Multinationale Arbeiterrevolution wird Kurdistan befreien!

Für eine Sozialistische Föderation des Nahen Ostens

Ausgangspunkt des aktuellen polemischen Schlagabtauschs zwischen der Internationalen Bolschewistischen Tendenz (IBT) und der Internationalen Kommunistischen Liga (IKL) war eine Entstellung unserer Kurdistanposition. In einem ausführlichen Workers-Vanguard-Artikel des Nah-Ost-Spezialisten Bruce André zum Thema denunziert die IKL unsere Position, das Selbstbestimmungsrecht der Kurden bedingungslos zu verteidigen ohne aktuell die Forderung nach Unabhängigkeit aufzustellen, als Großmachtchauvinismus.

Warum sollen Kommunisten unbedingt die Unabhängigkeit Kurdistans auf ihre Fahnen schreiben? Zunächst redet André von Fällen, in denen “die nationale Trennung die Beziehungen vergiftet hat zwischen der Abeiterklasse” (WV Nr. 804/805, 23.05.2003 /06.06.2003) der unterdrückten und der unterdrückenden Nation. Als Beispiel führt er Quebec an. Angeblich müsse erst die Trennung kommen, damit später wieder Einheit kommen kann. Nur so könne die nationale Frage von der Tagesordnung verschwinden und die Klassenfrage wieder in den Vordergrund treten. Es gibt jedoch zahlreiche Beispiele des gemeinsamen Klassenkampfes, die einen anderen Weg aufweisen. Die Beziehungen zwischen der frankophonen und der anglophonen Arbeiterklasse sind also keineswegs derart vergiftet (siehe Trotskyist Bulletin Nr. 6)

Die angebliche Vergiftung der Beziehungen zwischen den Arbeitern ist nur ein Vorwand. Für André wurde “diese Frage … im Wesentlichen entschieden damals in den 70ern mit der Einführung der Nur-Französisch-Sprachgesetze in Quebec”. Also nicht der Klassenstandpunkt sondern die Einführung nationalistischer Gesetze durch die Bourgeoisie sind für Workers Vanguard ausschlaggebend. Die Unabhängigkeit des Kosovo in den 90ern wäre ein passenderes Beispiel gewesen: Hier existierten tatsächlich zwei Parallelgesellschaften ohne jeden gemeinsamen Klassenkampf der Arbeiter. Deshalb mussten Revolutionäre – bis zu dem Zeitpunkt als die UCK während der NATO-Angriffe 1999 auf Serbien zum direkten militärischen Handlanger der Imperialisten wurde – die Unabhängigkeit des Kosovo fordern.

Im Falle Kurdistans nun ist André offensichtlich selbst der Meinung, es gäbe “jede Menge historische Erfahrungen, die zeigen, dass unsere Perspektive des vereinten Klassenkampfs des multinationalen Proletariats im Nahen Osten nicht einfach ein Wunschtraum ist” (WV, ebd., nach der Übersetzung in SPARTAKIST Nr. 152, Herbst 2003). Wohl wahr. Als ein Beispiel nennt er den Streik von Bergarbeitern im türkischen Zonguldak 1991, der angesichts des Irak-Krieges über ökonomische Forderungen hinausging.

“Solidaritätsstreiks gab es im kurdischen Ostanatolien und bei türkischen Arbeitern; Berichten zufolge erhoben die Bergarbeiter die Forderung nach dem Recht der Kurden, ihre eigene Sprache zu benutzen” (ebd.).

“Nun, was ist mit Kurdistan? … Wie kann man bestimmen, ob der Weg zur Assimilation der Kurden in die dominante arabische Nation noch offen ist, oder ob die nationalen Linien zu tief gezogen sind? Einfach die Frage zu stellen, heißt schon sie zu beantworten! Die Geschichte des kurdischen Volkes von seiner entschlossenen Rebellion gegen seine Unterdrücker – auf Kosten unzählbarer menschlicher Verluste – geht mehr als 80 Jahre zurück.” (ebd.; eigene Übersetzung).

Die Frage so zu stellen, heißt nicht nur Formen der nationalen Koexistenz – wie Autonomie oder als Minderheit mit garantierten Rechten – auszuschließen, es heißt, die Frage der möglichen kurdischen Assimilation nur im bürgerlichen Rahmen zu betrachten. Sie in diesem Rahmen zu verneinen ist, angesichts der scharfen Diskriminierung und Unterdrückung der Kurden, kombiniert mit der Perspektivlosigkeit des arabischen Kapitalismus, ein Leichtes. Aber André ist doch selbst der Meinung, dass eine Vereinigung und Lostrennung Kurdistans in diesem Rahmen überhaupt nicht zur Debatte steht:

“Es springt geradezu ins Auge, dass man, um Unabhängigkeit für die gesamte kurdische Nation zu erringen, mindestens vier kapitalistische Regime – und die damit einhergehende imperialistische Vorherrschaft – überall in dieser strategisch wichtigen Region durch Revolution zerstören muss. … Ein vereinigtes unabhängiges Kurdistan kann nur zustande kommen durch den Kampf für eine proletarische Revolution.

Das bedeutet, dass die Triebkraft für den Kampf um kurdische Unabhängigkeit im Proletariat der Länder zu finden ist, in denen die Kurden unterdrückt werden: die arabische, persische und türkische Arbeiterklasse. Die wiederum muss dafür gewonnen werden, aktiv das Recht der Kurden auf Selbstbestimmung zu verfechten. Es gibt keinen anderen Weg, den man sich auch nur entfernt vorstellen kann, um das demokratische Recht auf nationale Selbstbestimmung für das kurdische Volk zu erreichen. Innerhalb des nationalistischen Rahmens ist dies nicht einmal abstrakt vorstellbar” (ebd., unsere Hervorhebung).

Wir können diesen Worten nur zustimmen, auch wenn wir nicht so rigide jeden anderen, unwahrscheinlicheren Weg zur Lösung der nationalen Frage ausschließen. Wir binden uns nicht mit Spekulationen die Hände. Wichtig ist, dass das Proletariat unter allen Umständen das Wesentliche verteidigt – das Selbstbestimmungsrecht der Kurden. Die Frage der kurdischen Unabhängigkeit, im Rahmen der Sozialistischen Föderation des Nahen Ostens nach siegreichen, vereinten Klassenkämpfen in vier Staaten zu stellen, ist aber vom heutigen Standpunkt völlig spekulativ – denn es erfordert für Marxisten, nach der Beziehung der verschiedenen Arbeiterklassen zu fragen, und diese dürfte sich doch im Laufe derart umwälzender Ereignisse grundlegend ändern. Deshalb binden wir uns auch hier nicht die Hände und treten nur entschieden für das Wesentliche ein: das Selbstbestimmungsrecht und die Einheit im Klassenkampf.

Man muss schon mit sehr viel Inkonsequenz und/oder Zynismus gesegnet sein, um wie André Anstoß an unserer Position zu nehmen und diese als großmachtchauvinistisch zu bezeichnen:

“Es ist äußerst unwahrscheinlich, daß die entrechtete kurdische Nation auf einem anderen Weg als dem des Kampfes für eine Sozialistische Föderation des Nahen Ostens vereinigt werden könnte. Wie der Charakter der staatlichen Beziehungen zwischen der kurdischen und den anderen Nationen der Region unter der Diktatur der Arbeiterklasse letztendlich aussehen wird, kann nicht im voraus bestimmt werden. Das werden die Kurdinnen und Kurden selbst entscheiden. Allerdings, um überhaupt die Möglichkeit einer solchen Entscheidung zu haben, bedarf es einer Welle von siegreichen proletarischen Revolutionen.

Der Kampf für ein Unabhängiges Kurdistan’, so wie ihn die PKK vertritt, losgelöst von den Problemen der sozialen und politischen Realität, die sich für die Kurden ergibt und ohne irgendeinen sozialistischen Inhalt, kann nur in eine Sackgasse führen. Als Leninisten unterstützen wir natürlich das Recht auf nationale Selbstbestimmung; auch sind wir prinzipiell nicht dagegen, diese Forderung aufzustellen. Doch ergibt es keinen Sinn, ein unabhängiges kapitalistisches Kurdistan gegen die Option der schwachen kurdischen Bourgeoisie voranzutreiben, während die Mehrheit der kurdischen Bevölkerung unentschlossen ist. Vielmehr könnte eine solche Perspektive kurdische Revolutionäre von der Notwendigkeit abhalten, sich an den Kämpfen der Arbeiter und Bauern gegen den herrschenden Unterdrückerstaat zu beteiligen oder diese, falls möglich, zu initiieren. Der aussichtsreichste Weg, den Kampf für die kurdische nationale Befreiung zu gewinnen, ist der gemeinsame Klassenkampf zum Sturz der Despoten der Region” (BOLSCHEWIK Nr. 2, Dezember 1992).

Heute, wenn die PKK die Losung der Unabhängigkeit selbst fallen gelassen, den bewaffneten Kampf eingestellt und sich der türkischen Bourgeoisie und den Imperialisten angebiedert hat, heute, wenn die Imperialisten selbst mit ca. 200 000 hochgerüsteten Schlächtern im Irak stehen, ist diese Perspektive richtiger denn je.

Die Polemik der IKL gegen die IBT in der kurdischen Frage hat nichts mit dem wissenschaftlichen Streben nach Klarheit zu tun sondern mit dem zwanghaften Versuch, die IBT zu denunzieren. Die Internationalist Group (IG) um den ehemaligen Chefredakteur des Workers Vanguard Jan Norden und die IBT haben die Weigerung der IKL, beim Afghanistan-Krieg für die Niederlage des US-Imperialismus einzutreten, scharf kritisiert. Deshalb standen die Zentristen der IKL bei ihrem Versuch, ihrer opportunistischen Politik eine revolutionäre Fassade zu verpassen, mit dem Rücken zur Wand (siehe Trotskyist Bulletin Nr. 8).

Der Chauvinismusvorwurf in der Kurdenfrage gegen die IBT sollte genau davon ablenken und die IKL wieder zurück in die Offensive bringen. Der Schuss ging jedoch mächtig nach hinten los und entfaltet seine eigene opportunistische Logik:

Denn sofern André versucht, auf dem Boden des Leninismus zu argumentieren, kann er seine Kritik an der IBT nicht begründen. Deshalb muss Workers Vanguard diesen Boden verlassen und sich auf die Abwege des kleinbürgerlichen Nationalismus begeben:

“Für Leninisten zu bewerten, ob sie oder ob sie nicht zur Unabhängigkeit einer unterworfenen Nation raten, erfordert in der Tat eine konkrete Analyse. Aber es kann kaum einen klareren Fall geben als den der Kurden, die seit fast einem Jahrhundert gegen überwältigende Widerstände für nationale Befreiung gekämpft haben” (WV Nr. 804, 04.07.2003).

Alles was als Begründung bleibt, ist also der nationale Widerstand und Wille. Dieser ist für Marxisten aber nur ein Grund, für das Recht auf Selbstbestimmung einzutreten und den nationalen Befreiungskampf militärisch zu verteidigen. Wie viele Jahre des Kampfes und wie viele Tote muss es nach Meinung der IKL geben, damit Marxisten die Unabhängigkeit fordern? Die Wahrheit ist, dass Marxisten die Frage, ob sie selber die Forderung nach Unabhängigkeit auf ihre Fahne schreiben sollen, nicht nach dem Blutzoll sondern allein vom Klassenstandpunkt entscheiden. Macht man, wie WV, den entschlossenen nationalen Kampf zum Maßstab, so wird man über kurz oder lang bei (fast) jeder vitalen Nationalbewegung und (fast) jedem Fall ernster nationaler Unterdrückung nicht nur das Recht auf Selbstbestimmung sondern die Lostrennung fordern müssen. Zumindest mit dieser impliziten Logik reiht sich die SpAD/IKL ein in die Allianz jener, die den Leninismus missbrauchen für eine Anbiederung an den (klein-)bürgerlichen Nationalismus (siehe Artikel Leninismus und Lostrennung S. 12 in dieser Ausgabe).

Kleinbürgerlicher Nationalismus aber kann die Kurden nicht befreien. Dazu ist die Aufgabe zu gewaltig. Nur das Proletariat des Nahen Ostens hat die Macht, die vier Unterdrückerregime zu zerschlagen und die Imperialisten zu vertreiben. Im Rahmen einer Sozialistischen Föderation werden die Kurden frei über ihre nationale Zukunft entscheiden können. Dafür kämpfen wir.