und daß unsere Erfahrungen den anderen Revolutionen von Nutzen sein werden. Es war uns klar, daß ohne die Unterstützung der internationalen Weltrevolution der Sieg der proletarischen Revolution unmöglich ist. Schon vor der Revolution und auch nachher dachten wir: Entweder sofort oder zumindest sehr rasch wird die Revolution in den übrigen Ländern kommen, in den kapitalistisch entwickelteren Ländern, oder aber wir müssen zugrunde gehen. Trotz dieses Bewußtseins taten wir alles, um das Sowjetsystem unter allen Umständen und um jeden Preis aufrechtzuerhalten, denn wir wußten, daß wir nicht nur für uns, sondern auch für die internationale Revolution arbeiten.“
– Ders., Referat über die Taktik der KPR (auf dem Dritten Weltkongress der Kommunistischen Internationale), 5. Juli 1921, LW-Band 32
Das Abflauen der revolutionären Welle in den fortgeschritteneren kapitalistischen Ländern (insbesondere in Deutschland) erforderte einen taktischen Rückzug. Für den jungen sowjetischen Arbeiterstaat bedeutete dies die Einführung der Neuen Ökonomischen Politik (NÖP), die einen Versuch darstellte, die Wirtschaft durch eine begrenzte Wiederherstellung des Marktaustauschs für Lebensmittel und Konsumgüter wiederzubeleben und gleichzeitig imperialistische Investitionen in die Wirtschaft anzustreben:
„Wir müssen selbstverständlich der fremden Bourgeoisie, dem ausländischen Kapital, Konzessionen gewähren. Ohne im geringsten die Nationalisierung aufzuheben, überlassen wir Bergwerke, Waldmassive, Erdölvorkommen ausländischen Kapitalisten, um von ihnen Industrieerzeugnisse, Maschinen usw. zu erhalten und auf diese Weise unsere eigene Industrie wiederherzustellen. … Was zwingt uns dazu? Wir sind nicht allein auf der Welt. Wir existieren im System der kapitalistischen Staaten… Auf der einen Seite Kolonialländer, aber die können uns noch nicht helfen; auf der anderen Seite kapitalistische Länder, die aber sind unsere Feinde. Es ergibt sich ein gewisses Gleichgewicht, allerdings ein sehr schlechtes. Aber wir müssen immerhin mit dieser Tatsache rechnen. Wir dürfen vor dieser Tatsache nicht die Augen verschließen, wenn wir existieren wollen. Entweder sofortiger Sieg über die gesamte Bourgeoisie oder Zahlung eines Tributs. Wir gestehen ganz offen, wir verhehlen nicht, daß Konzessionen im System des Staatskapitalismus einen Tribut an den Kapitalismus bedeuten. Aber wir gewinnen Zeit, und Zeit gewinnen heißt alles gewinnen, besonders in der Epoche des Gleichgewichts, in der unsere ausländischen Genossen ihre Revolution gründlich vorbereiten. Je gründlicher sie aber vorbereitet wird, desto sicherer wird der Sieg sein, nun, und bis dahin werden wir einen Tribut zahlen müssen.“
– Ebenda
Lenin betrachtete die NÖP als Mittel, um wertvolle Zeit für den jungen Arbeiterstaat zu gewinnen – und nicht als einen ersten Schritt zur Errichtung einer isolierten, autarken sozialistischen Gesellschaft in einem relativ rückständigen Land, das von imperialistischen Räubern umgeben war. Die bolschewistische Außenpolitik unter Lenin beruhte auf der Erkenntnis, dass die imperialistische Einkreisung der Sowjetunion eine langfristige friedliche Koexistenz unmöglich machte. Lenin wusste, dass imperialistische Investitionen mit vielen Risiken verbunden sein würden:
„Neben Ihnen werden Kapitalisten sein, neben Ihnen werden auch ausländische Kapitalisten, Konzessionäre und Pächter sein, die bei Ihnen Hunderte Prozent Profit herausschinden und sich vor Ihren Augen bereichern werden. Mögen sie sich bereichern, Sie aber sollen bei ihnen wirtschaften lernen, und erst dann werden Sie die kommunistische Republik aufbauen können. Vom Standpunkt der Notwendigkeit, rasch zu lernen, ist jede Laschheit das größte Verbrechen. Und in diese Lehre, eine schwere, harte, manchmal sogar grausame Lehre, muß man gehen, da es einen anderen Ausweg nicht gibt. Sie dürfen nicht vergessen, daß unser nach den langjährigen Prüfungen verarmtes Sowjetland nicht von einem sozialistischen Frankreich und nicht von einem sozialistischen England umgeben ist, die uns mit ihrer hochentwickelten Technik, mit ihrer hochentwickelten Industrie helfen würden. Nein! Wir müssen stets daran denken, daß ihre ganze hochentwickelte Technik, ihre ganze hochentwickelte Industrie heute den Kapitalisten gehört, die gegen uns arbeiten.“
– Ders., Die Neue Ökonomische Politik und die Aufgaben der Ausschüsse für politisch-kulturelle Aufklärung, 17. Oktober 1921, LW-Band 33
Lenin wusste, dass der junge Arbeiterstaat anfällig war für den Betrieb ausländischer kapitalistischer Unternehmen im Inland und/oder die Lockerung des Außenhandelsmonopols, was beides das imperialistische Eindringen in die staatlich kontrollierte Wirtschaft verstärken würde. In seinem letzten Artikel erörterte Lenin die Aussicht auf einen imperialistischen militärischen Angriff:
„Können wir uns vor dem kommenden Zusammenstoß mit diesen imperialistischen Staaten retten? Besteht für uns die Hoffnung, daß die inneren Widersprüche und Konflikte zwischen den erfolgreichen imperialistischen Staaten des Westens and den erfolgreichen imperialistischen Staaten des Ostens uns ein zweites Mal eine Atempause gewähren werden, wie sie es das erstemal getan haben, als der Feldzug der westeuropäischen Konterrevolution, gerichtet auf die Unterstützung der russischen Konterrevolution, infolge der Gegensätze im Lager der Konterrevolutionäre des Westens und des Ostens, im Lager der östlichen and der westlichen Ausbeuter, im Lager Japans und Amerikas scheiterte?
Diese Frage, scheint mir, wird dahin zu beantworten sein, daß die Entscheidung hier von allzu vielen Umständen abhängt und der Ausgang des Kampfes sich im großen und ganzen nur auf der Grundlage voraussehen läßt, daß die gigantische Mehrheit der Erdbevölkerung schließlich durch
den Kapitalismus selbst für den Kampf geschalt und erzogen wird.“
– Ders., Lieber weniger, aber besser, 2. März 1923, LW-Band 33
Lenin wies reformistische Phantasien über die Möglichkeit einer langfristigen friedlichen Koexistenz mit dem Imperialismus, wie sie von Kautsky und anderen Zentristen vertreten wurden, entschieden zurück:
„Jede Partei, die der III. Internationale angehören will, ist verpflichtet, nicht nur den offenen Sozialpatriotismus, sondern auch die Falschheit und Heuchelei des Sozialpazifismus zu entlarven: den Arbeitern systematisch vor Augen zu führen, daß ohne revolutionären Sturz des Kapitalismus keinerlei internationales Schiedsgericht, keinerlei Gerede von Einschränkung der Kriegsrüstungen, keinerlei ‚demokratische‘ Reorganisation des Völkerbundes imstande sein wird, die Menschheit vor neuen imperialistischen Kriegen zu bewahren.“
– Ders., Bedingungen für die Aufnahme in die Dritte Internationale, Juli 1920, LW-Band 31
Es war Lenins unerschütterliche Überzeugung, dass nur die proletarische Weltrevolution den Imperialismus ein für alle Mal vernichten und den Weg in eine sozialistische Zukunft für die Menschheit öffnen kann. Die Dritte Internationale, die Weltpartei der sozialistischen Revolution, wurde mit dem Ziel gegründet, diese Perspektive zu verwirklichen:
„Es gibt überall eine proletarische Armee, wenn sie mitunter auch schlecht organisiert ist und der Reorganisation bedarf. Wenn unsere ausländischen Genossen uns jetzt helfen, eine einheitliche Armee zu schaffen, so werden keine Mängel uns hindern können, unser Werk zu vollbringen. Und dieses Werk ist die proletarische Weltrevolution, die Schaffung einer weltumspannenden Sowjetrepublik.“
– Ders., Referat über die internationale Lage und die Hauptaufgaben der Kommunistischen Internationale, 19. Juli 1920, LW-Band 31