Kristallisierte Konfusion

Zur Kapitulation der IG 2016 in Brasilien

Dieser Text ist die deutsche Übersetzung des Texts, den wir am 28.August 2019 gepostet haben:

Auf dem diesjährigen [2019] Pressefest der Lutte Ouvrière vor den Toren von Paris hielt die Internationalistische Gruppe  (IG) ein Forum ab, um die jüngsten Entwicklungen in Brasilien zu erörtern – insbesondere die reaktionäre, arbeiterfeindliche Politik des neu gewählten Präsidenten Jair Bolsonaro. Einer der Diskussionsschwerpunkte des Forums wurde von den Anhängern der Internationalen Kommunistischen Liga (die der Spartacist League/USA angegliedert ist, [in Deutschland die Spartakist Arbeiterpartei]) geliefert, die die Verteidigung der Präsidentin Dilma Rousseff von der reformistischen Arbeiterpartei (PT) durch die IG gegen die Anklagepunkte des Amtsenthebungsverfahren im Jahr 2016 scharf kritisierten. Die Kampagne gegen Rousseff aufgrund von im Wesentlichen falschen “Korruptionsvorwürfen” wurde von rechten Politikern geführt, die dafür bekannt sind, dass sie tatsächlich korrupt sind. Der Großteil der PT-Basis, einschließlich vieler der kämpferischeren Teile der Arbeiterklasse, befürchtete, dass ein rechter Nachfolger das Leben noch schlimmer machen würde, wenn Rousseff die Präsidentschaft verlieren würde. Gleichzeitig waren viele Anhänger der PT unzufrieden mit der Tendenz von Rousseff (und ihrem Vorgänger Luiz Inácio Lula da Silva alias “Lula”), die Interessen der brasilianischen Konzerne über die von Gewerkschaftern und armen Menschen zu stellen.

Die meisten linken Gruppen Brasiliens haben routinemäßig zur Wahl von PT-Kandidaten aufgerufen und sich, obwohl sie Rousseffs Amtsführung kritisch gegenüberstanden, gegen ihre Amtsenthebung ausgesprochen. Die IG und ihre brasilianische Schwesterorganisation (Liga Quarta-Internacionalista do Brasil [LQB]) waren bekannt dafür, dass sie jegliche Unterstützung bei den Wahlen für die PT mit der Begründung entschieden abgelehnt haben, dass sie als führende Kraft in einer klassenübergreifenden Verknüpfung (“Volksfront”) mit verschiedenen kapitalistischen Formationen und nicht als echte Arbeiterpartei agierte. Im Jahr 2016 brach die IG/LQB mit diesem Ansatz und schloss sich dem Chor der linken Organisationen an, die Rousseff gegen die Amtsenthebung verteidigten.

Die IG fühlte sich mit ihrer neuen Haltung eindeutig nicht wohl und versuchte, ihren Wechsel mit viel linker Rhetorik zu überspielen. In einer Sonderbeilage des Internationalist vom Mai 2016 zum Thema Amtsenthebungsverfahren prangerte die IG die rechte Kampagne an und kritisierte gleichzeitig scharf den wiederholten Verrat an den Arbeitern durch die Regierung Rousseff. Besonders hervorgehoben wurde, dass sich die IG/LQB ein dutzend Jahre lang geweigert hatte, den Kandidaten der PT jegliche Wahlunterstützung zu gewähren. Was nicht angesprochen wurde, war die unangenehme Tatsache, dass die IG, indem sie sich gegen die rechten parlamentarischen Versuche, Rousseff abzusetzen, stellte, in Wirklichkeit die Bewegung politisch unterstützte, um sie im Amt zu halten.

Ein im Wesentlichen ähnliches Problem stellte sich in Venezuela, als zwei Jahre nach dem gescheiterten Putsch von 2002 gegen den Linkspopulisten Hugo Chávez rechte Kräfte ein Referendum initiierten, um neue Präsidentschaftswahlen zu fordern. Marxisten würden niemals irgendeine Art von politischer Unterstützung für sich links gebende bürgerliche Populisten wie Chávez geben, aber das bedeutet nicht notwendigerweise die Unterstützung irgendwelcher und aller oppositionellen Initiativen, wie wir in unserem Kommentar zum venezolanischen Referendum erklärten:

“Wenn Marxisten die Wahl hätten, würden sie im Allgemeinen mit ‘Ja’ für die Beseitigung einer bürgerlichen Regierung stimmen. Aber im Falle des heutigen Venezuela kompliziert die Rolle des US-Imperialismus die Angelegenheit etwas. Es hat in der Vergangenheit ähnliche Situationen gegeben, in denen Revolutionäre nicht darauf gedrängt haben, ähnliche Versuche zu einem Erfolg zu führen, insbesondere der von den Nazis initiierte ‘Rote Volksentscheid’ gegen die sozialdemokratische Regierung Preußens…, der scheiterte, als die gemeinsamen Bemühungen der Stalinisten und Nazis nicht die Unterstützung der Mehrheit der Wählerschaft erhielten.”
1917 Nr. 28, “On the 2004 Venezuelan Referendum” [“Über das venezolanische Referendum 2004”]

Wir erinnerten an Trotzkis Betrachtung:

„Das Problem ist also das Kräfteverhältnis. Auf die Straße gehen mit der Losung ‘Nieder mit der Brüning-Braun-Regierung!’, wenn – aufgrund des Kräfteverhältnisses – diese Regierung nur durch eine Regierung Hitler-Hugenberg ersetzt werden kann, ist reines Abenteurertum. Die gleiche Parole bekommt jedoch einen völlig anderen Sinn, wenn sie zur Einleitung des unmittelbaren Kampfes des Proletariats um die Macht wird.“
—Leo Trotzki, Gegen den Nationalkommunismus—Lehren des ‘Roten’ Volksentscheids

Die Amtsenthebungskampagne 2016 in Brasilien wurde, wie auch die Abberufungskampagne 2004 in Venezuela, von einheimischen rechten Kräften vorangetrieben, die in Absprache mit Washington handelten. Für viele Linke ist eine schwache imperialistische Unterstützung für die einheimische rechte “Rechtskampagne” Grund genug, mit dem betroffenen Regime Seite zu beziehen. Aber dieses zu tun bedeutet, einer bürgerlichen Regierung politische Unterstützung zu geben.

Revolutionäre unterscheiden qualitativ zwischen parlamentarischen/legalistischen Manövern (z.B. Amtsenthebungen, Misstrauensanträge, Abberufungsanträge usw.) und außergesetzlichen militärischen Interventionen wie denen gegen die spanische und chilenische Volksfront in den Jahren 1936 und 1973 oder Chávez im Jahr 2002. Marxisten verteidigten all diese Regime militärisch gegen rechte Angriffe, ohne irgendeines von ihnen politisch zu unterstützen. Vorbild dafür war die Verteidigung der Provisorischen Regierung von Alexander Kerenski 1917 durch die Bolschewistische Partei gegen einen Militärputsch unter Führung von General Lawr Kornilov. Zuweilen kann eine unheilvolle außerparlamentarische Reaktion eine parlamentarische Gestalt annehmen (z.B. die Ernennung Hitlers zum deutschen Kanzler 1933), aber, wie wir in Bezug auf Venezuela anmerkten, gibt es in solchen Fällen keine wirksame Antwort innerhalb des rechtlichen/wahltaktischen Rahmens:

“Wir würden zwar niemals für einen Christdemokraten oder Gaullisten stimmen, um einen Nazi aus dem Amt zu halten, aber wir würden sicherlich eine energische Massenaktion befürworten, um einen faschistischen Wahlsieg zu verhindern. Wir wollen Le Pen nicht als Präsidenten Frankreichs, aber wir sind nicht bereit, für Chirac zu stimmen — nicht nur aus Prinzip, sondern auch, weil wir erkennen, dass die Idee des wahltaktischen Widerstands nur eine lähmende Illusion sein kann, wenn die Gesellschaft einer Machtübernahme durch die Front National so nahe ist. In solchen Situationen oder im Falle eines weiteren Putschversuchs der Rechten in Venezuela besteht die dringende Pflicht der Revolutionäre darin, die Arbeiterklasse zum Kampf zu mobilisieren.”
—ebenda

In Brasilien veranlasste die Absicht der IG/LQB, mit der PT-Basis in Kontakt zu treten, sie dazu, Rousseff zu verteidigen und den Slogan “Nein zur Amtsenthebung!” aufzustellen. In dem Versuch, die unbequeme Tatsache zu verschleiern, dass dieses auf politische Unterstützung hinauslief, fügte die IG einen weiteren Slogan hinzu, der das genaue Gegenteil besagte: “Keine politische Unterstützung für die Volksfrontregierung der Bourgeoisie”. Ist die IG-Führung der Ansicht, dass sich die rechtlichen/parlamentarischen Verfahren zur Amtsenthebung einer Präsidentin qualitativ irgendwie von denen unterscheiden, mit denen sie überhaupt erst ins Amt gebracht wurde? Die lautstarken Erklärungen über “keine politische Unterstützung” bei gleichzeitiger Verteidigung Rousseffs gegen eine Amtsenthebung erinnern an Oscar Wildes Witz über die Heuchelei als Huldigung, die das Laster der Tugend erweist.

Die IG hat völlig Recht, dass die “Operation Carwash”, die gerichtliche Untersuchung von Rousseff, ein Schwindel war. Aber sich den zynischen juristischen Manövern der Rechten zu widersetzen, erfordert keine politische Unterstützung ihrer Opfer in der Volksfront. Wie die Brasilien-Beilage der IG einräumte, entstanden Rousseffs Probleme, weil viele Arbeiter, die zuvor die PT gewählt hatten, durch die von der Regierung vorgelegte Bilanz, sich dem Großkapital anzupassen, sich von ihr abwandten. Die IG schrieb:

“Um ihre Position in der Regierung zu sichern, bildete die PT einen Block mit den Spitzenunternehmen, darunter Odebrecht, OAS, Cmargo [sic] Correia, Andrade Gutierrez und andere Bauunternehmen, die während der Militärdiktatur gegründet wurden oder sich während der Militärdiktatur bereichert hatten. Wir haben hier einen weiteren Beweis dafür, dass die Volksfrontregierungen sich nicht nur mit dem Imperialismus verbündet haben, sondern auch mit dem Großkapital auf nationaler Ebene…”
Internationalist, Sonderbeilage, Mai 2016

Selbst mitten in der Kampagne gegen Rousseff schlug die PT immer noch neue Eingriffe in die Arbeiterrechte vor:

“Die Regierung hat dem Kongress bereits eine Reihe von Gesetzen vorgelegt, die die jahrzehntelangen Errungenschaften der brasilianischen Arbeiterklasse zunichte machen werden. Selbst inmitten des Durcheinanders der letzten Tage unterzeichnete Dilma am 17. März [2016] das Anti-Terrorismus-Gesetz, um soziale Proteste, vor allem der Arbeiterklasse, zu unterbinden, die zum Verbot von Demonstrationen benutzt werden sollen…”
—ebenda

Die Konsequenzen dieses Verhaltens waren vorhersehbar:

“Heute haben Lula und Dilma in Brasilien die Interessen der Werktätigen heftig angegriffen und die Bourgeoisie verteidigt, die ihre Volksfrontregierung vertritt. Es gibt eine völlig gerechtfertigte Ablehnung der PT in wichtigen Schichten der Jugend und des proletarischen Sektors. Tausende haben das Gefühl, dass Lula diejenigen verraten hat, die für ihn gestimmt haben.”
—ebenda

Der wiederholte Verrat der Volksfront hat dazu beigetragen, die Tür für die Reaktion zu öffnen:

“Im Namen der Korruptionsbekämpfung hat die ‘Operação Lava Jato’ (Operation Car Wash) grünes Licht für den Repressionsapparat gegeben. Die Justiz und die Polizei sind der zivil-rechtlichen Kontrolle entglitten, ignorieren Gesetze und stellen sich über jede vom Volk gewählte Instanz. Heute greifen sie Dilma und Lula an, morgen werden ihre Ziele die Renten, Löhne und Arbeitsplätze der Werktätigen sein – und die Organisationen der Arbeiterbewegung. Täuscht euch nicht, die demokratischen und Arbeiterrechte werden angegriffen. Um diese finstere bonapartistische Offensive zu besiegen, brauchen wir eine machtvolle revolutionäre Mobilisierung der Arbeiterklasse.”
—ebenda

Der Ruf nach einer “machtvollen revolutionären Mobilisierung” zur Verteidigung Rousseffs klang kämpferischer als die banale „ Vereint gegen Rechts“-Propaganda der übrigen Linken, aber, wie die IG/LQB einräumte, ähnelte die Agenda der PT-Präsidentin im Wesentlichen der ihrer rechten Gegner:

“der Putsch gegen die Werktätigen – die tödliche ‘Haushaltsanpassung’ (Haushaltskürzungen), die Renten- und Arbeitsmarkt-‘Reformen’ – preschte mit dem Wind in den Segeln voran, ob unter dem Kommando der PT oder der Rechten oder einer ‘technokratischen’ Regierung. Deshalb müssen wir zur gleichen Zeit, in der es notwendig ist, die Macht der Arbeiterbewegung zu mobilisieren, um den Weg der bonapartistischen Offensive zu blockieren, diese Macht gegen die arbeiterfeindliche Politik einsetzen, die die bürgerlichen Kräfte im Konflikt vereint, sowohl die rechte Opposition als auch die Volksfront, die immer noch im Amt ist.
—ebd., Hervorhebung hinzugefügt

Die IG/LQB beschrieb den Konflikt zutreffend als “einen Zusammenstoß zwischen zwei Fraktionen der Bourgeoisie, dem traditionellen rechten Flügel und der Volksfront”, äußerte jedoch die Sorge, dass die Arbeiterbewegung geschwächt werden könnte, wenn die PT “zerschlagen” würde:

“Vergesst die angeblichen ‘Verbrechen’ (der ‘Verantwortung’, d.h. der Präsident wird nicht beschuldigt, persönlich etwas getan zu haben), im Grunde ist dies einerseits ein politischer Racheakt, ein Zusammenprall zwischen zwei Fraktionen der Bourgeoisie, dem traditionellen rechten Flügel und der Volksfront. Andererseits bietet er die Chance, die PT, eine reformistische Arbeiterpartei – oder wie Lenin die britische Labour Party beschrieb: eine “bürgerliche Arbeiterpartei”– zu zerschlagen und dadurch den Widerstand der Arbeiter gegen die Wirtschaftsreformen zu schwächen, die darauf abzielen, die Profitrate in die Höhe zu treiben. Wie ein Transparent vor der FIESP-Ente [gemeint ist ein Transparent vor einer aufblasbaren überdimensionalen Ente, die FIESP ist ein regionaler Kapitalistenverband, Anmerkung des Übersetzers] während der rechtsgerichteten Besetzung der Avenida Paulista sagte: ‚Vernichtung der PT: unbezahlbar‘.”

—ebenda

Die IG/LQB räumte ein, a) dass der rechtliche Streit um die Amtsenthebung im Wesentlichen eine inner-bürgerliche Auseinandersetzung war, in der beide Seiten eine “arbeiterfeindliche Politik” verfolgten, und b) dass die Volksfront die Arbeiterbewegung so sehr demobilisierte und die PT in Misskredit brachte, dass ihr bei den Wahlen die “Vernichtung” drohen könnte. Die offensichtliche Schlussfolgerung hätte die Forderung nach einem radikalen Bruch mit den Verrätern der PT und dem Aufbau einer neuen Massenarbeiterpartei sein müssen, die sich der entschlossenen Fortsetzung des Klassenkampfes verpflichtet fühlt. Doch stattdessen sorgte sich die IG/LQB um den Verbleib Rousseffs im Amt und um das Überleben der PT.

Der Versuch der IG/LQB, auf zwei Hochzeiten zu tanzen, führte zu politischer Inkonsequenz. Während sie sich bei der “parlamentarischen Auseinandersetzung” um die Amtsenthebung auf die Seite der PT stellte, erklärte sie auch: “Wir sind politisch gegen die beiden streitenden Lager, weil es kapitalistische Kräfte sind, die eine arbeiterfeindliche Politik betreiben”. Obwohl sie angeblich gegen beide Lager war, unterstützte sie Rousseff tatsächlich mit der Begründung, dass ihre Gegner eine ernsthafte Bedrohung für “demokratische und gewerkschaftliche Rechte” darstellten:

“Dies ist ein innerbürgerlicher Streit zwischen der rechten Opposition und der regierenden Volksfront. Wir sind politisch gegen die beiden streitenden Lager, weil es kapitalistische Kräfte gibt, die eine arbeiterfeindliche Politik betreiben. Die Frage der politischen Korruption war schon immer ein Schlachtruf ultra-rechter und faschistischer Kräfte… Wir sind gegen die Amtsenthebung Dilmas, nicht weil die Präsidentin und ihre Koalition angeblich fortschrittlicher sind, sondern weil es vor allem eine Abrechnung und politische Rache ist, die von reaktionären Kräften vorangetrieben wird, deren Sieg die Angriffe auf die demokratischen und gewerkschaftlichen Rechte der Arbeiter und Unterdrückten verschlimmern würde.”
—ebenda

Diese Argumentationslinie wird jedem bekannt vorkommen, der jemals Wahltaktiken mit stalinistischen Anhängern des „kleineren Übels“ a la “Vereinigt euch gegen die Rechte” diskutiert hat. Vorgebliche Trotzkisten, die diese Politik vorantreiben, beginnen typischerweise damit, dass sie ihre prinzipielle Opposition gegen die Wahl bürgerlicher Kandidaten verkünden, und dann erklären, dass sie in der gegenwärtigen Konjunktur aufgrund besonderer Umstände gezwungen sind, eine Ausnahme zu machen. Darauf läuft das Argument der IG in etwa hinaus: Rousseff sollte unterstützt werden, um zu vermeiden, dass “politische Rache von reaktionären Kräften getrieben wird, deren Sieg die Angriffe auf demokratische und gewerkschaftliche Rechte der Arbeiter und Unterdrückten noch verschärfen würde”.

Der Widerspruch in der Politik der IG wurde in den drei Slogans auf der Titelseite der Beilage vom Mai 2016 deutlich sichtbar:
“Nein zur Amtsenthebung!
“Für eine Arbeitermobilisierung gegen die Offensive der bürgerlichen Rechten”
“Keine politische Unterstützung für die bürgerliche Volksfrontregierung “

Ein kluger Leser könnte sich fragen, warum der Widerstand gegen die Amtsenthebung des Anführers einer “bürgerlichen Volksfrontregierung” nicht als eine Form der politischen Unterstützung gelten sollte. Oder warum angesichts der lebhaften Beschreibungen der IG über die “heftigen Angriffe” der Volksfront, die darauf abzielen, “jahrzehntelange Errungenschaften der brasilianischen Arbeiterklasse zunichte zu machen”, Linke solche Leute trotzdem im Amt halten wollen. Schließlich hätte eine ernsthafte Mobilisierung gegen die rechte Offensive, wie sie die IG vorschlug, sowohl auf die arbeiterfeindlichen Maßnahmen der Volksfront als auch auf die neuen, von den traditionelleren Parteien der Konzernbosse geplanten Maßnahmen abzielen müssen.

Revolutionäre, die sich weigerten, Rousseff politisch zu unterstützen, hätten Aktivisten, die an den Anti-Amtsenthebungsmobilisierungen beteiligt waren, dadurch erreichen können, dass sie klar ihr Engagement zur Bekämpfung der bürgerlichen Reaktion demonstriert und sich aktiv an jeder Form des Widerstands gegen die unheilvollen Pläne der Organisationen der kapitalistischen Reaktion beteiligt hätten. Im Kampf gegen die Agenda der rechten Gegner der PT hätte eine revolutionäre Organisation viele Gelegenheiten gehabt, Aktionen vorzuschlagen, um die unter Rousseff durchgeführten arbeiterfeindlichen Maßnahmen rückgängig zu machen. Eine proletarische Gegenoffensive hätte nicht nur Arbeiter mobilisieren können, die gegen Rousseffs Amtsenthebung waren, weil sie eine rechte Machtübernahme befürchteten, sondern auch diejenigen, die durch den Verrat der PT verärgert und demoralisiert worden waren. Eine trotzkistische Führung hätte aggressiv versucht, Kämpfer aus beiden Lagern in einem gemeinsamen Kampf zur Eliminierung der bürgerlichen Angriffe zu vereinen. Ein erfolgreicher Gegenschlag hätte die Grundlage für die Gründung einer echten Arbeiterpartei mit einem revolutionären Programm bilden können. Hätte die IG, anstatt eine Forderung zu stellen, die darauf hinauslief, Rousseff im Amt zu halten, den Kampf für den Bruch mit der Klassenzusammenarbeit der PT in den Vordergrund gestellt, hätte sie nur eine ihrer drei Massenslogans ändern müssen. In diesem Fall hätte die Schlagzeile auf ihrer Beilage vom Mai 2016 lauten können:

“Für eine Arbeitermobilisierung gegen die Offensive der bürgerlichen Rechten”
“Keine politische Unterstützung für die bürgerliche Volksfrontregierung”
“Brecht mit der PT – Für den Aufbau einer kämpfenden Arbeiterpartei”

In einem Versuch, die Quadratur des Kreises zu erreichen, der durch die Absurdität geschaffen wurde,  Seite für Rousseff „in einem inner-bürgerlichen Streit“ zu ergreifen und gleichzeitig zu behaupten, man stelle sich „politisch gegen die beiden streitenden Lager”, behauptete die IG irreführend, dass „die Lehren aus dem Kerenski-Kornilow-Zusammenstoß in Russland 1917 in Brasilien um 2016 herum von Bedeutung sind”, und zitierte dafür Trotzkis Bemerkung: “Nicht einen Augenblick lang zögerte sie [die bolschewistische Partei], ein praktisches Bündnis [mit Kerenski und anderen] zum Kampf gegen Kornilow zu schließen…”

Das Problem ist, dass die Situation in Brasilien 2016 völlig anders war als die in Russland ein Jahrhundert zuvor. Das Ziel von Kornilows Putsch war nicht die in Misskredit geratene Volksfrontregierung Kerenskis, sondern die aufständische Arbeiterbewegung Petrograds und ihre bolschewistische Führung. Der Internationalist räumte ein, dass die Analogie zu 1917 unvollkommen sei, da es in Brasilien weder Sowjets noch “eine revolutionäre marxistische Partei” gebe. Der andere große Unterschied bestand darin, dass es nie eine echte Gefahr eines Militärputsches gab, wie die IG zugab:

“Höchstwahrscheinlich wird es keinen Putsch geben, da mit der Amtsenthebung der rechte Flügel sein Hauptziel erreicht haben wird. Aber zur Zeit stehen wir vor einer gefährlichen Offensive der Justiz- und Polizeibehörden, und die Offensive der gesamten Bourgeoisie gegen die Werktätigen schreitet mit Höchstgeschwindigkeit voran.”
Internationalist, Sonderbeilage, Mai 2016

Indem sie das parlamentarische Gezänk in Brasilien fälschlicherweise mit dem tatsächlichen Putsch in Petrograd gleichsetzte, zog die IG “die grundlegende Lehre”, dass “man angesichts einer tödlichen Bedrohung einen militärischen Block bilden kann, in der Aktion, ohne dem Blockpartner politische Unterstützung zu geben…”. Aber wenn es keine Putschgefahr gab, dann gab es offensichtlich keine Grundlage für irgendeine Art von ” militärischen Block, in der Aktion “. Die Bolschewiki reagierten auf einen Putsch der Rechten, nicht auf ein parlamentarisches Mißtrauensmanöver. Der Versuch der IG, ihre politische Unterstützung für Rousseff als irgendwie gleichwertig mit einem “Militärblock” gegen den rechten Terror darzustellen, ist daher völlig unzulässig.

Die IG erkannte an, dass die Regierung Rousseffs kein Hindernis für die anstehende “Offensive der gesamten Bourgeoisie gegen die arbeitenden Menschen” darstellte, und stellte fest:

“[Es] ist von grundlegender Bedeutung zu verstehen, dass es im Kapitalismus keine Lösung für die tiefe wirtschaftliche Krise gibt, die die politische Krise in Brasilien ausgelöst hat. Nur wenn wir für die Mobilisierung der Arbeiter kämpfen, die zu einer sozialistischen Revolution führt, können wir die Bestrebungen vereiteln, das Kapital gegen den Widerstand der Arbeiter zu schützen…”.
—ebenda

Aber jeder Versuch, solche Mobilisierungen aufzubauen, hätte nur dadurch abgelenkt werden können, dass man sich auf das Kleinstmanöver zur Amtsenthebung einließ. Wie der Internationalist kommentierte:

“Der wirkliche Putsch, dem man sich widersetzen muss, ist die arbeiterfeindliche Offensive des Kapitals – Haushaltskürzungen, Privatisierungen und Renten- und Arbeits-‘Reformen’, die sowohl von der bürgerlichen Rechten als auch von der kapitalistischen Volksfrontregierung unter Führung der Arbeiterpartei von Lula und Dilma vorangetrieben werden.”
—ebenda

Ungeachtet der verwirrten Doppelzüngigkeit der IG ist das Thema nicht so sehr kompliziert. Volksfronten, ob im Amt oder nicht, verdienen keine politisch-parlamentarische Unterstützung von Revolutionären – wir wollen ihnen weder ins Amt helfen noch sie nach ihrer Wahl im Amt halten. Das war Lenins Haltung gegenüber Kerenskis Provisorischer Regierung – die Bolschewiki verteidigten sie gegen einen außerparlamentarischen Staatsstreich, ohne ihr jemals politische Unterstützung zu geben.

Der Versuch der IG, die Dinge durcheinanderzubringen, indem sie sich auf Kornilows Militärrevolte berief, war lediglich ein Ablenkungsmanöver, aber die französischen Präsidentschaftswahlen von 2002 bieten eine treffende Analogie. Als Jacques Chirac, der Kandidat der traditionellen Rechten, im zweiten Wahlgang gegen Jean-Marie Le Pen, den führenden Faschisten des Landes, antrat, rief praktisch die gesamte französische “radikale Linke” dazu auf, “gegen Le Pen” (d.h. für Chirac) zu stimmen, um einen faschistischen Wahlsieg abzuwenden. Die meisten Gruppen am radikaleren Ende des Spektrums derjenigen, die sich als Trotzkisten identifizieren (einschließlich uns und der IG) weigerten sich, Chirac politisch zu unterstützen, und riefen stattdessen zu Massenmobilisierungen der Arbeiter auf, um die außerparlamentarischen Schläger von Le Pens Front National zu bekämpfen.

Die IG stellte fest, dass “Chirac einen Großteil des reaktionären Programms von Le Pen umsetzen wird” (Internationalist, April 2002) und argumentierte, dass die Notwendigkeit, die “rassistischen Mörder” im Zentrum von Le Pens Bewegung zu vernichten, keine Verpflichtung beinhalte, dem Kandidaten des Klassenfeindes politisches Vertrauen zu schenken. Der Internationalist vom Mai 2002 erinnerte treffend an Trotzkis Kommentar vom April 1933 darüber, wie das Streben der deutschen Sozialdemokraten nach dem “kleineren Übel” dazu beitrug, Hitler die Tür zu öffnen:

“Die Sozialdemokratie, die bei der Verfolgung des ‘kleineren Übels’ von einem Schritt zum anderen hinabstieg, endete damit, dass sie für den reaktionären Feldmarschall Hindenburg stimmte, der seinerseits Hitler an die Macht rief. Indem die Sozialdemokratie das Proletariat durch Illusionen der Demokratie in den zerfallenden Kapitalismus demoralisierte, beraubte sie das Proletariat all seiner Widerstandskräfte.” [Eigene Übersetzung]                                                                                                                                                                                                          —ebenda, Hervorhebung im Original

Die IG hat Hindenburg und Chirac richtigerweise gleichgesetzt:

“Die heutige Aufforderung an die Arbeiter, im Namen einer ‘weniger schlimmen’ Politik für Chirac gegen Le Pen zu stimmen, wird ebenfalls ihre Widerstandskraft gegen die Angriffe des Kapitals untergraben. Die parlamentarische Spielerei mit bürgerlichen ‘Demokraten’ ist kein Hindernis für die Faschisten, denn sie vertreten letztlich dieselben Klasseninteressen. Um Leute wie Le Pens Front National und Hitlers Nationalsozialisten zu stoppen, ist es notwendig, die Macht der Arbeiter in einer vereinten Klassenaktion zu mobilisieren, um das faschistische Gesindel von den Straßen zu fegen und den Weg zur proletarischen Revolution zu ebnen.”
—ebenda, Hervorhebung im Original

Die französische Linke war fassungslos, als Le Pen den amtierenden Premierminister Lionel Jospin, der als Kandidat der Sozialistischen Partei kandidierte, verdrängte. Wie die IG feststellte, spiegelte dieses unerwartete Ergebnis die weit verbreitete Unzufriedenheit der Arbeiterklasse mit der Bilanz der Volksfront wider:

“Die Volksfrontregierung der ‘pluralen Linken’ unter [dem sozialistischen Premierminister] Lionel Jospin wurde eingesetzt, um diese Kampflust [der Massenstreikwelle von 1995, die die herrschende Klasse erschütterte] umzuleiten und zu zerstreuen. Nun, da ihre Arbeit getan ist, wird die Volksfront ‘wie eine ausgequetschte Zitrone’ beiseite geworfen.”
—ebenda

Sowohl in Brasilien als auch in Frankreich hat die prokapitalistische Politik der Volksfrontregierung “das Proletariat demoralisiert” und ihren rechten Gegnern die Möglichkeit gegeben, sie mit legalen, verfassungsmäßigen Mitteln zu verdrängen. Beide Situationen ähnelten sich grundsätzlich, doch die Reaktionen der IG waren sehr unterschiedlich. In Brasilien (wo die IG eine Gruppe von Genossen hat) gab sie sich den populären Illusionen über das “kleinere Übel” der bürgerlichen Politiker hin, während sie in Frankreich, wo die IG nichts hatte und daher nichts riskierte, am trotzkistischen Prinzip festhielt und sich weigerte, Chirac gegen Le Pen zu unterstützen.

All die komplizierten Doppelzüngigkeiten über Brasiliens Amtsenthebungskrise — ein Beispiel für das, was Trotzki als “kristallisierte Konfusion” beschrieb — war von dem Wunsch motiviert, den opportunistischen Impuls hinter der Verteidigung Rousseffs zu verbergen. Trotz jahrelangem Beharren auf die totale und absolute Opposition gegen das Volksfrontdenken war der Preis, “gegen den Strom zu schwimmen”, einfach zu hoch. Aber da sich die IG dafür entschieden hatte, mit dem Strom zu schwimmen, hoffte sie, ihre Kapitulation mit Getöse und pseudo-durchdachten Begründungen zu verbergen.

Die IG ist eine Organisation, die sich aus ernsthaften Menschen zusammensetzt, die seit mehreren Jahrzehnten energisch die Aufgabe verfolgt haben, eine lebensfähige revolutionäre Organisation aufzubauen, und die, das muss gesagt werden, oft wertvolle Analysen erstellt und nützliche politische Interventionen durchgeführt haben. Aber diese Episode wirft ein weniger schmeichelhaftes Licht auf die IG und untergräbt ihren Anspruch, konsequent und unbeirrt für ein wirklich revolutionäres Programm einzutreten.

Wie Trotzki anmerkte, können Kratzer in der revolutionären Politik manchmal zu Wundbrand führen. Theoretisch sollte es für die IG eine relativ einfache Sache sein, zurückzugehen, ihre Bilanz zu Brasilien kritisch zu prüfen und ihren Fehler rückwirkend zu korrigieren. Wir würden einen solchen Schritt als Beweis für die revolutionäre Gesundheit begrüßen. Doch leider hat die IG-Führung bisher eine ausgeprägte Unfähigkeit gezeigt, ihre Fehler zu erkennen, Verantwortung für sie zu übernehmen und sie öffentlich zu korrigieren. Defensive und unvorhersehbare Reaktionen auf berechtigte Kritik ist ein schwerwiegender Mangel für eine Gruppe von Möchtegern-Revolutionären. Diese Tendenz muss korrigiert werden, wenn die Genossen der IG eine positive Rolle im Kampf um die Schmiedung einer lebensfähigen, authentisch trotzkistischen Führung für die internationale Arbeiterklasse spielen sollen.