Leninismus und Lostrennung

Die IBT vertritt das Selbstbestimmungsrecht der Nationen als einen Teil ihres revolutionären Programms. Das nationale Selbstbestimmungsrecht gilt für alle Fälle einer lebendigen Nationalbewegung. Diese hat das Recht auf staatliche Lostrennung. Marxisten bauen jedoch keine Nationalbewegungen auf. Im Gegenteil, sie bekämpfen jeden Nationalismus und propagieren stattdessen den unversöhnlichen internationalen Klassenkampf. Aber als revolutionäre Klassenkämpfer haben sie eine klare und radikal demokratische Haltung zur nationalen Frage: Sie sind gegen jede Diskriminierung sowie Privilegien und Unterdrückung einer Nation durch eine andere. Mit den Methoden des Klassenkampfes treten sie deshalb, solange es Nationen gibt, für die völlige Gleichberechtigung ein. Das schließt das gleiche Recht auf einen eigenen Nationalstaat ein. Dies ist der beste Weg, die nationale Frage und nationale Spaltungen unter den Arbeitern vom Tisch zu kriegen und damit die Klassenfrage in den Vordergrund zu stellen und die internationale Einheit der Arbeiter zu fördern.

Als eine demokratische Forderung ist die nationale Frage dem Ganzen des demokratischen Programms und dem sozialistischen Programm untergeordnet. Insbesondere gibt es kein Selbstbestimmungsrecht auf Konterrevolution in einem Arbeiterstaat, weil die Verteidigung eines Arbeiterstaates vom Klassenstandpunkt höher steht als demokratische Rechte. Solange sich die Nationen noch nicht in die sozialistische Weltgemeinschaft aufgelöst haben, gilt allerdings im Rahmen der proletarischen Klassenherrschaft auch das Recht auf Selbstbestimmung. Alles andere würde nur der Verschmelzung der Proletarier aller Länder Steine in den Weg legen. Die nationale Unzufriedenheit könnte sonst – gerade in den Geburtswehen der Arbeitermacht – zu einem mächtigen Hebel in den Händen der Konterrevolution werden.

Also: Im Falle kapitalistischer Staaten verteidigen wir grundsätzlich das Recht auf Lostrennung. Auch im Rahmen einer sozialistischen Föderation treten wir für die Freiheit der Lostrennung ein. Wir bekämpfen aber jene Bewegungen, die das Selbstbestimmungsrecht als Deckmantel der Konterrevolution benutzen.

Die Freiheit der Lostrennung in diesem Sinne jedoch prinzipiell zu fordern, ist etwas anderes, als die Durchführung der Lostrennung zu propagieren. Unter sonst gleichen Bedingungen ziehen Marxisten die internationale Einheit immer der nationalen Zersplitterung vor. Es ist das Recht der unterdrückten Nation, diese Frage allein selbständig zu entscheiden. Das heißt aber nicht, dass Kommunisten nicht aktiv gegen eine Entscheidung zur Unabhängigkeit agitieren dürfen. Im Gegenteil: Nur in Ausnahmefällen stellen Kommunisten die Losung der Lostrennung auf. Dabei ordnen sie ihre Entscheidung, ob sie konkret zur Lostrennung aufrufen, dem proletarischen Klasseninteresse unter. Während Kommunisten also prinzipiell für das Recht auf Lostrennung eintreten, treten sie nur bedingt für die Durchführung der Lostrennung ein. Dies ist im Wesentlichen die leninistische Politik in der nationalen Frage.

In kaum einer Frage gibt es in der Linken soviel Verwirrung, wie bei diesem elementar wichtigen Unterschied zwischen dem Recht auf Lostrennung und der Aufforderung zur Lostrennung. Es gibt eine informelle Allianz von Antiimps, Stalinisten, Maoisten, Neulinken bis hin zu Antideutschen und Antinationalen, die Lenin am liebsten in einen halben bis waschechten Nationalisten verwandeln, indem sie diesen Unterschied verwischen und unterstellen, Leninisten würden (fast) immer für Lostrennung eintreten. Damit stufen sie den Leninismus auf das Niveau bürgerlicher nationaler Befreiungsbewegungen hinab.

Die einen rechtfertigen so ihre unkritische Nachtrabpolitik gegenüber nationalen Befreiungsbewegungen und ihre Volksfrontstrategie der Unterordnung der Arbeiter unter die sie ausbeutende – aber angeblich ebenso unterdrückte – nationale Bourgeoisie. Dazu gesellen sich auch vorgebliche Trotzkisten, wie die Gruppe Arbeitermacht mit ihrer “antiimperialistischen Einheitsfront” mit der unterdrückten Nationalbourgeoisie und der Verteidigung konterrevolutionärer Nationalbewegungen in den ehemaligen bürokratisierten Arbeiterstaaten Osteuropas und der UdSSR. Die Antinationalen, Luxemburgisten und Bordigisten werfen den Leninisten dagegen in Bausch und Bogen vor, bedingungslose Anhänger der Unabhängigkeit und Kleinstaaterei zu sein. Trotz der entgegengesetzten Bewertungen entstellen beide gleichermaßen die leninistische Politik in der nationalen Frage.

Lenins Polemiken zur nationalen Frage zielen immer wieder gegen drei bürgerliche Abweichungen von der marxistischen Politik.

Erstens, die Ablehnung des Rechts auf Selbstbestimmung der Nationen etwa durch Rosa Luxemburg. Für sie, ebenso wie für die heutigen Anhänger der Rätekommunisten und Antinationalen, gilt, dass sie “aus Furcht, dem bürgerlichen Nationalismus der unterdrückten Nationen in die Hände zu arbeiten, nicht nur dem bürgerlichen, sondern sogar dem erzreaktionären Nationalismus der unterdrückenden Nation in die Hände arbeitet” (Lenin Werke, Bd. 19, S. 540). Diese Logik hat in den letzten Jahren dazu geführt, dass die sog. Antinationalen und Antideutschen offen dem Imperialismus und dem Zionismus in die Hände arbeiten. In Palästina, Afghanistan und dem Irak sind sie zu offenen Befürwortern der zionistischen bzw. der imperialistischen Unterdrückung geworden.

Zweitens, gegen die Idee der national-kulturellen Autonomie, d.h. der Idee, dass die Nationen geistig-kulturell statt staatlich-territorial getrennt werden, weil sie die Arbeiterklasse ideologisch spaltet. Marxisten sind zwar unter bestimmten Bedingungen für die staatlich-territoriale Trennung zweier Nationen, aber niemals dulden sie die geistige, kulturelle und ideologische Entfremdung der Arbeiterklasse beider Nationen.

Drittens, gegen die unbedingte Forderung nach Lostrennung bzw. Unabhängigkeit, “denn die Anerkennung dieses Rechts [auf Selbstbestimmung] schließt keineswegs sowohl die Propaganda und Agitation gegen die Lostrennung als auch die Entlarvung des bürgerlichen Nationalismus aus” (ebd.).

Dabei ist die koloniale von der nationalen Frage zu unterscheiden. Die Niederlage des Imperialismus und seine Vertreibung aus allen (Neo-)Kolonien ist ein Eckpfeiler des revolutionären Programms (siehe auch BOLSCHEWIK Nr. 13). Deshalb tritt die IBT prinzipiell für die Unabhängigkeit der (Neo-)Kolonien ein. In der eigentlichen nationalen Frage treten Leninisten aber nur ausnahmsweise, nämlich wenn die Lostrennung im Klasseninteresse ist, auch aktiv für die Unabhängigkeit ein.

Dies ist z.B. dann der Fall, wenn das Klima zwischen den Arbeitern beider Nationen derart vergiftet ist, dass ein gemeinsamer Klassenkampf nicht mehr möglich ist. Dann kann durch die nationale Trennung ja keine proletarische Einheit mehr aufs Spiel gesetzt werden. Vielmehr muss erst die Trennung kommen, damit die Arbeiter beider Seiten in ihrer eigenen Bourgeoisie wieder den Hauptfeind und in den Arbeitern der jeweils anderen Nation ihre Klassenbrüder und -schwestern erkennen können.

Eine andere Ausnahme erläuterte Lenin 1914 in dem Text “Über das Selbstbestimmungsrecht der Nationen” am Beispiel Irlands. Marx trat in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts für die Lostrennung Irlands ein, und Lenin erläutert die Gründe wie folgt: In England war die bürgerliche Revolution abgeschlossen, die Arbeiterrevolution aber nicht absehbar, da die englische Arbeiterklasse sich weder politisch noch organisatorisch effektiv vom Schlepptau der liberalen Bourgeoisie gelöst hatte. Die englische Bourgeoisie unterdrückte Irland. Gleichzeitig nahm in Irland die bürgerliche Nationalbewegung revolutionäre Züge an. In dieser Situation gebot es die Verteidigung der bürgerlichen Revolution in Irland, dass die klassenkämpferische Minderheit des englischen Proletariats für die Lostrennung Irlands eintrat. Alles andere hätte die Erwürgung der bürgerlichen irischen Revolution bedeutet.

Es ist klar, dass in dem Maße, wie die revolutionäre Rolle der nationalen Bourgeoisie abnahm, auch diese Ausnahme an Bedeutung verlor. An ihre Stelle würden heute Fälle eines unterschiedlichen Tempos der proletarischen Revolution in den beiden Nationen treten.

Je nach dem gegen wen Lenins Polemik zielte, wechselten die Schwerpunkte seiner Argumentation. Die politische Linie blieb aber immer die gleiche: Für die Selbstbestimmung des Proletariats in jeder Nation und die Einheit der Proletarier aller Länder; unbedingte Verteidigung des demokratischen Rechtes auf Selbstbestimmung für alle Nationen; eine nur bedingte Unterstützung konkreter Forderungen nach Unabhängigkeit. Die entscheidende Bedingung ist das Interesse des Klassenkampfes, welches heute im Zeitalter des Imperialismus die permanente proletarische Revolution ist. Die Nationalbourgeoisie der unterdrückten Nationen ist nämlich zu schwach und abhängig, um noch eine eigenständige revolutionäre Rolle spielen zu können. Gleichzeitig kann sie unter dem Druck der imperialistischen Bourgeoisie und des Weltmarktes ihre Profite nur realisieren, indem sie die Arbeiter und Bauern der eigenen Nation verschärft ausbeutet. Sie kann daher nicht mehr – wie 1793 die französische Bourgeoisie – die Rolle des Volkstribunen aller Unterdrückten der Nation übernehmen. Die ungelösten Aufgaben der bürgerlich-demokratischen Revolution, darunter die Lösung der nationalen Frage, fallen damit der Arbeiterklasse zu. Diese kann sie nur lösen, indem sie ihre eigene Herrschaft errichtet und die Lösung der demokratischen Aufgaben mit dem Kampf für den internationalen Sozialismus verbindet.

Im Folgenden drucken wir Auszüge eines Textes von Lenin ab, der ein scharfes Licht auf die Trennlinie von kleinbürgerlichem Nationalismus und revolutionärer Arbeiterpolitik in der Frage der Lostrennung wirft.

DIE NATIONALE FRAGE IN UNSEREM PROGRAMM

“Die Sozialdemokratie wird stets jeden Versuch bekämpfen; durch Gewalt oder Ungerechtigkeit, welcher Art auch immer, die nationale Selbstbestimmung von außen her zu beeinflussen. Doch die bedingungslose Anerkennung des Kampfes für die Freiheit der Selbstbestimmung verpflichtet uns keineswegs, jede Forderung nach nationaler Selbstbestimmung zu unterstützen. Die Sozialdemokratie sieht als Partei des Proletariats ihre positive und wichtigste Aufgabe darin, die Selbstbestimmung nicht der Völker und Nationen, sondern des Proletariats innerhalb jeder Nationalität zu fördern. Wir müssen stets und unbedingt die engste Vereinigung des Proletariats aller Nationalitäten anstreben, und nur in einzelnen Ausnahmefällen können wir Forderungen, die auf die Schaffung eines neuen Klassenstaates oder auf die Ersetzung der völligen politischen Einheit eines Staates durch eine losere föderative Einheit usw. hinauslaufen, aufstellen und aktiv unterstützen.”

“Stellen wir die Frage auch dem Wesen nach unumwunden: Muß die Sozialdemokratie stets bedingungslos die nationale Unabhängigkeit fordern oder nur unter bestimmten Bedingungen, und zwar unter welchen? Die PPS hat diese Frage immer im Sinne der bedingungslosen Anerkennung entschieden, und wir sind daher nicht im geringsten erstaunt über ihre zärtlichen Gefühle für die russischen Sozialrevolutionäre, die eine föderative Staatsordnung fordern und für die vollständige und bedingungslose Anerkennung des Rechtes auf nationale Selbstbestimmung’ eintreten (Rewoluzionnaja Rossija’ Nr. 18, der Artikel Nationale Versklavung und revolutionärer Sozialismus’). Leider ist das nicht mehr als eine jener bürgerlich-demokratischen Phrasen, die zum hundersten und tausendsten Male die wirkliche Natur der sogenannten Part der sogenannten Sozialrevolutionäre zeigen. Und die PPS, die sich von diesen Phrasen ködern, von diesem Flittergold blenden läßt, beweist damit ihrerseits, wie schwach in ihrer theoretischen Einsicht und in ihrer politischen Tätigkeit die Verbindung mit dem Klassenkampf des Proletariats ist. Den Interessen eben dieses Kampfes müssen wir die Forderung der nationalen Selbstbestimmung unterordnen.”

Den Grund dafür bringt Lenin mit einem Zitat Kautskys auf den Punkt, dessen zentrale Botschaft Lenin extra kursiv hervorhebt:

“‘Dieser Vorbehalt’, fährt Kautsky fort, muß allerdings gemacht werden. Die nationale Unabhängigkeit hängt nicht so innig mit den Klasseninteressen des kämpfenden Proletariats zusammen, daß sie bedingungslos, unter allen Umständen anzustreben wäre’…

Man sieht: Kautsky lehnt kategorisch die bedingungslose Forderung der Unabhängigkeit der Nationen ab, er verlangt kategorisch, daß die Frage nicht nur auf den allgemein-geschichtlichen, sondern gerade auf den Klassenboden gestellt werde.”

Davon ausgehend zeigt Lenin, wie um die Mitte des 19. Jahrhunderts fast alle Klassen Polens bürgerlich-revolutionär waren und diese lebendige Nationalbewegung versuchte, im Kampf gegen den deutschen und russischen Absolutismus ein demokratisches Polen zu schaffen. Doch:

“Damals und jetzt – die Zeit der letzten bürgerlichen revolutionären Bewegungen und die Zeit der zu allem entschlossenen Reaktion, der äußersten Anspannung aller Kräfte am Vorabend der proletarischen Revolution – sind ganz offensichtlich voneinander verschieden. …

Jetzt treten die herrschenden Klassen Polens – die Schlachta in Deutschland und Österreich, die Industrie- und Finanzmagnaten in Rußland – als Anhänger der herrschenden Klassen in den Ländern auf, die Polen unterdrücken”.

“Und 1902 kam Mehring, der die Entwicklung der polnischen Frage von 1848 bis heute erforschte, zu dem Schluß: ‘Wollte das polnische Proletariat die Wiederherstellung eines polnischen Klassenstaates auf seine Fahne schreiben, eines Klassenstaates, von dem die herrschenden Klassen selbst nichts wissen wollen, so würde es ein historisches Fastnachtsspiel aufführen, was wohl den besitzenden Klassen passieren mag, wie dem polnischen Adel im Jahre 1791, aber der arbeitenden Klasse nie passieren darf. Taucht diese reaktionäre Utopie nun gar auf, um diejenigen Schichten der Intelligenz und des Kleinbürgertums, in denen die nationale Agitation noch einen gewissen Widerhall findet, der proletarischen Agitation geneigt zu machen, so ist sie doppelt hinfällig, als Ausgeburt jenes verwerflichen Opportunismus, der um nichtiger und wohlfeiler Augenblickserfolge willen die dauernden Interessen der Arbeiterklasse preisgibt.

Diese Interessen gebieten durchaus, daß die polnischen Arbeiter in allen drei Teilungsstaaten mit ihren Klassengenossen ohne jeden Rückhalt Schulter an Schulter kämpfen. Die Zeiten sind vorüber, wo eine bürgerliche Revolution ein freies Polen schaffen konnte; heute ist die Wiedergeburt Polens nur möglich durch die soziale Revolution, in der das moderne Proletariat seine Ketten bricht.”

Wir unterschreiben diese Schlußfolgerung Mehrings ohne Bedenken. Es sei nur bemerkt, daß sie auch dann einwandfrei bleibt, wenn wir in der Argumentation nicht so weit gehen wie Mehring. Zweifellos steht die polnische Frage heute wesentlich anders als vor fünfzig Jahren. Man darf jedoch diesen gegenwärtigen Stand nicht als ewig betrachten. Zweifellos hat der Klassenantagonismus die nationalen Fragen jetzt weit in den Hintergrund gedrängt, doch darf man nicht, ohne Gefahr zu laufen, in Doktrinarismus zu verfallen, kategorisch behaupten, es sei unmöglich, daß diese oder jene nationale Frage vorübergehend in den Vordergrund des politischen Geschehens tritt. Zweifellos ist die Wiederherstellung Polens vor dem Sturze des Kapitalismus äußerst unwahrscheinlich, aber man kann nicht sagen, daß sie ganz unmöglich sei, daß die polnische Bourgeoisie sich unter bestimmten Umständen nicht auf die Seite der Unabhängigkeit stellen könne usw. Die russische Sozialdemokratie bindet sich daher in keiner Weise die Hände. Sie rechnet mit allen möglichen und sogar mit allen überhaupt denkbaren Wechselfällen, wenn sie in ihrem Programm die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechtes der Nationen verkündet. Dieses Programm schließt keineswegs aus, daß das polnische Proletariat die freie und unabhängige polnische Republik zu seiner Losung macht, selbst wenn die Wahrscheinlichkeit ihrer Verwirklichung vor dem Sozialismus verschwindend gering sein sollte. Dieses Programm fordert lediglich, daß eine wirklich sozialistische Partei das proletarische Klassenbewußtsein nicht trübe, den Klassenkampf nicht verdunkle, die Arbeiterklasse nicht durch bürgerlich-demokratische Phrasen betöre und die Einheit des heutigen politischen Kampfes des Proletariats nicht störe. Und gerade diese Bedingung, unter der allein wir die Selbstbestimmung anerkennen, ist der Kern des Ganzen. Vergeblich sucht die PPS die Sache so hinzustellen, als trenne sie von den deutschen oder den russischen Sozialdemokraten deren Ablehnung des Rechtes auf Selbstbestimmung, des Rechtes, eine freie und unabhängige Republik anzustreben. Nicht das ist es, was uns hindert, in der PPS eine wirkliche sozialdemokratische Arbeiterpartei zu sehen, sondern die Tatsache, daß sie den Klassenstandpunkt vergißt, ihn durch Chauvinismus verdunkelt und die Einheit im gegebenen politischen Kampf stört. Hier ein Beispiel, wie die PPS die Frage gewöhnlich stellt: …wir können den Zarismus nur schwächen, indem wir Polen losreißen; stürzen müssen ihn die russischen Genossen.’ Oder weiter: …nach der Vernichtung der Selbstherrschaft würden wir unser Schicksal einfach so bestimmen, daß wir uns von Rußland trennen.’ Man beachte, zu welchen ungeheuerlichen Schlüssen diese ungeheuerliche Logik selbst vom Standpunkt der Programmforderung der Wiederherstellung Polens führt. Weil die Wiederherstellung Polens eine mögliche (aber unter der Herrschaft der Bourgeoisie durchaus nicht gesicherte) Folge der demokratischen Entwicklung darstellt, darum darf das polnische Proletariat nicht gemeinsam mit dem russischen für den Sturz des Zarismus kämpfen, sondern “nur” für dessen Schwächung durch die Losreißung Polens. Weil der russische Zarismus ein immer engeres Bündnis mit der Bourgeoisie und den Regierungen Deutschlands, Österreichs usw. schließt, darum muß das polnische Proletariat sein Bündnis mit dem russischen, deutschen und übrigen Proletariat schwächen, mit dem es heute gegen ein und dasselbe Joch kämpft. Das bedeutet nichts anderes als den Verzicht auf die lebenswichtigsten Interessen des Proletariats zugunsten der bürgerlich-demokratischen Auffassung von der nationalen Unabhängigkeit. Der Zerfall Rußlands, den die PPS zum Unterschied von unserem Ziel, die Selbstherrschaft zu stürzen, anstreben will, ist und bleibt ein leeres Wort, solange die wirtschaftliche Entwicklung die verschiedenen Teile eines politischen Ganzen immer enger zusammenschmiedet, solange die Bourgeoisie aller Länder sich immer einmütiger gegen ihren gemeinsamen Feind, das Proletariat, und für ihren gemeinsamen Verbündeten, den Zaren, zusammenschließt. Dafür aber ist der Zerfall der Kräfte des Proletariats, das heute unter dem Joch dieser Selbstherrschaft leidet, eine traurige Wirklichkeit, die unmittelbare Folge des Fehlers der PPS, die unmittelbare Folge ihrer Anbetung der bürgerlich-demokratischen Formeln. Um die Augen vor diesem Zerfall des Proletariats zu verschließen, muß sich die PPS zum Chauvinismus erniedrigen und z. B. die Ansichten der russischen Sozialdemokraten wie folgt auslegen: Wir (Polen) sollen auf die soziale Revolution warten und bis dahin das nationale Joch geduldig ertragen.’ Das ist einfach nicht wahr. Die russischen Sozialdemokraten haben nicht nur nie etwas Derartiges geraten, sondern kämpfen im Gegenteil selber gegen jede nationale Unterdrückung in Rußland und fordern das gesamte russische Proletariat dazu auf; sie nehmen nicht nur die vollständige Gleichberechtigung der Sprache, der Nationalität usw. in ihr Programm auf, sondern auch die Anerkennung des Rechtes jeder Nation, ihr Schicksal selbst zu bestimmen. Wenn wir, dieses Recht anerkennend, unsere Unterstützung der Forderungen nach nationaler Unabhängigkeit den Erfordernissen des proletarischen Kampfes unterordnen, so kann nur ein Chauvinist unsere Stellung mit dem Mißtrauen des Russen gegenüber dem Fremdstämmigen’ erklären, denn in Wirklichkeit muß diese Stellung zwangsläufig dem Mißtrauen des klassenbewußten Proletariers gegen die Bourgeoisie entspringen. … Und darum werden wir, ohne uns im geringsten durch chauvinistische und opportunistische Ausfälle beirren zu lassen, dem polnischen Arbeiter stets sagen: Nur das vollständigste und engste Bündnis mit dem russischen Proletariat ist imstande, den Anforderungen des politischen Tageskampfes gegen die Selbstherrschaft gerecht zu werden, nur ein solches Bündnis gibt die Gewähr für eine völlige politische und wirtschaftliche Befreiung.

Das, was wir über die polnische Frage gesagt haben, läßt sich voll und ganz auch auf jede andere nationale Frage anwenden. Die fluchwürdige Geschichte der Selbstherrschaft hat uns eine sehr große Entfremdung der Arbeiterklassen der von dieser Selbstherrschaft unterdrückten verschiedenen Völkerschaften als Erbe hinterlassen. Diese Entfremdung ist das größte Übel, das größte Hindernis im Kampf gegen die Selbstherrschaft, … Je mehr wir die Notwendigkeit der Einheit erkennen, je fester wir von der Unmöglichkeit eines allgemeinen Ansturms auf die Selbstherrschaft ohne vollständige Einheit überzeugt sind, je stärker unter unseren politischen Verhältnissen die unbedingte Notwendigkeit einer zentralistischen Organisation des Kampfes hervortritt – desto weniger sind wir geneigt, uns mit einer ‘einfachen’, aber nur scheinbaren und ihrem Wesen nach grundfalschen Lösung der Frage zufriedenzugeben. Wenn die Schädlichkeit der Entfremdung nicht erkannt wird, wenn der Wunsch nicht vorhanden ist, im Lager der proletarischen Partei um jeden Preis und radikal mit dieser Entfremdung Schluß zu machen – dann sind auch die Feigenblätter der ‘Föderation’ nicht notwendig, dann hat es überhaupt keinen Zweck, die Lösung einer Frage zu versuchen, welche die eine ‘Seite’ im Grunde gar nicht lösen will, dann überläßt man es besser den Lehren der lebendigen Erfahrung und der wirklichen Bewegung, die von der Selbstherrschaft unterdrückten Proletarier aller Nationalitäten zu überzeugen, daß der Zentralismus notwendig ist zum erfolgreichen Kampf gegen diese Selbstherrschaft und gegen die sich immer enger zusammenschließende internationale Bourgeoisie.” (Lenin: Die nationale Frage in unserem Programm, LW Bd. 6).