Von der NÖP zur Zwangskollektivierung

Nach vier Jahren Bürgerkrieg und drei Jahren eines verheerenden Weltkriegs hatte das russische Proletariat, das nie mehr als ein paar Millionen Menschen zählte, 1921 fast aufgehört zu existieren. Die russischen Städte waren entvölkert, und den wenigen Fabriken, die noch in Betrieb waren, fehlte es an Rohstoffen. Die meisten Industriearbeiter, die die Oktoberrevolution unterstützt hatten, waren entweder im Bürgerkrieg umgekommen oder in den staatlichen Verwaltungsapparat eingegliedert worden; die Übriggebliebenen waren gezwungen, sich entweder auf dem Schwarzmarkt durchzuschlagen oder auf das Land zurückzukehren. Russland war zu einem Arbeiterstaat ohne Arbeiterklasse geworden.

In der Spätphase des Bürgerkriegs schlug Leo Trotzki, der Chef der Roten Armee, eine radikale Wende vor, um der seiner Meinung nach zunehmend gefährlichen Situation zu begegnen:

„Im Februar 1920, vor dem neunten Parteitag, als der Bürgerkrieg bereits beendet schien, schlug Trotzki im Politbüro vor, die Requirierung von Überschüssen durch eine prozentuale Besteuerung der Produktion zu ersetzen und den Warenaustausch mit der Bauernschaft auf eine individuelle statt auf eine kollektive Basis zu stellen. Er wurde jedoch von Lenin abgelehnt und erhielt nur vier der fünfzehn Stimmen….. Aber nur ein Jahr nach Trotzkis ursprünglicher Initiative, am 8. Februar 1921, veranlasste eine Diskussion über die Agrarpolitik im Politbüro Lenin, ein erkennbar ähnliches Projekt vorzuschlagen.“
– E. H. Carr, The Bolshevik Revolution, Band II (Die bolschewistische Revolution) [eigene Übersetzung]

Lenins „Neue Ökonomische Politik“ (NÖP) wurde von der überwiegenden Mehrheit der Parteimitglieder als die einzige Möglichkeit angesehen, die Wirtschaftstätigkeit wiederzubeleben und der Bevölkerung ein Existenzminimum zu sichern. Lenin gab zu, dass dies eine „an der ökonomischen Front eine ziemlich schwere ökonomische Niederlage“ darstellte:

„Wir glaubten, in einem Lande mit einem deklassierten Proletariat würden auf kommunistisches Geheiß Produktion und Verteilung zustande kommen. Wir werden das ändern müssen, weil wir sonst das Proletariat mit diesem Übergang nicht vertraut machen können. Solche Aufgaben wurden in der Geschichte noch niemals gestellt. Als wir versuchten, diese Aufgabe direkt, sozusagen durch einen Frontalangriff, zu lösen, erlitten wir einen Mißerfolg. Solche Fehler kommen in jedem Krieg vor, und sie gelten nicht als Fehler. Ist der Frontalangriff mißglückt, so greifen wir zur Umgehung, rücken mittels Belagerung und Minierarbeit vor.“
– Wladimir Iljitsch Lenin, Die Neue Ökonomische Politik und die Aufgaben der Ausschüsse für politisch-kulturelle Aufklärung, 17. Oktober 1921, Lenin-Werke Bd. 33, S.50

Als Lenins politisches Engagement in der Zeitspanne bis zu seinem Tod im Januar 1924 abnahm, geriet die Kommunistische Partei der Sowjetunion in einen langwierigen Fraktionskampf.  Nikolai Bucharin, der zuvor den linken Flügel der Partei angeführt hatte, schwenkte weit nach rechts und vertrat die Wiederherstellung der Marktbeziehungen auf dem Lande, wobei er die Auffassung vertrat, dass eine sozialistische Entwicklung voraussetze, dass sich die wohlhabenderen Bauern (Kulaken) „bereichern“. Bucharin argumentierte, dass arme Bauern, die Subsistenzlandwirtschaft betrieben, nicht genug produzieren konnten, um die Städte zu ernähren, geschweige denn Überschüsse für den Export zu erzeugen, so dass es keine andere Wahl gab, als die Kulaken zu unterstützen. Er hoffte, dass sie mit steigendem Einkommen einen Markt für Konsumgüter sowie für Landmaschinen und Düngemittel schaffen würden, was wiederum die Voraussetzungen für eine Wiederbelebung der staatlichen Industrie schaffen würde.

Diese Pro-Kulaken-Orientierung, die von Josef Stalins Zentrumsfraktion unterstützt wurde, lehnten Trotzki und die Linken Opposition ab, deren führender Wirtschaftswissenschaftler, Evgeni Preobraschenskij, auf den offensichtlichen Fehler in Bucharins Wette auf die Kulaken hinwies – die Unfähigkeit der russischen Industrie, irgendetwas zu produzieren, um die Produkte der Bauern zu ersetzen. (Einige Jahre zuvor, 1919, hatten Preobraschenskij und Bucharin gemeinsam das ABC des Kommunismus verfasst, ein viel gelesener Text, der dazu beitrug, den Marxismus während des Bürgerkriegs populär zu machen.)

Die Linke Opposition ging von der Erkenntnis aus, dass die russischen Industriebetriebe einer umfassenden Modernisierung bedurften, die umfangreiche Käufe moderner Maschinen aus dem Ausland erforderte, und schlug vor, dass diese unerlässlichen Investitionen nur durch den Export von Getreide und anderen landwirtschaftlichen Erzeugnissen finanziert werden könnten. Preobraschenskij schlug eine Hinwendung zur „ursprünglichen sozialistischen Akkumulation“ vor, und zwar durch eine progressive Besteuerung der bäuerlichen Erzeugnisse und Beschränkungen des städtischen Verbrauchs, einschließlich Zuweisungen für Industriearbeiter. Diese Maßnahmen waren als kurzfristige Maßnahmen gedacht, die gelockert werden könnten, wenn die Einnahmen aus dem Getreideverkauf im Ausland die Anschaffung moderner Maschinen finanzierten, die für eine schrittweise Ausweitung der industriellen Produktion erforderlich waren. Die Opposition beharrte darauf, dass es ohne die Wiederbelebung der Industrie unmöglich sein würde, die Nachfrage der Bauern im Inland zu befriedigen – was unweigerlich einen enormen Druck erzeugen würde, die Wirtschaft für das Eindringen ausländischer Kapitalisten zu öffnen.

Die Stalin-Bucharin-Führung, die Trotzki und seine Anhänger als „Superindustrialisierer“ abtat, die der Bauernschaft von Natur aus feindlich gesinnt waren, verfolgte weiterhin blindlings eine Politik der zunehmenden Ungleichheit auf dem Lande, da die Kulaken begannen, sich zu „bereichern“, indem sie ihre verarmten Nachbarn als Arbeitskräfte anheuerten. Das Ergebnis war, wie die Linke Opposition vorausgesagt hatte, dass der Mangel an Industriegütern aus den maroden russischen Fabriken zu einem dramatischen Anstieg der Preise für die Landbevölkerung führte. Die Kulaken reagierten darauf, indem sie Getreide zurückhielten, um ihren Forderungen nach besseren Handelsbedingungen Nachdruck zu verleihen. Als der Staat mit Strafexpeditionen und der gewaltsamen Beschlagnahmung von Lebensmittelvorräten reagierte, traten die reichen Bauern in den Streik, die landwirtschaftliche Produktion ging drastisch zurück und schließlich kam es zu einer Hungerskatastrophe im Land.

Der Kulaken-Aufstand war das völlig vorhersehbare Ergebnis einer Politik, die sich beim Aufbau einer kollektivierten Wirtschaft auf kapitalistische Unternehmer stützte. 1928, als die von der Linken Opposition seit langem erwartete Krise ausbrach, beschrieb Stalin das Geschehen wie folgt:

„Das Geheimnis liegt darin, dass der Kulak in diesem Jahr die Möglichkeit erhielt, diese Schwierigkeiten auszunutzen, um die Getreidepreise in die Höhe zu schrauben, eine Attacke gegen die sowjetische Preispolitik zu unternehmen und somit unsere Beschaffungsarbeit zu hemmen. Diese Schwierigkeiten auszunutzen gelang ihm aber zumindest aus zwei Gründen: erstens, weil drei Jahre guter Ernte nicht spurlos vorübergegangen sind, der Kulak ist in dieser Zeit gewachsen, im Dorfe überhaupt, beim Kulaken im besonderen, haben sich Getreidevorräte angesammelt, und so konnte der Kulak versuchen, die Preise zu diktieren; zweitens, weil der Kulak die Unterstützung der städtischen Spekulanten hatte, die durch ihre Spekulantenmachenschaften die Getreidepreise in die Höhe schrauben. …
Was aber bedeutet es, die Getreidepreise, sagen wir, um 40-50 Prozent hinaufzuschrauben, wie es zum Beispiel die Kulaken- und Spekulantenelemente getan haben? Das bedeutet vor allem, den Reallohn der Arbeiter zu untergraben. Angenommen, wir hätten darauf den Arbeitern den Lohn erhöht. Dann hätten aber die Preise für Industriewaren erhöht werden müssen, wodurch die materielle Lage sowohl der Arbeiterklasse als auch der Dorfarmut und des Mittelbauern beeinträchtigt worden wäre. Was aber hätte das bedeutet? Das hätte die direkte und unzweifelhafte Untergrabung unserer gesamten Wirtschaftspolitik bedeutet. …
Sie sehen, dass die Beschaffungskrise den ersten ernsthaften Vorstoß der kapitalistischen Elemente des Dorfes gegen die Sowjetmacht zum Ausdruck bringt, den sie unter den Verhältnissen der NÖP in einer der wichtigsten Fragen unseres Aufbaus, in der Frage der Getreidebeschaffung, unternehmen.“
– Josef Stalin, Über die Arbeiten des Aprilplenums des ZK und der ZKK, 13. April 1928, Stalin-Werke Bd. 11, S.29f

Stalin reagierte, indem er mit Bucharin brach und einen abrupten Schwenk nach links vollzog, indem er die Kulaken durch eine ungeplante Zwangskollektivierung liquidierte – eine Maßnahme, von der sich die sowjetische Landwirtschaft nie ganz erholte.