Marx oder Deng?
Kritische Betrachtungen zu „China’s Great Road“ von John Ross
Der nachfolgende Artikel ist eine leicht überarbeitete Übersetzung des Texts Marx or Deng?, der am 3. Oktober 2021 auf bolsheviktendency.org erschien. Zitate aus Ross‘ Buch wurden allesamt von der BT aus dem englischsprachigen Original übersetzt.
In einer Zeit, in der weltweit die meisten vorgeblich trotzkistischen Strömungen den chinesischen deformierten Arbeiterstaat fälschlicherweise für „kapitalistisch“ erklärt haben, legt John Ross in seiner Publikation China’s Great Road dar, dass der wesentliche Kern der durch die Revolution von 1949 erreichten sozialen Transformation intakt ist. Ross, jahrzehntelang eine bekannte Persönlichkeit der britischen radikalen Linken, weist zu Recht den impressionistischen Impuls vieler seiner früheren Weggefährten zurück, das heutige China als kapitalistische oder gar imperialistische Weltmacht anzuprangern.
Ross bekleidet heute eine angesehene Position als leitender Mitarbeiter des Chongyang-Instituts für Finanzstudien an der Renmin-Universität in Peking und ist einer der weltweit führenden linken Publizisten für die Kommunistische Partei Chinas (KPCh). In seinem neuen [2021 erschienenem] Buch hebt er die enormen Leistungen Chinas hervor, das Hunderte von Millionen Menschen aus bitterer Armut befreit, den Lebensstandard der gesamten Bevölkerung erheblich verbessert und das schnellste und massivste Wirtschaftsentwicklungsprogramm der Geschichte durchgeführt hat. Ross stellt die spektakuläre Transformation Chinas unter der KPCh von einer armen, überwiegend bäuerlichen Gesellschaft in die heutige „Werkstatt der Welt“ der Stagnation und dem sozialen Verfall der meisten „entwickelten“ kapitalistischen Mächte gegenüber, die ihren Schwerpunkt von der industriellen Produktion auf das „Finanzwesen“ verlagert haben.
Die Verteidigung der Errungenschaften der chinesischen sozialen Revolution von 1949 gegen imperialistische Aggression von Außen sowie gegen kapitalistisch-restaurative Kräfte im Inland ist für die Arbeiterbewegung seit mehr als sieben Jahrzehnten von vitalem Interesse. Ross zeichnet die zunehmend antagonistische Haltung der letzten drei US-Regierungen, sowohl der Demokraten als auch der Republikaner, nach, als allmählich klar wurde, dass die Integration Chinas in die Weltwirtschaft nicht automatisch zur Hegemonie interner konterrevolutionärer Elemente geführt hat. Ross führt zahlreiche Beweise an, um seine Behauptung zu untermauern, dass die chinesische Wirtschaft trotz ihrer beträchtlichen kapitalistischen Komponente auch heute noch effektiv vom zentralen Staatsapparat kontrolliert wird, und zwar hauptsächlich durch die Verteilung von Investitionen.
In den 1970er Jahren wurde Ross von vielen als der ernsthafteste Marxist innerhalb der Führung der International Marxist Group (IMG), der britischen Sektion des Vereinigten Sekretariats der Vierten Internationale (VS) unter Ernest Mandel, angesehen. Das VS war jedoch nie eine besonders ernst zu nehmende marxistische Formation; sie hatte eine wechselvolle Geschichte, die von einer Reihe pauschaler politischer Anpassungen an jede „Massenbewegung“ geprägt war, die zum jeweiligen Zeitpunkt auf dem Vormarsch zu sein schien. Im Laufe der Jahre gehörten dazu sowjetische Stalinisten, britische Labour-Anhänger, lateinamerikanische Guerillakämpfer, Polens kapitalistisch-restaurative Solidarność und sogar die reaktionäre islamistische Bewegung von Ayatollah Khomeini. Die fortgesetzte Begeisterung des VS für jede dieser nicht-proletarischen Formationen als potenzielle Wegbereiterin des Sozialismus findet ihr Gegenstück in Ross’ im Wesentlichen unkritischer Haltung gegenüber der chinesischen stalinistischen Bürokratie, deren politische Diktatur er als Schlüssel zum Triumph des echten Sozialismus darstellt.
‚Markt-Sozialismus’: Marx gegen Deng
Nach einem Überblick über die beeindruckenden Fortschritte in Bezug auf Lebenserwartung, Bildung und andere Anzeichen der menschlichen Entwicklung, die unter der KPCh seit der Einführung der marktorientierten Wirtschaftsreformen von Deng Xiaoping in den späten 1970er Jahren erzielt wurden, stellt Ross fest: „Ein systematischer Vergleich der Marx’schen Konzepte mit denen der Sowjetunion nach 1929 macht deutlich, dass die Reform- und Öffnungspolitik in China nach Deng weitaus mehr mit den Marx’schen Konzepten übereinstimmt als die der UdSSR“. Er zitiert eine Passage aus dem Kommunistischen Manifest über die ersten Phasen des geplanten Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus:
„Das Proletariat wird seine politische Herrschaft dazu benutzen, der Bourgeoisie nach und nach alles Kapital zu entreißen, alle Produktionsmittel in den Händen des Staats, d.h. des als herrschende Klasse organisierten Proletariats, zu zentralisieren und die Masse der Produktivkräfte möglichst rasch zu vermehren.“
– Karl Marx, Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, 1848, MEW-Band 4
Eine erfolgreiche Machtergreifung durch die Arbeiterklasse würde natürlich eine Übergangszeit erfordern – eine ganze Wirtschaft kann nicht über Nacht vergesellschaftet werden. Als Marx und Engels 1847 das Manifest schrieben, hatten sie noch nicht verstanden, dass die Errichtung der „politischen Herrschaft“ des Proletariats die Zerschlagung des bestehenden kapitalistischen Staates erfordert. In einem Vorwort zur deutschen Neuauflage des Manifests von 1872 erklärten sie:
„… gegenüber den praktischen Erfahrungen, zuerst der Februarrevolution und noch weit mehr der Pariser Kommune, wo das Proletariat zum erstenmal zwei Monate lang die politische Gewalt innehatte, ist heute dies Programm stellenweise veraltet. Namentlich hat die Kommune den Beweis geliefert, daß ‚die Arbeiterklasse nicht die fertige Staatsmaschine einfach in Besitz nehmen und sie für ihre eigenen Zwecke in Bewegung setzen kann‘. (Siehe Der Bürgerkrieg in Frankreich. Adresse des Generalraths der Internationalen Arbeiter-Association, deutsche Ausgabe, S. 19, wo dies weiterentwickelt wird)“
In seiner Rede von 1871 bezeichnete Marx die Abschaffung des Privateigentums an den Produktionsmitteln und die Beendigung der kapitalistischen Ausbeutung als zentrale Ziele der sozialistischen Revolution:
„Die politische Herrschaft des Produzenten kann nicht bestehn neben der Verewigung seiner gesellschaftlichen Knechtschaft. Die Kommune sollte daher als Hebel dienen, um die ökonomischen Grundlagen umzustürzen, auf denen der Bestand der Klassen und damit der Klassenherrschaft ruht. Einmal die Arbeit emanzipiert, so wird jeder Mensch ein Arbeiter, und produktive Arbeit hört auf, eine Klasseneigenschaft zu sein.“
– Karl Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich, Mai 1871, MEW-Bd. 17
Vermutlich aus Rücksicht auf die Empfindlichkeiten der KPCh-Führung, die erfolgreich eine ziemlich große Kapitalistenklasse herangezüchtet hat, sagt Ross wenig über die „Beseitigung“ des kapitalistischen Eigentums und die Beendigung der „gesellschaftlichen Knechtschaft“ der Arbeiterklasse, sei es „nach und nach“ oder anders.
Die sowjetische NÖP: Bestandteile des Kapitalismus in einem Arbeiterstaat
Ross behauptet, dass Dengs Wirtschaftsreformen etwas „noch nie Dagewesenes“ darstellten – in Wirklichkeit ähnelten sie im Wesentlichen den Maßnahmen, die 1921 in der Sowjetunion im Rahmen der Neuen Ökonomischen Politik (NÖP) eingeführt wurden. Lenin kam widerwillig zu dem Schluss, dass es nach sieben Jahren verheerenden Krieges (Erster Weltkrieg, gefolgt vom Bürgerkrieg gegen die Weißen) und ohne unmittelbare Aussicht auf einen revolutionären Durchbruch in Deutschland oder anderswo notwendig war, eine begrenzte Wiedereinführung der kapitalistischen Wirtschaftstätigkeit einzuleiten:
„Neben Ihnen werden Kapitalisten sein. Neben Ihnen werden auch ausländische Kapitalisten, Konzessionäre und Pächter sein, die bei Ihnen Hunderte Prozent Profit herausschinden und sich vor Ihren Augen bereichern werden. Mögen Sie sich bereichern, Sie aber sollen bei Ihnen wirtschaften lernen, und erst dann werden Sie die kommunistische Republik aufbauen können. Vom Standpunkt der Notwendigkeit, rasch zu lernen, ist jede Laschheit das größte Verbrechen. Und in diese Lehre, eine schwere, harte, manchmal sogar grausame Lehre, muß man gehen, da es einen anderen Ausweg nicht gibt. Sie dürfen nicht vergessen, daß unser nach den langjährigen Prüfungen verarmtes Sowjetland nicht von einem sozialistischen Frankreich und nicht von einem sozialistischen England umgeben ist, die uns mit ihrer hochentwickelten Technik, mit ihrer hochentwickelten Industrie helfen würden.“
– Wladimir Iljitsch Lenin, Die neue ökonomische Politik und die Aufgaben der Ausschüsse für politisch-kulturelle Aufklärung, 17. Oktober 1921, LW-Bd. 33
Lenin gab nicht vor, dass die Einführung marktwirtschaftlicher Maßnahmen die Verwirklichung der Lehren von Marx darstellte – er bezeichnete die NÖP offen als ein verzweifeltes Mittel. Anstatt auf dem Weg zur Planwirtschaft voranzuschreiten, schrieb Lenin, befinde sich die junge Sowjetrepublik „auf dem Rückweg zum Kapitalismus – in welchem Ausmaß, wissen wir nicht“.
Die NÖP wurde eingeführt, als die von der bolschewistischen Revolution ausgelöste internationale revolutionäre Flut abebbte und die Kommunistische Partei der Sowjetunion (KPdSU) eine bürokratische Degeneration durchlief, da viele in den obersten Schichten des Staats- und Parteiapparats versuchten, ihre Positionen zu festigen, indem sie politischen Dissens im Inland unterdrückten und im Ausland eine Politik der Anpassung an das globale Kapital verfolgten. Dies wurde 1924 mit der Doktrin des „Sozialismus in einem Land“ kodifiziert, die von Josef Stalin und seinen Parteifreunden vertreten wurde. Stalin verkörperte die Schicht der privilegierten Staats- und Parteifunktionäre, die selbst innerhalb der revolutionären Vorhut zunehmend politische Repression an die Stelle von Überzeugungsarbeit setzten, und das in einer Zeit, in der die Volksmassen durch die große Diskrepanz zwischen dem Versprechen einer sozialistischen Zukunft und einer von Armut gezeichneten Realität demoralisiert waren.
Leo Trotzki, der neben Lenin die wichtigste Persönlichkeit der Oktoberrevolution 1917 gewesen war und die Rote Armee in dem langwierigen Bürgerkrieg geführt hatte, beschrieb anschaulich, wie die wirtschaftliche Verwüstung die Grundlage für die politische Degeneration der KPdSU bildete:
„Grundlage des bürokratischen Kommandos ist die Armut der Gesellschaft an Verbrauchsgegenständen mit dem daraus entstehenden Kampf aller gegen alle. Wenn genug Waren im Laden sind, können die Käufer kommen, wann sie wollen. Wenn die Waren knapp sind, müssen die Käufer Schlange stehen. Wenn die Schlange sehr lang wird, muss ein Polizist für Ordnung sorgen. Das ist der Ausgangspunkt für die Macht der Sowjetbürokratie. Sie ‚weiß‘, wem sie zu geben, und wer zu warten hat.“
– Leo Trotzki, Die verratene Revolution, 1936
Mao Tse-tung, der die KPCh in dem langwierigen Guerillakampf der Bauern anführte, der schließlich 1949 die korrupte, vom Imperialismus unterstützte Kuomintang stürzte, gestaltete die neue Volksrepublik China nach dem Vorbild der Sowjetunion unter Stalin. Anders als in der UdSSR in den Anfangsjahren übte die chinesische Arbeiterklasse nie politische Macht durch Arbeiterräte aus – die maoistische Formel lautete: „Sich auf die Bauern stützen, ländliche Basisgebiete aufbauen und das Land nutzen, um die Städte einzukreisen und schließlich zu erobern.“ Diese Politik machte die Arbeiterklasse im Wesentlichen zu Zuschauern.
Die chinesische Revolution war ein großer Sieg für die internationale Arbeiterbewegung. Durch die Vertreibung des ausländischen Imperialismus und die Verstaatlichung des Eigentums von Landbesitzern und Kapitalisten wurden beeindruckende Erfolge erzielt, aber da China nur über eine sehr dürftige industrielle Basis verfügte, ging es nur langsam voran. Die KPCh war selbst von einer Reihe erbitterter interner Kämpfe geplagt – der dramatischste davon war die Große Proletarische Kulturrevolution, die Mao 1966 initiierte, um seine „revisionistischen“ Rivalen zu bekämpfen. Nach einem Jahrzehnt wirtschaftlicher Stagnation während der „Kulturrevolution“ und Maos Tod 1976 erlangte Deng Xiaoping eine führende Position innerhalb der KPCh und setzte rasch sein Programm der „Reform und Öffnung“ um. Dengs „NÖP“ war weitaus erfolgreicher als ihr russisches Pendant, doch der chinesische deformierte Arbeiterstaat muss sich letztlich mit dem gleichen Dilemma auseinandersetzen, das Lenin vor einem Jahrhundert beschrieben hat:
„Die ganze Frage ist die: Wer wird wen überflügeln? Gelingt es den Kapitalisten, sich früher zu organisieren, dann werden sie die Kommunisten zum Teufel jagen, darüber braucht man überhaupt kein Wort zu verlieren. Man muß diese Dinge nüchtern betrachten: Wer — wen? Oder wird die proletarische Staatsmacht imstande sein, gestützt auf die Bauernschaft, die Herren Kapitalisten gehörig im Zaum zu halten, um den Kapitalismus in das Fahrwasser des Staates zu leiten und einen Kapitalismus zu schaffen, der dem Staat untergeordnet ist und ihm dient?“
– Lenin, a.a.O., 1921
Die Probleme, die Lenin durch die Wiedereinführung marktwirtschaftlicher Maßnahmen vorhersah, traten einige Jahre nach seinem Tod im Jahr 1924 auf, wenn auch in etwas anderer Form als von ihm vorhergesehen, da ausländisches Kapital in der sowjetischen Wirtschaft nie ein Faktor wurde. Stattdessen entwickelte sich in den wohlhabenderen Schichten der Bauernschaft eine pro-kapitalistische Stimmung. Nachdem die herrschende Bürokratie die Warnungen Trotzkis und der Linken Opposition ignoriert hatte, wurde sie schließlich von der wohlhabenden kapitalistischen „Kulaken“-Schicht herausgefordert, die begann, Getreide zurückzuhalten, um ihre Forderungen nach höheren Preisen zu untermauern. Stalin erkannte erst spät die Bedrohung, die von der Ausbreitung des Kapitalismus auf dem Lande ausging, beendete abrupt die NÖP und leitete die ungeplante und chaotische Kollektivierung der Landwirtschaft ein – eine Maßnahme, die der sowjetischen Wirtschaft nachhaltigen Schaden zufügte. (Siehe nebenstehenden Kasten: „Von der NÖP zur Zwangskollektivierung“).
Die Wurzeln von Stalins „ultralinkem Abenteuer“ von 1929
Ross charakterisiert Stalins abrupte Wende von 1929 zutreffend als ein „ultralinkes Abenteuer“, das dem Marx’schen Modell für die ersten Phasen der sozialistischen Entwicklung widersprach:
„Anstatt jedoch diesen Übergang über einen langen Zeitraum hinweg zu vollziehen, wie es Marx vorgesehen hatte, wurde er mit der Einführung des ersten Fünfjahresplans 1929 ‚auf einen Schlag‘ vollzogen. Gleichzeitig wurde in Bezug auf die Eigentumsverhältnisse anstelle des Konzepts des Kommunistischen Manifests, ‚der Bourgeoisie nach und nach das gesamte Kapital zu entreißen‘, d. h. eines langwierigen Übergangsprozesses, bei dem es sowohl staatliches als auch privates Eigentum geben würde, 1929 in extrem kurzer Zeit ein im Wesentlichen vollständig staatliches oder staatlich dominiertes System eingeführt. Es ist daher klar, dass ein solches System nicht den Vorstellungen von Marx entsprach.“
Ross lässt die gesamte Kette von Ereignissen aus, die zur Krise von 1929 führten, und übergeht die vorausschauenden Prognosen Trotzkis und der Linken Opposition, deren Berücksichtigung die Katastrophe hätten verhindern können.
Die Orientierung auf die Kulaken war nur ein Element in einem größeren politischen Kampf innerhalb der KPdSU, der das Schicksal des sowjetischen Arbeiterstaates bestimmte. Stalins Sieg unter dem Banner des „Sozialismus in einem Land“ bedeutete eine Ablehnung des strategischen Rahmens, auf den Lenin und die bolschewistische Partei die Oktoberrevolution im rückständigen Russland gestützt hatten – die Aussicht, dass ein erfolgreicher Arbeiteraufstand in Russland eine revolutionäre Welle in ganz Europa, insbesondere in Deutschland, auslösen würde. Mit der relativen Stabilisierung des deutschen Kapitalismus, nachdem es der revolutionären Linken nicht gelungen war, aus der Oktoberkrise 1923 Nutzen zu ziehen, gab Stalin die Perspektive einer internationalen Revolution zugunsten einer Politik der Autarkie, des „Sozialismus in einem Land“, auf. Es war dieses Programm, nicht Lenins proletarischer Internationalismus, das Mao Tse-tung übernahm.
In einem Akt bewusster intellektueller Unredlichkeit lässt John Ross, der mit dem politischen Kampf der Linken Opposition bestens vertraut ist, die dramatischen Ereignisse der Zeit zwischen Lenins Hinwendung zur NÖP 1921 und dem von Stalin „1929 eingeführten System“ völlig außer Acht. Ross macht aus diesen Jahren „leere Seiten“, um die Beschreibung des ehemaligen sowjetischen Führers Michail Gorbatschow für ähnlich politisch zweckmäßige historische Auslassungen von Stalin und seinen Nachfolgern zu übernehmen. Ross behandelt Stalins Politik der Zwangskollektivierung und der halsbrecherischen Industrialisierung so, als ob sie von Anfang an von den Bolschewiki gewollt gewesen wäre, und erklärt pedantisch, wie sie von Marx’ Ideen über den Übergang zu einer sozialistischen Wirtschaft abwichen:
„Aber die bäuerliche Produktion oder das individuelle Eigentum an Restaurants und lokalen Geschäften, die in der UdSSR nach 1929 de facto oder de jure in Staatseigentum überführt wurden, waren keine ‚vergesellschaftete‘ Großproduktion – es waren kleine, häufig rein individuelle Produktionsformen. Die Enteignung solchen Eigentums entsprach daher nicht den Konzepten, die Marx zu irgendeinem Zeitpunkt dargelegt hatte, sei es in den frühen Formeln des Kommunistischen Manifests, in seiner späten Schrift Die Kritik des Gothaer Programms oder in Das Kapital.
Es ist daher klar, dass das 1929 in der UdSSR eingeführte System nicht dem Marxschen Konzept eines langen Übergangs zum entwickelten Sozialismus entsprach. Die UdSSR nach 1929 sah die Abschaffung des Marktes und aller wichtigen Formen des Privateigentums in einem einzigen Schritt – und nicht in einem schrittweisen Prozess, wie Marx es ausdrückte. Es war ein Versuch, fast alle wichtigen Wirtschaftssektoren vollständig in Staatseigentum zu überführen – in marxistischer Terminologie ein Versuch, der wirtschaftlichen Basis in einem einzigen Schritt einen Überbau (staatlich-rechtliche Eigentumsformen) aufzuerlegen. Objektiv betrachtet war dieses sowjetische System nach 1929 auf wirtschaftlichem Gebiet also nicht das von Marx, sondern ein ultralinkes Abenteuer.“
Ross’ Kritik an Stalins Abschaffung der Marktwirtschaft „in einem Schritt“ zielt eindeutig darauf ab, das Wachstum der chinesischen Bourgeoisie in der Volksrepublik zu rechtfertigen – es ist bezeichnend, dass er weder Vorschläge macht, wie dieses Krebsgeschwür bis zu seiner endgültigen Entfernung kontrolliert werden sollte, noch wie die obszönen Ungleichheiten, die durch die Ausweitung der profitorientierten Wirtschaftstätigkeit entstanden sind, angegangen werden könnten.
In gespielter Naivität deutet Ross schüchtern an, dass Stalins „ultralinkes Abenteuer“ möglicherweise aus geostrategischem Kalkül entstanden ist:
„Gelegentlich wird argumentiert, dass das 1929 in der UdSSR eingeführte System aus militärischen/geopolitischen Erwägungen heraus notwendig war – die gelenkte Wirtschaft wurde genutzt, um der Militär- und Schwerindustrie Vorrang einzuräumen, und dieser militärisch-industrielle Komplex wiederum ermöglichte es der UdSSR, den Zweiten Weltkrieg gegen die Nazi-Invasion zu gewinnen. Da Fragen der Landesverteidigung und militärische Erwägungen angesichts der Kriegsgefahr Vorrang vor rein wirtschaftlichen Erwägungen haben müssen, ist dies ein ernstzunehmendes Argument dafür, dass das Stalin‘sche System der ‚gelenkten Wirtschaft‘ in den 1930er Jahren notwendig war – Deng Xiaoping selbst erklärte, dass ein Weltkrieg zwangsläufig Vorrang vor allen anderen Faktoren haben würde, und erklärte, dass dies der einzige Faktor sei, der die Reform und Öffnung übergeordnet sein würde: ‚Nichts außer einem Weltkrieg würde uns von dieser Linie abbringen.‘ Auch dem Argument, dass die gelenkte Wirtschaft des ersten Fünfjahresplans von 1929 eine notwendige Reaktion auf geopolitische Erwägungen war, kann entgegengehalten werden, dass sie vier Jahre vor Hitlers Machtübernahme 1933 eingeführt wurde.“
Der unterwürfige Verweis darauf, dass „Deng Xiaoping selbst“ erkannt habe, dass ein Weltkrieg ein Marktreformprogramm erschweren könnte, wiegt kaum Ross’ beiläufige Untertreibung der Dringlichkeit auf, die jedes sowjetische Regime in den späten 1920er Jahren der Entwicklung der Industrie beigemessen hätte, um unter anderem die Fähigkeit zum Widerstand gegen Militärangriffe kapitalistischer Staaten zu schaffen. Die Behauptung, die UdSSR habe um 1929 herum der Industrialisierung keine Priorität einräumen müssen, weil die Nazis erst vier Jahre später an die Macht gekommen seien, ist mehr als absurd – die grundsätzliche Haltung der „demokratischen“ Imperialisten (einschließlich Frankreichs, Großbritanniens und der USA), die nur wenige Jahre zuvor Expeditionsstreitkräfte entsandt hatten, um den Bolschewismus „im Keim zu ersticken“, hatte sich nicht geändert. Außerdem war das Aufbauprogramm der Entwicklung einer bedeutenden industriellen Basis ohne ausländische Hilfe ein Prozess, der mindestens ein Jahrzehnt benötigte.
Ross ist sich sehr wohl bewusst, dass die KPCh-Führung es nicht nur mit einer Schicht wohlhabender bäuerlicher Landeier zu tun hat, sondern vielmehr mit den sachkundigen Eigentümern des lebenswichtigen Technologiesektors der Wirtschaft, die vielfältige Verbindungen zu ihren globalen Konzernkollegen und zwangsläufig auch zu den verschiedenen imperialistischen staatlichen Stellen haben, die ihnen helfen und sie schützen. Als raffinierter linker Apologet der stalinistischen Kaste, die von Xi Jinping angeführt wird, unterschlägt Ross die historischen Ursprünge der sowjetischen Industrialisierungskampagne von 1929, um die unangenehme Tatsache zu umgehen, dass die chinesische Wirtschaft heute durch einen Widerspruch zwischen privatem und kollektivem Eigentum gekennzeichnet ist, der wichtige Parallelen zur Situation in der UdSSR unter der NÖP aufweist. Er stellt die Unzulänglichkeiten der sowjetischen Hinwendung zur Hyperzentralisierung, die durch brutale polizeistaatliche Unterdrückung erreicht wurde, als natürliche und unvermeidliche Folge einer umfassenden zentralisierten Planung dar. Indem er die frühere Förderung der ländlichen Kapitalisten ausklammert, eine Maßnahme, die den Umschwung von 1929 bedingte, liefert Ross ein Argument, das so ahistorisch ist, dass es einer bewussten Fälschung gleichkommt.
Kapitalismus in Arbeiterstaaten
Als „schamloser Deng-Anhänger in der Wirtschaftstheorie“ ignoriert Ross im Wesentlichen die Risiken, die mit der Herausbildung einer einheimischen Bourgeoisie verbunden sind, und bietet eine optimistische Darstellung des Nutzens von Adam Smiths „unsichtbarer Hand“ für die chinesische Entwicklung:
„In gängigen Worten ausgedrückt, wie Xi Jinping es in seinem Interview mit dem Wall Street Journal im September 2015, vor seinem ersten Besuch in den USA als Präsident, formulierte: ‚Wir müssen sowohl die unsichtbare Hand als auch die sichtbare Hand nutzen‘. China kann und wird aufgrund seiner Wirtschaftsstruktur sowohl die ‚unsichtbare Hand‘ des Marktes als auch die ‚sichtbare Hand’ des Staates nutzen. Keine westliche kapitalistische Wirtschaft hat eine solche Struktur. Die praktischen Folgen dieses Einsatzes ‚beider Hände‘, im Gegensatz zum reinen Vertrauen des Westens auf die Hand des Privatsektors, zeigen sich sowohl in den beispiellosen wirtschaftlichen Erfolgen Chinas während der 40 Jahre der Reform und Öffnung als auch in der weit überlegenen Leistung Chinas im Vergleich zu den westlichen Volkswirtschaften seit Beginn der Finanzkrise. In Anlehnung an den berühmten Satz von Deng Xiaoping ist China bereit, je nachdem, was am besten ist, sowohl die Hand des Staatssektors als auch die Hand des Privatsektors zu benutzen. Der Westen, der darauf beharrt, dass nur die Hand des Privatsektors gut ist, hat sich im ‚neuen Mittelmaß‘ verfangen.“
Ross würde vermutlich zustimmen, dass private Kapitalisten Chinas mächtigen Staatssektor als Wachstumshemmnis und Hindernis für die Gewinnmaximierung betrachten. Die KPCh hält es von Zeit zu Zeit für notwendig, die Unternehmer zu zügeln:
„Einst als Motoren des wirtschaftlichen Wohlstands und Symbole der technologischen Leistungsfähigkeit des Landes gepriesen, sind die Imperien, die Ma, der Vorsitzende von Tencent Holdings Ltd, ‚Pony’ Ma Huateng, und andere Tycoons aufgebaut haben, jetzt verdächtig, nachdem sie Hunderte von Millionen von Nutzern angehäuft und Einfluss auf fast jeden Aspekt des täglichen Lebens in China gewonnen haben. ‚Die [Kommunistische] Partei versucht klarzustellen, dass Ma nicht größer ist als die Partei‘, sagt Rana Mitter, eine Professorin für chinesische Politik an der Universität Oxford. ‚Aber sie wollen auch zeigen, dass China ein guter Ort ist, um Geschäfte zu machen, und das bedeutet, dass die Partei zeigen muss, dass Unternehmer erfolgreich sein können.‘“
– bloomberg.com, 22. Dezember 2020
Die Bedrohung, die von der chinesischen Bourgeoisie ausgeht, besteht weniger in der Aneignung von Reichtum als vielmehr in ihrer natürlichen Neigung, um ihre Profite zu maximieren, ihre Klasseninteressen durch politische Aktivitäten zu verfolgen, die darauf abzielen, die Rolle der „sichtbaren Hand“ zu verringern.
Xi Jinping und seine Mitdenker in der KPCh-Führung, die in letzter Zeit die Zügel des Privatsektors gestrafft haben, sind entschlossen, die kapitalistische Konterrevolution zu vermeiden, die aus der chaotischen wirtschaftlichen Implosion resultierte, die durch Michail Gorbatschows Markt- „Reformen“ in der Sowjetunion ausgelöst wurde:
„Qiushi, die wichtigste politische Zeitschrift der Zentralen Parteischule der regierenden Kommunistischen Partei Chinas, veröffentlichte am Montag Auszüge aus Xis Ansprache an die Funktionäre im Januar 2013, etwa zwei Monate nach seiner Wahl zum Generalsekretär der Partei und etwa zwei Monate bevor er Präsident wurde. Er erinnerte an Fehler, die Moskau im Vorfeld des Zusammenbruchs der Sowjetunion gemacht hatte, sowie an ‚Fehler‘ seiner Vorgänger, insbesondere Mao Tse-tung, behauptete aber, dass ‚die Geschichte unserer Partei im Allgemeinen ruhmreich ist‘.
Er warnte jedoch davor, dass ‚der letztendliche Untergang des Kapitalismus und der endgültige Sieg des Sozialismus ein langer historischer Prozess sein muss‘, der beide Seiten vor Herausforderungen stellen werde. ‚Wir müssen die Fähigkeit der kapitalistischen Gesellschaft zur Selbstregulierung zutiefst verstehen, die objektive Realität des langfristigen Vorteils der westlichen Industrieländer auf wirtschaftlichem, wissenschaftlichem und militärischem Gebiet genau einschätzen und uns gewissenhaft auf alle Aspekte der langfristigen Zusammenarbeit und des Kampfes zwischen den beiden Gesellschaftssystemen vorbereiten‘, sagte Xi.“
– newsweek.com, 4. Januar 2019
Sozialistische Verteilung – Marx gegen die KPCh
Xi Jinping ist offenbar etwas aufmerksamer gegenüber den potenziellen Gefahren des Kapitalismus der freien Marktwirtschaft als sein britischer Publizist, der Chinas kapitalistische Unternehmen als Sprungbrett in die sozialistische Zukunft zu betrachten scheint. Ross zitiert Dengs Bemerkung, dass sich China bisher nur in der „ersten Phase des Sozialismus, d. h. der unterentwickelten Phase“ befindet, und seine Wiederholung von Marx’ Beschreibung des Sozialismus als eine untere Phase des Kommunismus:
„Eine kommunistische Gesellschaft ist eine Gesellschaft, in der es keine Ausbeutung des Menschen durch den Menschen gibt, in der großer materieller Reichtum herrscht und in der der Grundsatz gilt: von jedem nach seinen Fähigkeiten, zu jedem nach seinen Bedürfnissen. Es ist unmöglich, diesen Grundsatz ohne überwältigenden materiellen Reichtum anzuwenden. Um den Kommunismus zu verwirklichen, müssen wir die in der sozialistischen Etappe gestellten Aufgaben bewältigen. Sie sind zahlreich, aber die wichtigste ist die Entwicklung der Produktivkräfte.“
Ross stellt Dengs Marktreformprogramm so dar, als stimme es mit Marx’ Bemerkungen über die Verteilung des Sozialprodukts in frühen nachrevolutionären Gesellschaften überein:
„Demgemäß erhält der einzelne Produzent – nach den Abzügen – exakt zurück, was er ihr gibt. Was er ihr gegeben hat, ist sein individuelles Arbeitsquantum. Z.B. der gesellschaftliche Arbeitstag besteht aus der Summe der individuellen Arbeitsstunden. Die individuelle Arbeitszeit des einzelnen Produzenten ist der von ihm gelieferte Teil des gesellschaftlichen Arbeitstags, sein Anteil daran. Er erhält von der Gesellschaft einen Schein, daß er soundso viel Arbeit geliefert (nach Abzug seiner Arbeit für die gemeinschaftlichen Fonds), und zieht mit diesem Schein aus dem gesellschaftlichen Vorrat von Konsumtionsmitteln soviel heraus, als gleich viel Arbeit kostet. Dasselbe Quantum Arbeit, das er der Gesellschaft in einer Form gegeben hat, erhält er in der andern zurück.“
– Karl Marx, Kritik des Gothaer Programms, 1875, MEW-Bd. 19
Ross bezieht sich auf eine Rede von Deng über das „sozialistische Prinzip“ der Verteilung nach Arbeit und nicht nach „Politik oder … Rang“:
„Wir müssen an diesem sozialistischen Prinzip festhalten, welches eine Verteilung nach der Quantität und Qualität der individuellen Arbeit vorsieht. Gemäß diesem Prinzip wird die Lohnstufe eines Menschen hauptsächlich von seiner Arbeitsleistung, seinem technischen Niveau und seinem aktuellen Beitrag bestimmt. Freilich soll man ebenfalls in Betracht ziehen, wo man politisch steht, aber es muß klargestellt werden, daß eine gute politische Haltung ihren Niederschlag in einer guten Arbeitsleistung für den Sozialismus und einen größeren Beitrag zur Gesellschaft findet. Wenn die Verteilung eher durch die politische Haltung eines Menschen als durch seine Arbeit bestimmt wird, so heißt dies, daß wir das Prinzip ‚Jedem nach seiner politischen Haltung‘, nicht das Prinzip ‚Jedem nach seiner Leistung‘ befolgen. Kurz, die Verteilung soll ausschließlich gemäß der Arbeitsleistung eines Menschen, nicht aber gemäß seiner politischen Einstellung oder seiner Dienstjahre erfolgen.“
– Deng Xiaoping, An dem Prinzip „Jedem nach seiner Leistung“ festhalten, 28. März 1978, Deng Xiaoping – Ausgewählte Schriften (1975-1982)
Ross legt nahe, Dengs Politik entspräche Marx’ Beschreibung einer Gesellschaft in den frühen Stadien des sozialistischen Übergangs in der Kritik des Gothaer Programms. Doch es gibt ein Problem – an einer Stelle schrieb Marx ausdrücklich, dass es im Sozialismus „keine Klassenunterschiede“ gibt, „weil jeder nur ein Arbeiter ist wie der andre“. Dies ist im heutigen China mit seinen milliardenschweren „sozialistischen“ Fabrikbesitzern offensichtlich nicht der Fall. Ross löst dieses Problem durch Auslassung, dieselbe Technik, die Stalin und Mao anwandten, um fotografische Beweise zu berichtigen, die ihrer aktuellen Version der Parteigeschichte widersprachen. Marx wird ausführlich zitiert, wobei der Teil, der nicht „passt“, durch Auslassungspunkte versteckt wird. Es folgt die von Ross zitierte Passage, wobei der vorenthaltene Teil wiederhergestellt (und hervorgehoben) wurde:
„Der eine ist aber physisch oder geistig dem andern überlegen, liefert also in derselben Zeit mehr Arbeit oder kann während mehr Zeit arbeiten; und die Arbeit, um als Maß zu dienen, muß der Ausdehnung oder der Intensität nach bestimmt werden, sonst hörte sie auf, Maßstab zu sein. Dies gleiche Recht ist ungleiches Recht für ungleiche Arbeit. Es erkennt keine Klassenunterschiede an, weil jeder nur Arbeiter ist wie der andre; aber es erkennt stillschweigend die ungleiche individuelle Begabung und daher Leistungsfähigkeit der Arbeiter als natürliche Privilegien an. Es ist daher ein Recht der Ungleichheit, seinem Inhalt nach, wie alles Recht. Das Recht kann seiner Natur nach nur in Anwendung von gleichem Maßstab bestehn; aber die ungleichen Individuen (und sie wären nicht verschiedne Individuen, wenn sie nicht ungleiche wären) sind nur an gleichem Maßstab meßbar, soweit man sie unter einen gleichen Gesichtspunkt bringt, sie nur von einer bestimmten Seite faßt, z.B. im gegebnen Fall sie nur als Arbeiter betrachtet und weiter nichts in ihnen sieht, von allem andern absieht. Ferner: Ein Arbeiter ist verheiratet, der andre nicht; einer hat mehr Kinder als der andre etc. etc. Bei gleicher Arbeitsleistung und daher gleichem Anteil an dem gesellschaftlichen Konsumtionsfonds erhält also der eine faktisch mehr als der andre, ist der eine reicher als der andre etc. Um alle diese Mißstände zu vermeiden, müßte das Recht, statt gleich, vielmehr ungleich sein.“
– Marx, a.a.O., 1875
Ross’ Auslassung kommt einem Eingeständnis gleich, dass das heutige China nicht der Marx’schen Beschreibung einer sozialistischen, d.h. klassenlosen Gesellschaft entspricht, in der „jeder nur Arbeiter ist wie der andre“. Es ist kein Geheimnis, dass mächtige KPCh-Bürokraten und kapitalistische Unternehmer einen Lebensstil führen, der mit dem der Bourgeoisie der westlichen imperialistischen Länder vergleichbar ist. Einigen Schätzungen zufolge liegt das Vermögen von Xi Jinpings Familie bei über einer Milliarde Dollar. Niemand kann die Behauptung ernst nehmen, dass im heutigen China der Reichtum nach der geleisteten Arbeit verteilt wird. Die 93 Milliardäre unter den Mitgliedern des Nationalen Volkskongresses von 2019 gehören ganz offensichtlich einer anderen sozialen Schicht an als diejenigen, deren Arbeit sie ausbeuten.
Ross erörtert die grotesken Ungleichheiten in Amerika zwischen dem produktiven Input der Milliardärseigentümer und ihrer Angestellten. Er schlüsselt die Bestandteile des Wirtschaftswachstums in Kapital, Arbeit und Gesamtfaktorproduktivität (TFP – Totale Faktor Produktivität: Eine Kategorie, die unternehmerische Innovation einschließt) auf und folgert:
„Angesichts der Tatsache, dass die USA die technologisch fortschrittlichste Wirtschaftsnation der Welt ist, gibt es keinen Grund anzunehmen, dass das gesamte TFP-Wachstum auf kreative Einzelunternehmer zurückzuführen ist, aber selbst wenn dies der Fall wäre, würde dies bedeuten, dass der Einsatz von Arbeit und Kapital viermal so wichtig für die wirtschaftliche Entwicklung ist wie ‚individuelles Unternehmertum‘.“
Es mutet etwas seltsam an, dass Ross dies anführt, ohne eine ähnliche Analyse der chinesischen Wirtschaft vorzulegen, wo die Ergebnisse wahrscheinlich nicht viel anders ausfallen würden. Korrupte KPCh-Bürokraten und Chinas Milliardäre haben ein Vermögen angehäuft, das in keinem Verhältnis zu dem Beitrag steht, den sie zum Wirtschaftswachstum geleistet haben mögen. Es gibt jedoch einen sehr wichtigen Unterschied: Chinesische Milliardäre verfügen (noch) nicht über die Staatsmacht und müssen sich an die von der stalinistischen KPCh aufgestellten Regeln halten oder die Konsequenzen tragen, wie Jack Ma kürzlich feststellen musste, der lange Zeit als reichste Person Chinas galt.
Im April 2019 sprach sich Ma, dem unter anderem der Tech-Riese Alibaba gehört, „für die chinesische Arbeitspraxis ‘996’ aus. Die Zahl bezieht sich auf die Arbeit von 9 Uhr morgens bis 21 Uhr abends an sechs Tagen in der Woche und soll in den großen Technologieunternehmen und Start-ups des Landes üblich sein.“ Mas Abgefeier der brutalen 72-Stunden-Wochen, die er seinen Angestellten auferlegt hat und mit denen er so viel Geld „verdient“ hat, führte zu einer sofortigen Gegenreaktion in den sozialen Medien – ein Weibo-Nutzer fragte entrüstet: „Hast du jemals an die älteren Menschen zu Hause gedacht, die Pflege brauchen, (oder) an die Kinder, die Gesellschaft brauchen?“
Ma, der offenbar seit den 1980er Jahren der KPCh angehört, lobte nicht nur das „996“-System der Hyperausbeutung, sondern hatte zuvor auch vorgeschlagen, dass es angesichts der „Schwächung“ der Regierung eine gute Idee sein könnte, die Rolle der „sichtbaren Hand“ der KPCh in der Wirtschaft zu verringern:
„‚Der chinesische Konsum wird nicht von der Regierung, sondern vom Unternehmertum und dem Markt angetrieben‘, sagte Jack Ma von Alibaba im September 2015. ‚In den vergangenen 20 Jahren war die Regierung so stark. Jetzt wird sie schwach. Das ist unsere Chance; es ist unsere Zeit, um zu sehen, wie die Marktwirtschaft, das Unternehmertum, den echten Konsum entwickeln kann.‘“
– theguardian.com, 25. Juli 2019
Am 24. Oktober 2020 ging Ma schließlich zu weit, als er das staatlich kontrollierte Finanzsystem Chinas öffentlich kritisierte. Wenige Tage später verschwand er und ist seitdem nur noch vereinzelt in der Öffentlichkeit erschienen; den größten Teil seiner Zeit soll er mit „aufsichtsbehördlichen Interviews“ verbracht haben. Mas Sturz war für die chinesische Bourgeoisie eine Erinnerung daran, dass die KPCh weiterhin im Sattel sitzt. Seine Aktionäre mussten feststellen, dass man einen Preis zu zahlen hat, wenn man den Parteibürokraten in Ungnade fällt:
„Die Aktien von Alibaba sind seit dem Beginn der aufsichtsbehördlichen Intervention Ende Oktober um fast 30 Prozent gefallen, was das Nettovermögen von Herrn Ma stark geschmälert hat, der sich seitdem nicht mehr in der Öffentlichkeit gezeigt hat. Im gleichen Zeitraum ist sein Vermögen laut Bloomberg-Daten von 62 Mrd. Dollar auf 49 Mrd. Dollar gesunken. Die Hurun China Rich List schätzt, dass Herr Ma bis zum 20. Oktober der reichste Mann des Landes war, aber nun an vierter Stelle rangiert, da sein Spitzenplatz von einem Flaschenwasser-Magnaten, Zhong Shanshan, eingenommen wurde.“
– Irish Times, 13. Januar 2021
Forbes berichtet, dass viele von Mas Unternehmer-Freunden in letzter Zeit die Initiative der Partei für „allgemeinen Wohlstand“ enthusiastisch unterstützt haben:
„Chinesische Technologieunternehmen spenden Dutzende von Milliarden Dollar für soziale Initiativen, da sie sich bemühen, sich Präsident Xi Jinpings nationalem Ziel des allgemeinen Wohlstands anzupassen. … Die Spenden der Unternehmen werden inzwischen von persönlichen Spenden der reichsten Tech-Milliardäre des Landes begleitet. Der Gründer von Pinduoduo, Colin Huang, der Mitbegründer des Smartphone-Herstellers Xiaomi, Lei Jun, und der Gründer des Essenslieferanten Meituan, Wang Xing, haben jeweils Aktienpakete ihrer Unternehmen im Wert von mehreren Milliarden von Dollar an gemeinnützige Stiftungen übertragen, die sich verpflichtet haben, die Erlöse für Bildung, Armutsbekämpfung und wissenschaftliche Forschung zu verwenden.“
– forbes.com, 26. August 2021
Arbeiter gegen Chefs im chinesischen deformierten Arbeiterstaat
Wie es sich für einen guten Deng-Anhänger gehört, kümmert sich Ross nicht allzu sehr um die Lebensbedingungen der Arbeiter, deren Arbeit das von ihm gefeierte spektakuläre Wirtschaftswachstum hervorgebracht hat. Auch geht er nicht auf die häufigen Ausbrüche von Arbeiterkämpfen ein – insbesondere in Chinas Küstenregionen, wo sich die Privatunternehmen konzentrieren. Das ist nicht die Haltung, die Lenin vertrat, als Anfang der 1920er Jahre im Rahmen der NÖP Marktanreize und kapitalistische Aktivitäten eingeführt wurden; er betonte ausdrücklich die Notwendigkeit, dass sich die Arbeiter organisieren müssen, um ihre Interessen sowohl in den Staatsbetrieben als auch in den Privatunternehmen zu verteidigen:
„Solange Klassen bestehen, ist der Klassenkampf unvermeidlich. In der Übergangszeit vom Kapitalismus zum Sozialismus ist das Bestehen von Klassen unvermeidlich, und das Programm der KPR sagt mit voller Bestimmtheit, daß wir lediglich die ersten Schritte beim Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus machen. Darum müssen sowohl die Kommunistische Partei und die Sowjetmacht als auch die Gewerkschaften offen anerkennen, daß der ökonomische Kampf besteht und so lange unvermeidlich ist, bis die Elektrifizierung der Industrie und der Landwirtschaft wenigstens in den Grundzügen abgeschlossen und damit die Axt an alle Wurzeln des Kleinbetriebs und der Marktherrschaft gelegt ist.
Anderseits ist es augenscheinlich, daß das Endziel des Streikkampfes unter dem Kapitalismus die Zerstörung des Staatsapparats, der Sturz der Staatsmacht der gegebenen Klasse ist. Aber beim proletarischen Staat vom Übergangstypus, wie es der unsere ist, kann das Endziel jeder Aktion der Arbeiterklasse nur die Festigung des proletarischen Staates und der Staatsmacht der proletarischen Klasse, auf dem Wege des Kampfes gegen bürokratische Auswüchse dieses Staates, gegen seine Fehler und Schwächen, gegen die sich seiner Kontrolle entziehenden Klassengelüste der Kapitalisten usw. sein.“
– Lenin, Über die Rolle und die Aufgaben der Gewerkschaften unter den Verhältnissen der Neuen Ökonomischen Politik, 12. Januar 1922, LW-Bd. 33
Deng verfolgte einen ganz anderen Ansatz: 1982 strich die KPCh das Streikrecht aus der chinesischen Verfassung. Unter Xi Jinping gab es wiederholt ein scharfes Vorgehen gegen korrupte Parteifunktionäre und die Exzesse von Privatkapitalisten. Die KPCh lehnt nach wie vor jede Art von direkten Aktionen der Arbeiter ab, und Streiks sind nach wie vor illegal, auch wenn dieses Verbot in vielen Fällen, je nach dem Kräfteverhältnis vor Ort, nicht streng durchgesetzt wird.
Der Allchinesische Gewerkschaftsbund (ACGB), der im Wesentlichen als Anhängsel der KPCh fungiert, greift nur in besonders krassen Fällen im Interesse der Aufrechterhaltung der sozialen Stabilität auf der Seite der Arbeiter ein. Lenin sah für die Gewerkschaften im entstehenden sowjetischen Arbeiterstaat eine ganz andere Rolle vor:
„Das Wesentlichste für die Hebung der Volkswirtschaft und die Festigung der Sowjetmacht ist, unter Berücksichtigung der Erfahrungen aus der von den Gewerkschaften geleisteten gewaltigen Arbeit bei der Organisierung und Leitung der Wirtschaft sowie der Fehler, die in der unmittelbaren, unvorbereiteten, nicht kompetenten, unverantwortlichen Einmischung in die Verwaltung bestanden und nicht wenig Schaden angerichtet haben, bewußt und entschieden überzugehen zur beharrlichen, sachlichen, auf eine lange Reihe von Jahren berechneten Arbeit auf dem Gebiet der praktischen Unterweisung der Arbeiter und aller Werktätigen in der Leitung der Volkswirtschaft des ganzen Landes.“
– Ebenda
Die KPCh-Bürokratie hat nicht die Absicht, ihre Kontrolle über jeden Aspekt des sozialen und politischen Lebens in China aufzugeben. Junge Linke, die sich für die Kämpfe der Arbeiter einsetzen, landen manchmal neben ihnen im Gefängnis, weil sie „Unruhe stiften“:
„Fragen Sie nur die Arbeiter bei Shenzhen Jasic Technology, einem privaten Hersteller von Schweißgeräten, der an der Börse von Shezhen notiert ist. Im Mai 2018 versuchten die Beschäftigten, sich gewerkschaftlich zu organisieren, nachdem sie sich häufig über ihre schlechten Arbeitsbedingungen, die missbräuchliche Behandlung durch das Management und die chronisch niedrige Bezahlung beschwert hatten. Ein ehemaliger Angestellter sagte gegenüber Journalisten von Reuters: ‚Manchmal haben wir einen Monat lang ohne Unterbrechung gearbeitet. … Sie ließen uns nicht freiwillig gehen und beobachteten uns sogar, wenn wir auf die Toilette gingen.‘ Die Arbeiter der Fabrik wandten sich an den örtlichen Zweig der einzigen anerkannten Gewerkschaftsorganisation Chinas, den Allchinesischen Gewerkschaftsbund, und nachdem sie abgewiesen wurden, nahmen sie die Sache selbst in die Hand. Die Reaktion der Partei auf den Versuch einer gewerkschaftlichen Organisierung bestand aus einer Mischung aus Gewalt und Anschuldigungen. Am 27. Juli wurden neunundzwanzig Beschäftigte der Jasic-Fabrik wegen ‚Anzettelung von Streit und Aufwiegelung‘ verhaftet, ein vager Vorwurf, der von den Behörden häufig verwendet wird, um Äußerungen oder Handlungen zu unterbinden, die nicht durch spezifischere gesetzliche Bestimmungen abgedeckt sind. Einen Monat später verhaftete schwer bewaffnete Polizeieinheiten fünfzig Studenten und Arbeiter, die eine Kampagne gestartet hatten, um die Freilassung der verhafteten Arbeiter zu fordern.“
– Jude Blanchette, China‘s New Red Guards, 2019
Während die KPCh regelmäßig Dinge einräumt, die Lenin als „bürokratische Auswüchse des proletarischen Staates und … alle möglichen Überbleibsel des alten kapitalistischen Systems“ bezeichnete, setzt sie darauf, dass die chinesischen Arbeiter eine zunehmende soziale Ungleichheit hinnehmen werden, wenn der Lebensstandard der Bevölkerung weiter steigt. Ross, der zaghaft die Selbstkritik des Regimes aufgreift, erwähnt, dass „die Ungleichheit in China, wie im Inland zugegeben wird, auf ein Niveau gestiegen ist, das übermäßig ist und korrigiert werden muss“, macht aber keine Vorschläge, wie das Problem angegangen werden kann. Zweifellos wartet er auf ein Signal der KPCh-Führung, bevor er sich zu einem so heiklen Thema äußert.
Das „als herrschende Klasse organisierte Proletariat“
Wie es sich für jemanden gehört, der Deng offenbar für einen großen Marxisten hält, übt Ross weder Kritik am Streikverbot des Regimes noch an den verschiedenen anderen Einschränkungen der politischen Aktivitäten der Arbeiterklasse, die die totale Kontrolle der KPCh sicherstellen sollen. Die soziale Revolution von 1949, die eine kollektivierte Wirtschaft einführte und damit die materielle Grundlage für eine wirklich sozialistische Entwicklung schuf, war eine unabdingbare Voraussetzung dafür, dass das Proletariat „als herrschende Klasse“ organisiert wird (wie es in der von Ross gern zitierten Passage des Kommunistischen Manifests heißt). Doch eine direkte proletarische Herrschaft gibt es in China derzeit nicht. Von Anfang an hat die KPCh, wie ihr Mentor, die sowjetische Partei Stalins, eifersüchtig ihr Entscheidungsfindungsmonopol gehütet und eine nennenswerte Beteiligung der Masse der arbeitenden Bevölkerung an der Festlegung der Sozial- und Wirtschaftspolitik aktiv ausgeschlossen.
Ross’ Buch enthält keinen Hinweis darauf, dass die Schaffung einer wirklich sozialistischen (d. h. klassenlosen) Gesellschaft nur möglich sein wird, wenn die chinesische Arbeiterklasse den Würgegriff der KPCh zertrümmert und ihre bürokratische Herrschaft durch die von Delegierten der Arbeiterräte nach dem Vorbild der russischen Sowjets von 1917 ersetzt. Er unterbreitet keine Ideen, wie die derzeitige Form des chinesischen „Sozialismus“ mit seinen Milliardären und seiner Einparteien-Diktatur eines Tages in die untere Stufe des Kommunismus übergehen könnte, d. h. in den eigentlichen Sozialismus, den Marx als „genossenschaftliche Produktion“ und die Beseitigung der „beständigen Anarchie“ und der „periodisch wiederkehrenden Konvulsionen“ des Kapitalismus beschrieben hat:
„Wenn aber die genossenschaftliche Produktion nicht eitel Schein und Schwindel bleiben, wenn sie das kapitalistische System verdrängen, wenn die Gesamtheit der Genossenschaften die nationale Produktion nach einem gemeinsamen Plan regeln, sie damit unter ihre eigne Leitung nehmen und der beständigen Anarchie und den periodisch wiederkehrenden Konvulsionen, welche das unvermeidliche Schicksal der kapitalistischen Produktion sind, ein Ende machen soll – was wäre das andres, meine Herren, als der Kommunismus, der ‚mögliche‘ Kommunismus?“
– Marx, a.a.O., Mai 1871
Als geschickter und erfahrener Höfling der KPCh weiß Ross, dass es besser ist, keine unangenehmen Fragen zu stellen. Seine Aufgabe ist es, Zuversicht zu vermitteln, dass Xi Jinping und seine Nachfolger in der Lage sein werden, alle auftretenden Probleme zu bewältigen und den von Deng eingeschlagenen Kurs noch viele Jahre lang beizubehalten. Ross spekuliert nicht darüber, wie das Eigentum von Chinas mächtiger Bourgeoisie schließlich liquidiert und ihre Besitztümer in eine kollektivierte Planwirtschaft integriert werden könnten. Ihm geht es nicht darum, wie das Krebsgeschwür der Bourgeoisie beseitigt werden könnte, sondern er feiert deren Rolle bei der reibungslosen Integration Chinas in den Weltmarkt, die er zusammen mit dem staatlich gelenkten Investitionsprogramm der KPCh als die Kernelemente der spektakulären wirtschaftlichen Expansion bezeichnet, die die Welt in den letzten drei Jahrzehnten erlebt hat.
In einem Ansatz, der vielleicht darauf abzielt, Sozialdemokraten und Liberale anzusprechen, stellt Ross die wirtschaftliche Entwicklung Chinas als im Wesentlichen vereinbar mit den Lehren des bekannten liberalen britischen Ökonomen John Maynard Keynes dar:
„… obwohl die Reform und Öffnung in einem marxistischen Rahmen entwickelt und formuliert wurde, ist es möglich, sie in anderen wirtschaftlichen Bezugssystemen zu verstehen. … Es wurde auch gezeigt, dass die Reform und Öffnung und der Sozialismus mit chinesischen Merkmalen leicht im Rahmen von Keynes verstanden werden können.”
Ross entwickelt dieses Thema im Laufe des Buches weiter:
„Der steigende Anteil der Investitionen an der Wirtschaft bedeutete, dass jeder Rückgang der Investitionen zunehmend destabilisierende Folgen haben würde. Dies konnte bis zu einem gewissen Grad durch Haushaltsdefizite aufgefangen werden, aber da das Schlüsselelement die Investitionen waren und die Investitionen durch die Wechselwirkung zwischen Profit und Zinssatz bestimmt wurden, war eine Politik der niedrigen Zinssätze notwendig. Dies würde zur ‚Sterbehilfe des Rentiers‘ führen – sprich: Staatseigentum der Banken. Es sei jedoch unwahrscheinlich, dass die Zinssätze allein ausreichen würden, und daher müsse der Staat mit einer ‚einigermaßen umfassenden Sozialisierung der Investitionen‘ eingreifen, die jedoch parallel zum Privatsektor stattfinden würde. Wenn man diese Argumentation weiterverfolgt, stößt man nun tatsächlich auf eine ‚chinesische‘ Wirtschaftsstruktur – auch wenn man sich ihr in einem keynesianischen und nicht in einem marxistischen Rahmen nähert. ‚Zhuada Fangxiao‘, das Erfassen großer staatlicher Unternehmen und die Entlassung kleinerer an den nichtstaatlichen/privaten Sektor, gepaart mit der Abkehr von der quantitativen Planung, bedeutet, dass Chinas Wirtschaft nicht durch administrative Mittel, sondern durch eine allgemeine makroökonomische Steuerung der Investitionen reguliert wird – wie sie Keynes befürwortete.“
Während kapitalistische Investitionen von Berechnungen zur Gewinnmaximierung (durch Maximierung der Ausbeutung von Arbeitskräften) geleitet werden, unterliegen Investitionen in Chinas strategischen staatseigene Betriebe (SEB) anderen Kriterien. Die Unterstützung des Staatssektors durch die KPCh soll ihr die Möglichkeit geben, die Gesamtwirtschaft wirksam zu kontrollieren und gleichzeitig soziale Stabilität zu gewährleisten, indem sie dem Kern der Arbeiterklasse sichere Arbeitsplätze bietet. In Der Mythos vom kapitalistischen China haben wir erörtert, dass die SEB zwar im Allgemeinen deutlich weniger rentabel sind als private Unternehmen, dass sie aber unter der KPCh vom staatlichen Finanzsektor bevorzugt behandelt werden.
Ross prahlt, dass „Chinas Wirtschaft nicht mit administrativen Mitteln, sondern durch makroökonomische Investitionskontrolle reguliert wird“, und sieht Chinas Wirtschaftswachstum offenbar in erster Linie als ein Ergebnis der Investitionsrate und nicht des Wachstums der Arbeitsproduktivität. Es steht außer Frage, dass die KPCh die Investitionen steuert, was es ihr ermöglicht, gelegentlich einzelne Unternehmer oder ganze Sektoren zu bestrafen, wenn sie aus der Reihe tanzen. Ross neigt dazu, die zentrale Rolle der KPCh und ihre Bereitschaft herunterzuspielen, die Entwicklungen ohne Rücksicht auf kurz- oder sogar mittelfristige Rentabilität zu steuern. In einem Kommentar von 2015 zeichnete der marxistische Wirtschaftswissenschaftler Michael Roberts ein nuancierteres und genaueres Bild:
„…das Wertgesetz auf den Weltmärkten wirkt sich auf die chinesische Wirtschaft aus. Aber die Auswirkungen werden durch die bürokratische ‚Einmischung‘ des Staates und der Parteistruktur ‚verzerrt‘, ‚gebremst‘ und blockiert, so dass es die chinesische Wirtschaft noch nicht vollständig beherrschen und steuern kann.
Chinas ‚Sozialismus mit chinesischen Merkmalen‘ ist ein merkwürdiges Gebilde. Es ist kein ‚Sozialismus‘ im Sinne einer marxistischen Definition oder eines Maßstabs für demokratische Arbeiterkontrolle. Und es gab in den letzten 30 Jahren ein beträchtliches Wachstum privater Unternehmen, sowohl ausländischer als auch inländischer, mit der Einrichtung eines Aktienmarktes und anderer Finanzinstitutionen. Die überwiegende Mehrheit der Arbeitsplätze und Investitionen wird jedoch von staatlichen Unternehmen oder von Institutionen getätigt, die unter der Leitung und Kontrolle der Kommunistischen Partei stehen. Der größte Teil von Chinas weltbester Industrie besteht nicht aus multinationalen Unternehmen in ausländischem Besitz, sondern aus chinesischen Staatsbetrieben. Die großen Banken befinden sich in Staatsbesitz, und ihre Kredit- und Einlagenpolitik wird von der Regierung gelenkt (sehr zum Leidwesen der chinesischen Zentralbank und anderer prokapitalistischer Elemente). Es gibt keinen freien Fluss von ausländischem Kapital nach China und aus China heraus. Es werden Kapitalverkehrskontrollen verhängt und durchgesetzt, und der Wert der Währung wird beeinflusst, um wirtschaftliche Ziele festzulegen (sehr zum Verdruss des US-Kongresses).“
– Michael Roberts, thenextrecession.wordpress.com, Juli 2015
Während sich das Wirtschaftswachstum verlangsamt hat und die Rentabilität des chinesischen Privatsektors nach dem weltweiten Crash von 2007 zurückgegangen ist, wurden die öffentlichen Investitionen mit niedrigen Zinssätzen aufrechterhalten:
„Die Bruttoinvestitionen liegen seit 2009 im Durchschnitt bei über 47 % des BIP. Aber das reale BIP-Wachstum hat sich verlangsamt. Chinas Produktivitätsrendite auf neue Investitionen (oder die Produktivität des Kapitaleinsatzes) ist also rückläufig. 2006, vor der globalen Krise, waren 2,9 Einheiten an Investitionen erforderlich, um das reale BIP um eine Einheit zu erhöhen. 2014 sind nun 6,6 Einheiten erforderlich. China muss zu seiner langfristigen durchschnittlichen TFP-Rate [totale Faktorproduktivität] von über 2,5 % pro Jahr zurückkehren, um ein reales BIP-Wachstum von 7 % zu erreichen.“
– Ebenda
Marxisten sehen den Ursprung der kapitalistischen Krisentendenzen in der Tendenz, dass die Investitionsrendite (Profit) aufgrund des ständigen Zwanges sinkt, neue, effizientere Produktionsmittel zu erwerben, um einen Vorteil gegenüber der Konkurrenz zu erlangen oder mit ihr Schritt zu halten. Jede größere technologische Verbesserung führt zu einer Verringerung des Arbeitseinsatzes pro Produktionseinheit, was, da die Arbeit die einzige Quelle des Wertes ist, tendenziell die Profitrate („Mehrwert“) pro Investitionseinheit senkt, was zu periodischen destabilisierenden Krisen führt:
„Der Widerspruch, ganz allgemein ausgedrückt, besteht darin, daß die kapitalistische Produktionsweise eine Tendenz einschließt nach absoluter Entwicklung der Produktivkräfte, abgesehn vom Wert und dem in ihm eingeschloßnen Mehrwert, auch abgesehn von den gesellschaftlichen Verhältnissen, innerhalb deren die kapitalistische Produktion stattfindet; während sie andrerseits die Erhaltung des existierenden Kapitalwerts und seine Verwertung im höchsten Maß (d.h. stets beschleunigten Anwachs dieses Werts) zum Ziel hat. Ihr spezifischer Charakter ist auf den vorhandnen Kapitalwert als Mittel zur größtmöglichen Verwertung dieses Werts gerichtet. Die Methoden, wodurch sie dies erreicht, schließen ein: Abnahme der Profitrate, Entwertung des vorhandnen Kapitals und Entwicklung der Produktivkräfte der Arbeit auf Kosten der schon produzierten Produktivkräfte.
Die periodische Entwertung des vorhandnen Kapitals, die ein der kapitalistischen Produktionsweise immanentes Mittel ist, den Fall der Profitrate aufzuhalten und die Akkumulation von Kapitalwert durch Bildung von Neukapital zu beschleunigen, stört die gegebnen Verhältnisse, worin sich der Zirkulations- und Reproduktionsprozeß des Kapitals vollzieht, und ist daher begleitet von plötzlichen Stockungen und Krisen des Produktionsprozesses.“
– Karl Marx, Das Kapital Band 3, 1894, MEW-Bd. 25
Die globale Finanzkrise von 2007-08 kostete rund 40 Millionen chinesischen Beschäftigten ihren Arbeitsplatz. Die Tatsache, dass die meisten Verluste in privaten, exportorientierten Unternehmen zu verzeichnen waren, verdeutlichte auf dramatische Weise die Grenzen der Ankurbelung des inländischen Wachstums durch den Verkauf von Waren auf ausländischen kapitalistischen Märkten. Ross hat dies offenbar nicht zur Kenntnis genommen, da er nicht auf die Notwendigkeit eingeht, dass China mit dem Ausbau der Produktionskapazitäten einen allmählichen Übergang weg von der Marktorientierung vollziehen muss. Stattdessen scheint er eine Zukunft zu sehen, in der ein Großteil der chinesischen Wirtschaft weiterhin auf das Modell der Produktion für den Profit ausgerichtet ist, das bei Bedarf durch gelegentliche keynesianische Interventionen modifiziert wird.
In seinem 1926 erschienenen Buch Die Neue Ökonomik stellte Evgeni Preobraschenskij, ein enger Mitarbeiter Leo Trotzkis in der sowjetischen Linken Opposition, fest, dass, nachdem die Arbeiterklasse die Staatsmacht übernommen hat, „gleichzeitig zwei Gesetze mit diametral entgegengesetzten Tendenzen operieren“. Das eine nannte er das „Gesetz der sozialistischen Akkumulation“, das andere ist das Wertgesetz, das besagt, dass in einer kapitalistischen Gesellschaft die Waren auf der Grundlage der in ihnen enthaltenen gesellschaftlich notwendigen Arbeit ausgetauscht werden. Marx ging davon aus, dass in dem Maße, in dem sich eine sozialistische Wirtschaft entwickelt und die Bürger Zugang zu einem immer größeren Angebot an Produkten und Dienstleistungen haben, die Rolle des Wertgesetzes bei der Zuteilung der lebensnotwendigen und anderen Güter (d. h. an jeden entsprechend seines Arbeitseinsatzes) schwinden würde. Im Zuge dieses Prozesses wird auch der staatliche Zwangsapparat, der zur Regulierung und Durchsetzung dieses „bürgerlichen Rechts“ erforderlich ist, allmählich schwinden, bis es schließlich möglich sein wird, und es kann „die Gesellschaft auf ihre Fahne schreiben: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!“, wie Marx es in seiner Kritik des Gothaer Programms 1875 formulierte.
In seiner Analyse des bürokratisch degenerierten sowjetischen Arbeiterstaates der 1930er Jahre stellte Trotzki fest, dass die rasante wirtschaftliche Entwicklung, die sich aus der Einführung des kollektivierten Eigentums und des Prinzips der Planung ergab, in krassem Gegensatz zu den „bürgerlichen Verteilungsnormen“ stand, durch die sich die parasitäre bürokratische Elite einen unverhältnismäßig großen Anteil am Sozialprodukt aneignete:
„Innerhalb des Sowjetregimes wachsen zwei entgegengesetzte Tendenzen. Soweit es im Gegensatz zum verfaulenden Kapitalismus die Produktivkräfte entwickelt, bereitet es das ökonomische Fundament für den Sozialismus vor. Soweit es den Oberschichten zuliebe die bürgerlichen Verteilungsnormen ins Extreme steigert, bereitet es die kapitalistische Restauration vor. Der Gegensatz zwischen Eigentumsformen und Verteilungsnormen kann nicht endlos wachsen. Entweder werden die bürgerlichen Normen – so oder so – auch auf die Produktionsmittel übergreifen, oder es müssen umgekehrt die Verteilungsnormen mit dem sozialistischen Eigentum in Einklang gebracht werden. Die Bürokratie fürchtet die Aufdeckung dieser Alternative.“
– Trotzki, a.a.O., 1936
Die obersten Schichten der KPCh und die Schicht der kapitalistischen Milliardäre, die sie herangezogen hat, verfügen über einen weitaus größeren Reichtum als die oberste Schicht der sowjetischen Bürokratie unter Stalin je hatte. Die chinesische Arbeitsproduktivität holt rasch die der entwickelten kapitalistischen Länder auf – eine Leistung, an die die Sowjetunion nie herankam. Der Widerspruch, den Trotzki in der UdSSR zwischen dem „sozialistischen Eigentum” und den bürgerlichen Verteilungsnormen ausmachte, stellt sich daher im heutigen China von Xi noch ausgeprägter dar, als er es in der Sowjetunion unter Stalin tat. Dies ist ein tiefgreifendes Problem, an dessen Untersuchung John Ross und andere KPCh-Apologeten jedoch wenig Interesse zeigen.
Vielleicht hofft Ross, dass der Widerspruch mit der Kombination aus ideologischen Appellen und polizeilichem Druck, die Xi Jinpings anhaltende „Anti-Korruptions“-Aktionen kennzeichnen, auf unbestimmte Zeit gelöst werden kann. Indem die KPCh-Führung mit diesen Initiativen die schlimmsten Übeltäter ins Visier nimmt, hat sie ihr Image in der Bevölkerung aufpoliert und die prahlerische Zurschaustellung unrechtmäßig erworbener Gewinne durch noch unentdeckte Täter verhindert, aber der ihnen zugrunde liegende Widerspruch bleibt bestehen.
Ross behauptet, dass es möglich ist, die chinesische Wirtschaft in einem „keynesianischen und nicht in einem marxistischen Rahmen“ zu betrachten; dies impliziert eine grundlegende Kompatibilität zwischen zwei in Wirklichkeit völlig gegensätzlichen Ansätzen. In seiner Diskussion über die Reaktion der KPCh auf die globale Finanzkrise von 2007 behauptet Ross, dass Dengs Metapher über die Fähigkeit verschiedenfarbiger Katzen, Mäuse zu fangen, auf Marx und Keynes angewendet werden kann:
„Deng Xiaopings berühmteste wirtschaftliche Aussage ist natürlich die ‚Katzentheorie‘: ‚Es ist egal, ob eine Katze schwarz oder weiß ist, solange sie Mäuse fängt‘. Aber die ‚Katzentheorie‘ kann auch auf die Wirtschaft selbst angewandt werden – es spielt keine Rolle, ob etwas mit marxistischen oder westlichen Wirtschaftsbegriffen beschrieben wird, solange dieselbe Wirtschaftsstruktur und -politik existiert. Zhuada Fangxiao ist eine Schlussfolgerung, die sowohl aus marxistischer als auch aus keynesianischer Sicht gezogen werden kann. … In China hingegen wurden Haushaltsdefizite mit niedrigeren Zinssätzen, einem staatlichen Bankensystem (‚Sterbehilfe für den Rentier‘) und einem riesigen staatlichen Investitionsprogramm kombiniert. Während das westliche Konjunkturprogramm zaghaft war, verfolgte China eine umfassende Politik, wie man sie aus Keynes’ Allgemeiner Theorie kennt, sowie seinen eigenen ‚Sozialismus chinesischer Prägung‘. Warum dieser Kontrast und warum war Chinas Konjunkturprogramm so viel erfolgreicher als das des Westens? Weil im Westen natürlich die Meinung vorherrscht, dass die Farbe der Katze eine große Rolle spielt. Nur die Katze in der Farbe des Privatsektors ist gut, die Katze in der Farbe des Staatssektors ist schlecht.“
Ross scheint die Entwicklung der Produktion in einem Arbeiterstaat in erster Linie als eine Frage der Bereitstellung ausreichender Investitionen zu betrachten:
„…Deng Xiaopings Wirtschaftsreform ging von den zugrunde liegenden theoretischen Wirtschaftsprinzipien bis hin zur Lösung eminent praktischer wirtschaftspolitischer Fragen in integrierter Weise vor. Dies führte zu dem bei weitem größten Wirtschaftswachstum und sozialen Fortschritt, den ein Land in der Geschichte je erlebt hat. Dieses integrierte System erklärt auch, warum jede Abweichung vom Weg Deng Xiaopings zwangsläufig zu wirtschaftlichen Schwierigkeiten führt. Jede Rückkehr zu einer verwalteten Wirtschaft führt dazu, dass die Vorteile der Kleinserienproduktion nicht genutzt werden können und in der Praxis die Fähigkeit zur Integration in einen Weltwirtschaftsmarkt verloren geht. Jedes System, das ein System schafft, in dem das private Unternehmertum dominiert, verliert jedoch die Fähigkeit des Staates, das Investitionsniveau zu regulieren, und schafft damit erneut die Probleme, die sowohl Keynes als auch Deng Xiaoping erfolgreich gelöst hatten. Kurz gesagt, niemand in der Geschichte hat jemals ein so tiefes wirtschaftliches Denken mit einer so erfolgreichen Wirtschaftspolitik kombiniert wie Deng Xiaoping.“
Als jemand, dessen „tiefgründiges wirtschaftliches Denken“ durch die Beschränkung auf den „Sozialismus in einem Land“ begrenzt ist, betrachtet Ross (in Anlehnung an seinen Mentor) natürlich „den [kapitalistischen] Weltwirtschaftsmarkt“ als ein dauerhaftes Merkmal der menschlichen Gesellschaft oder zumindest als eines, das auf unbestimmte Zeit fortbestehen wird. Wenn das wahr wäre, dann wäre jede Diskussion darüber, wie die Produktivkräfte entwickelt werden könnten, nachdem die Menschheit den Rahmen der Produktion für den Profit (d.h. für den anonymen Markt) überschritten hat, einfach Zeitverschwendung. Trotzki und Preobraschenskij gingen bei ihren Überlegungen über den möglichen Verlauf des sowjetischen Wirtschaftswachstums jedoch von einer anderen Prämisse aus – sie stützten ihre Projektionen auf die Aussage von Marx, dass die Arbeiterklasse nach der Eroberung der Staatsmacht versuchen sollte, die Beseitigung der für die Klassengesellschaft charakteristischen sozialen Ungleichheit „gewaltsam zu beschleunigen“:
„… solange die andren Klassen, speziell die kapitalistische noch existiert, solange das Proletariat mit ihr kämpft (denn mit seiner Regierungsmacht sind seine Feinde und ist die alte Organisation der Gesellschaft noch nicht verschwunden), muß es gewaltsame Mittel anwenden, daher Regierungsmittel; ist es selbst noch Klasse, und sind die ökonomischen Bedingungen, worauf der Klassenkampf beruht und die Existenz der Klassen, noch nicht verschwunden und müssen gewaltsam aus dem Weg geräumt oder umgewandelt werden, ihr Umwandlungsprozeß gewaltsam beschleunigt werden.“
– Karl Marx, Konspekt von Bakunins Buch „Staatlichkeit und Anarchie“, 1874, MEW-Band 18
Arbeiterstaaten, Auslandsinvestitionen und internationaler Handel
Neben staatlichen Investitionen nennt Ross als weitere Triebkraft des Wirtschaftswachstums die Beteiligung Chinas im Zentrum einer stetig wachsenden internationalen Arbeitsteilung. Doch auch hier versäumt er es, zwischen kapitalistischer und proletarischer Produktionsweise zu unterscheiden, und behandelt Chinas zunehmende Integration in den kapitalistischen Weltmarkt als eine eindeutig positive Entwicklung:
„Diese Analyse von Marx/[Adam]Smith hinsichtlich der entscheidenden Rolle der internationalen Arbeitsteilung als deutlichster Ausdruck der allgemeinen Vergesellschaftung/Arbeitsteilung wird natürlich in der Gegenwart durch zahlreiche faktische Studien bestätigt, die die starke positive Korrelation zwischen der Offenheit einer Wirtschaft für den Handel und ihrer wirtschaftlichen Entwicklungsgeschwindigkeit zeigen – diese starke Korrelation ist der internationale Ausdruck der Schlüsselrolle, die die inländische Vision der Arbeit und die Rolle der Zwischenprodukte/des zirkulierenden Kapitals spielt… Darüber hinaus stand, wie bereits erwähnt, das niedrige Niveau des internationalen Handels, das ein integraler Bestandteil des sowjetischen Systems nach 1929 war, was die Abkopplung der UdSSR von einer breiten Beteiligung an der internationalen Arbeitsteilung bedeutete, daher im Widerspruch zu den Marx‘schen Konzepten. Im Gegensatz zur sowjetischen Abweichung von Marx ist die Unterstützung der Globalisierung eines der grundlegendsten Merkmale der marxistischen Wirtschaftspolitik Chinas – sie ist bereits im Namen der ‚Reform und Öffnung‘ enthalten. Dies wird natürlich fortgesetzt und in den Diskussionen um den 19. Parteitag weiterentwickelt.“
Ross ignoriert die Tatsache, dass die Sowjetunion in den späten 1920er Jahren von den damals mächtigsten kapitalistischen Mächten aggressiv angefeindet wurde. Ihr autarkes Programm der raschen Industrialisierung, mit dem sie ihre räuberischen Konkurrenten „einholen“ wollte, wurde zwar auf grobe und übermäßig brutale Weise durchgeführt, war aber in Wirklichkeit keine „Abweichung von Marx“, sondern überlebenswichtig. Im Jahrzehnt nach 1928, als die Große Depression die Wirtschaft der westlichen imperialistischen Länder verwüstete, stieg die sowjetische Produktionsleistung um 600 Prozent (The Rise and Fall of the Great Powers, Paul Kennedy).
In der oben zitierten Passage abstrahiert Ross von der wichtigen Unterscheidung zwischen kapitalistischer und sozialistischer Produktionsweise, indem er leichtfertig behauptet, dass es „eine starke positive Korrelation zwischen der Offenheit einer Wirtschaft für den Handel und ihrer Geschwindigkeit der wirtschaftlichen Entwicklung“ gibt. Seine Förderer in der KPCh haben eine vernünftigere Leitlinie für die Teilnahme an der globalen kapitalistischen Wirtschaft aufgestellt: Chinas Engagement im Außenhandel beschränkt sich in der Regel auf Sektoren, in denen das Land Zugang zu Technologie oder Rohstoffen benötigt. Ausländische Investitionen sind nicht erlaubt, wenn sie die Ziele der Fünfjahrespläne beeinträchtigen oder die Vorherrschaft staatlicher Unternehmen in strategischen Bereichen gefährden.
Ross lebte zwischen 1992 und 2000 in Moskau, wo er laut einer biografischen Notiz seines Verlegers „versuchte, die russischen Behörden davon zu überzeugen, eine Wirtschaftsreform nach chinesischem Vorbild anstelle einer westlichen Schocktherapie durchzuführen“. Russland unter Boris Jelzin hat gezeigt, wie entgegen den sonnigen Prognosen der Finanzbetrüger, die den „Washingtoner Konsens“ anpreisen, das uneingeschränkte Eindringen ausländischen Kapitals und der „Freihandel“ erstklassige Vermögenswerte vernichtet und zu einem Rückgang der industriellen Kapazität, des Lebensstandards und der Lebenserwartung geführt haben (siehe: Russia: A Capitalist Dystopia; deutsch: Russland: Eine kapitalistische Dystopie). Die KPCh-Führung hat sich zwar formell den Anforderungen der vom Imperialismus dominierten Welthandelsorganisation unterworfen, doch hat sie den Zugang des ausländischen Kapitals zur chinesischen Wirtschaft weiterhin strikt begrenzt.
Ross malt ein rosiges Bild von Chinas „nationaler Verjüngung“ durch seine Teilnahme am Weltmarkt. Er beschreibt auch ein imaginäres Szenario, in dem sich die globalen imperialistischen Raubtiere zu Mitgliedern einer „Schicksalsgemeinschaft“ entwickeln und die expansionistischen Impulse rivalisierender Bourgeoisien auf wundersame Weise in harmonische Zusammenarbeit umgewandelt werden:
„Statt einer ‚Nullsummen‘-Situation können durch Arbeitsteilung beide oder viele Seiten gewinnen, d. h. internationale Interaktion ist für beide Seiten von Vorteil. Internationale Zusammenarbeit ist daher nicht nur notwendig, um mit inhärent internationalen Problemen (Klimawandel, Terrorismus usw.) fertig zu werden, sondern ihre gegenseitigen Vorteile in Form eines möglichst hohen Lebensstandards sind in der internationalen Arbeitsteilung/-vergesellschaftung begründet und nur durch sie zu erreichen. Dass solche Vorteile nur durch das Zusammenwirken von Staaten erreicht werden können, kommt daher gerade in Xi Jinpings Konzept einer ‚Schicksalsgemeinschaft‘ oder ‚gemeinsamen Zukunft der Menschheit‘ zum Ausdruck.“
Marx spottete über solche „Win-Win“-Phantasien von einer globalen Arbeitsteilung, die allen Teilnehmern des kapitalistischen Weltmarkts zugutekommt. Er befürwortete den Freihandel zwischen rivalisierenden nationalen Bourgeoisien, weil er davon ausging, dass er die sozialen Widersprüche verschärfen und „die soziale Revolution beschleunigen“ würde:
„Aber im allgemeinen ist heutzutage das Schutzzollsystem konservativ, während das Freihandelssystem zerstörend wirkt. Es zersetzt die bisherigen Nationalitäten und treibt den Gegensatz zwischen Proletariat und Bourgeoisie auf die Spitze. Mit einem Wort, das System der Handelsfreiheit beschleunigt die soziale Revolution. Und nur in diesem revolutionären Sinne, meine Herren, stimme ich für den Freihandel.“
– Karl Marx, Rede über die Frage des Freihandels, 9. Januar 1848, MEW-Bd. 4
Wie Marx feststellte, sind die Produzenten, die über eine fortschrittlichere Maschinerie verfügen, d. h. eine höhere organische Zusammensetzung des Kapitals, in der Lage, sich den Mehrwert ihrer weniger entwickelten Konkurrenten anzueignen. Diese Ungleichheit ist der zentrale Mechanismus der globalen imperialistischen Ausbeutung:
„Kapitale, im auswärtigen Handel angelegt, können eine höhere Profitrate abwerfen, weil hier erstens mit Waren konkurriert wird, die von andern Ländern mit mindren Produktionsleichtigkeiten produziert werden, so daß das fortgeschrittnere Land seine Waren über ihrem Wert verkauft, obgleich wohlfeiler als die Konkurrenzländer. Sofern die Arbeit des fortgeschrittnern Landes hier als Arbeit von höherm spezifischen Gewicht verwertet wird, steigt die Profitrate, indem die Arbeit, die nicht als qualitativ höhere bezahlt, als solche verkauft wird. Dasselbe Verhältnis kann stattfinden gegen das Land, wohin Waren gesandt und woraus Waren bezogen werden; daß dies nämlich mehr vergegenständlichte Arbeit in natura gibt, als es erhält, und daß es doch hierbei die Ware wohlfeiler erhält, als es sie selbst produzieren könnte. Ganz wie der Fabrikant, der eine neue Erfindung vor ihrer Verallgemeinerung benutzt, wohlfeiler verkauft als seine Konkurrenten, und dennoch über dem individuellen Wert seiner Ware verkauft, d.h., die spezifisch höhere Produktivkraft der von ihm angewandten Arbeit als Mehrarbeit verwertet. Er realisiert so einen Surplusprofit.“
– Marx, a.a.O., 1894
Die an der globalen Arbeitsteilung Beteiligten sind nicht von den Bewegungsgesetzen des Kapitalismus ausgenommen:
„Dies ist Gesetz für die kapitalistische Produktion, gegeben durch die beständigen Revolutionen in den Produktionsmethoden selbst, die damit beständig verknüpfte Entwertung von vorhandnem Kapital, den allgemeinen Konkurrenzkampf und die Notwendigkeit, die Produktion zu verbessern und ihre Stufenleiter auszudehnen, bloß als Erhaltungsmittel und bei Strafe des Untergangs. Der Markt muß daher beständig ausgedehnt werden, so daß seine Zusammenhänge und die sie regelnden Bedingungen immer mehr die Gestalt eines von den Produzenten unabhängigen Naturgesetzes annehmen, immer unkontrollierbarer werden. Der innere Widerspruch sucht sich auszugleichen durch Ausdehnung des äußern Feldes der Produktion.“
– Ebenda
Auf dem Weltmarkt werden Unternehmen mit niedrigeren Produktionskosten versuchen, die Handelsschranken zu umgehen, die ihre schwächeren Konkurrenten schützen sollen. Das kapitalistische Streben nach ständiger Expansion muss langfristig Chinas kollektivierte Eigentumsformen und die sie verteidigende Staatsmacht bedrohen, weshalb die KPCh eine strenge Kontrolle über strategische Wirtschaftssektoren und Investitionen aufrechterhält. Ross ignoriert im Wesentlichen diese kritische Voraussetzung für Chinas generell erfolgreiche Interaktion mit dem kapitalistischen Weltmarkt und feiert einfach die Politik der „Öffnung“. Aber jede ernsthafte Analyse – ob marxistisch oder kapitalistisch – muss erkennen, dass die Einstellung des globalen Finanzkapitals gegenüber der Existenz einer rivalisierenden gesellschaftlichen Struktur, die sich der Durchdringung oder Kontrolle widersetzt, im Grunde nur eine der abgrundtiefen und hartnäckigen Feindseligkeit sein kann.
Die chinesische Bürokratie, die sich der zunehmenden Feindseligkeit des untergehenden US-Hegemons und seiner Verbündeten und Vasallen bewusst ist, hat eine Vielzahl diplomatischer und wirtschaftlicher Initiativen ergriffen, die darauf abzielen, Freunde zu gewinnen und Aggressoren zu entmutigen, während sie gleichzeitig in großem Umfang in die Entwicklung der Fähigkeit investiert, einen militärischen Konflikt zu führen und zu gewinnen, wenn dies notwendig ist. Diese Art von defensiven Vorbereitungen stellen eine Anerkennung der Tatsache dar, dass es keine Aussicht auf eine langfristige „friedliche Koexistenz“ für einen isolierten Arbeiterstaat in einer von imperialistischen Raubtieren beherrschten Welt gibt. Die Existenz einer mächtigen einheimischen Bourgeoisie, die darauf bedacht ist, ihre eigenen Interessen zu verfolgen und sich an den von der KPCh auferlegten Fesseln reibt, bedeutet, dass im Falle eines ernsthaften zukünftigen Konflikts bereits eine konterrevolutionäre fünfte Kolonne vorhanden ist.
Revolutionärer Internationalismus vs. „Sozialismus in einem Land“
In einer berühmten Passage, die einige Jahre vor dem Erscheinen des Kommunistischen Manifests verfasst wurde, postulierten Marx und Engels die massive Ausweitung der Produktivkräfte als Voraussetzung für den Sozialismus. Dies ist ein Punkt, den Ross sehr stark betont. Die Begründer der kommunistischen Bewegung verbanden diese These mit einer anderen – dass ein isoliertes sozialistisches Regime in einer feindlichen kapitalistischen Welt nicht lange überleben, geschweige denn sich erfolgreich entwickeln könne. Diese Tatsache, so stellten sie fest, macht jede Nation „von den Umwälzungen der andern abhängig“ und bedeutet, dass erst dann, wenn die Arbeitermacht in der gesamten kapitalistischen Welt etabliert ist, die Bedingungen für „die universelle Entwicklung der Produktivkraft und den mit dem Kommunismus verbundenen Weltverkehr“ gegeben sind:
„… und andrerseits ist diese Entwicklung der Produktivkräfte (womit zugleich schon die in weltgeschichtlichem, statt der in lokalem Dasein der Menschen vorhandne empirische Existenz gegeben ist) auch deswegen eine absolut notwendige praktische Voraussetzung, weil ohne sie nur der Mangel verallgemeinert, also mit der Notdurft auch der Streit um das Notwendige wieder beginnen und die ganze alte Scheiße sich herstellen müßte, weil ferner nur mit dieser universellen Entwicklung der Produktivkräfte ein universeller Verkehr der Menschen gesetzt ist, daher einerseits das Phänomen der ‚Eigentumslosen‘ Masse in Allen Völkern gleichzeitig erzeugt (allgemeine Konkurrenz), jedes derselben von den Umwälzungen der andern abhängig macht, und endlich weltgeschichtliche, empirisch universelle Individuen an die Stelle der lokalen gesetzt hat. Ohne dies könnte 1. der Kommunismus nur als eine Lokalität existieren, 2. die Mächte des Verkehrs selbst hätten sich als universelle, drum unerträgliche Mächte nicht entwickeln können, sie wären heimisch-abergläubige ‚Umstände‘ geblieben, und 3. würde jede Erweiterung des Verkehrs den lokalen Kommunismus aufheben. Der Kommunismus ist empirisch nur als die Tat der herrschenden Völker ‚auf einmal‘ und gleichzeitig möglich, was die universelle Entwicklung der Produktivkraft und den mit ihm zusammenhängenden Weltverkehr voraussetzt.“
– Karl Marx, Friedrich Engels, Die deutsche Ideologie, 1845, MEW-Bd. 3
Marx und Engels wiederholten in ihrer Zusammenfassung der Lehren aus dem gescheiterten revolutionären Aufstand von 1848 den Gedanken, dass der Sozialismus, d.h. die Abschaffung des Privateigentums und der sozialen Klassen, den Triumpf der proletarischen Revolution „nicht nur in einem Land, sondern in allen führenden Ländern der Welt“ erfordert:
„Während die demokratischen Kleinbürger die Revolution möglichst rasch und unter Durchführung höchstens der obigen Ansprüche zum Abschlüsse bringen wollen, ist es unser Interesse und unsere Aufgabe, die Revolution permanent zu machen, so lange, bis alle mehr oder weniger besitzenden Klassen von der Herrschaft verdrängt sind, die Staatsgewalt vom Proletariat erobert und die Assoziation der Proletarier nicht nur in einem Lande, sondern in allen herrschenden Ländern der ganzen Welt so weit vorgeschritten ist, daß die Konkurrenz der Proletarier in diesen Ländern aufgehört hat und daß wenigstens die entscheidenden produktiven Kräfte in den Händen der Proletarier konzentriert sind. Es kann sich für uns nicht um Veränderung des Privateigentums handeln, sondern nur um seine Vernichtung, nicht um Vertuschung der Klassengegensätze, sondern um Aufhebung der Klassen, nicht um Verbesserung der bestehenden Gesellschaft, sondern um Gründung einer neuen.“
– Marx, Ansprache der Zentralbehörde an den Bund vom März, 1850, MEW-Bd. 7
Lenin hielt es für eine „Abc-Wahrheit“, dass „die gemeinsamen Anstrengungen der Arbeiter mehrerer fortgeschrittener Länder für den Sieg des Sozialismus notwendig sind“:
„Nicht zu Ende geführt haben wir jedoch die Errichtung auch nur des Fundaments der sozialistischen Wirtschaft. Das können die uns feindlichen Kräfte des sterbenden Kapitalismus noch rückgängig machen. Man muß sich dessen klar bewußt sein und es offen zugeben, denn es gibt nichts Gefährlicheres als Illusionen (und Schwindelanfälle, zumal in großen Höhen). Und an dem Eingeständnis dieser bitteren Wahrheit ist entschieden nichts ‚Schreckliches‘, nichts, das berechtigten Anlaß auch nur zur geringsten Verzagtheit gäbe, denn wir haben stets die Abc-Wahrheit des Marxismus verkündet und wiederholt, daß zum Sieg des Sozialismus die gemeinsamen Anstrengungen der Arbeiter mehrerer fortgeschrittener Länder notwendig sind. Wir aber stehen einstweilen immer noch allein, und wir haben in einem rückständigen Lande, in einem Lande, das mehr als die übrigen verwüstet ist, unglaublich viel geleistet.“
– Lenin, Notizen eines Publizisten, Februar 1922, LW-Bd. 33
John Ross ist natürlich sehr vertraut mit der Behauptung von Marx, dass eine wirklich sozialistische Gesellschaft eine kooperative Arbeitsteilung im globalen Maßstab voraussetzt. Diese Aussage steht jedoch in direktem Widerspruch zur im Wesentlichen nationalistischen Ausrichtung von Deng und der derzeitigen KPCh-Führung, die alle in der Nachfolge von Mao Tse-tung und seinem Mentor Josef Stalin den Aufbau des „Sozialismus in einem Land” zu ihrem Maximalprogramm erklärt haben. Lenins Feststellung, dass „es nichts Gefährlicheres [gibt] als Illusionen“, trifft natürlich voll und ganz auf jede Hoffnung auf eine lang anhaltende friedliche Koexistenz mit den gefräßigen Wölfen des globalen Finanzkapitals zu. Dies ist jedoch die notwendige Konsequenz des utopisch-reaktionären Programms des „Sozialismus in einem Land“. Lenin erkannte an, dass „wir den Handel mit kapitalistischen Ländern (solange sie noch nicht ganz zusammengebrochen sind) unbedingt brauchen“, hielt es aber für äußerst wichtig, die Kommunistische Internationale aufzubauen, indem er Revolutionären, die versuchten, in ihren eigenen Ländern revolutionäre sozialistische Massenparteien aufzubauen, politische Anleitung und materielle Unterstützung anbot. Als die Sowjetunion ein gesunder Arbeiterstaat war, mit Lenin und Trotzki an der Spitze, wurde dem Kampf um die Gewinnung einer Massenanhängerschaft für den revolutionären Marxismus innerhalb des internationalen Proletariats hohe Priorität eingeräumt.
Die reaktionären Auswirkungen der Verfolgung der nationalen Interessen eines einzigen „sozialistischen“ Landes zeigen sich in den regelmäßigen Zusammenstößen Chinas mit Vietnam um das Territorium und den Zugang zu den Ressourcen im Südchinesischen Meer – ein Konflikt, in dem die herrschenden Bürokraten in Peking und Hanoi jeweils versuchen, ihre eigenen engstirnigen Interessen durchzusetzen. Es gibt eine Parallele zur chinesisch-sowjetischen Spaltung in den 1960er und 70er Jahren, als die KPCh unter Maos Führung ein strategisches Bündnis mit dem US-Imperialismus gegen die UdSSR einging – ein Verrat, der die „Öffnung“ für den kapitalistischen Weltmarkt erleichterte. Washington erwartete, dass die wirtschaftliche Einbindung in den Weltmarkt und die Herausbildung einer einheimischen Kapitalistenklasse die Tür zur kapitalistischen Restauration in China öffnen würde. Die KPCh hat die Beziehungen zum Westen bisher weitaus geschickter gehandhabt, als viele, auch wir, erwartet hatten. Dieser Erfolg war jedoch durch eine einzigartige geopolitische Konstellation bedingt, die heute nicht mehr existiert. Was sich nicht geändert hat, ist, dass das Überleben des deformierten chinesischen Arbeiterstaates die Ausweitung der sozialistischen Revolution auf internationaler Ebene erforderlich macht – insbesondere auf die „fortgeschrittenen kapitalistischen“ (imperialistischen) Länder.
Ross ist sich natürlich der Gefahr bewusst, die von der amerikanischen Feindseligkeit gegenüber Chinas kollektiviertem Eigentumssystem ausgeht:
„Die größte und fundamentalste Gefahr, die die amerikanischen Neokonservativen anstreben, besteht darin, das sozialistische System in China zu stürzen. Wenn das gelänge, würden die Mechanismen, die die Reform und Öffnung zum größten wirtschaftlichen Erfolg der Weltgeschichte gemacht haben, nicht nur für China, sondern für das gesamte Wohlergehen der Menschheit, zerstört, und China würde eine nationale Katastrophe erleiden – genau wie es in der ehemaligen UdSSR geschah. Dies wäre nicht nur für China, sondern für die gesamte Menschheit katastrophal.“
Die kapitalistische Restauration in China würde in der Tat eine enorme Niederlage für die internationale Arbeiterbewegung bedeuten, die in ihren Auswirkungen mit dem Triumph der kapitalistischen Konterrevolution im Sowjetblock vergleichbar wäre. Der aggressive „Pivot to Asia“ des US-Imperialismus, der vom Präsidenten der Demokraten, Barack Obama, eingeleitet und von Donald Trump und Joe Biden fortgesetzt wurde, stellt eine Anerkennung der Tatsache dar, dass das wirtschaftliche Engagement nicht zu einer spürbaren Zunahme der Dynamik der kapitalistischen Restauration geführt hat. Ross erkennt diese strategische Verschiebung an, lehnt sich aber eher an Karl Kautsky als an Lenin an, wenn er Biden rät, dass sich eine „rationale Außenpolitik“, die internationale Spannungen abbaut, zu Wahlzeiten auszahlen könnte:
„Wenn Biden keine rationale Außenpolitik betreibt und eine aggressive internationale Politik fortsetzt, wird das Fehlen einer angemessenen Reduzierung der internationalen Spannungen Bidens Fähigkeit verringern, der Bevölkerung in den USA Zugeständnisse zu machen – und damit seine innenpolitische Unterstützung und seine Fähigkeit untergraben, das hohe Mobilisierungsniveau der Wähler der Demokratischen Partei aufrechtzuerhalten, auf dem sein Wahlsieg im Jahr 2020 beruhte. Eine aggressive internationale Politik Bidens wird daher die Wahrscheinlichkeit einer Niederlage der Demokraten bei den Kongresswahlen im Jahr 2022 und bei der Präsidentschaftswahl 2024 erheblich erhöhen.“
Ross bedauert, dass es in den USA oder anderen imperialistischen Ländern keine brauchbaren marxistischen Parteien gibt, die in der Lage wären, dem militärischen und kommerziellen Druck des Imperialismus auf China mit kämpferischen Arbeiteraktionen zu begegnen:
„Der Druck der Bevölkerung in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern kann erheblich dazu beitragen, den Handlungsspielraum der USA einzuschränken, wie man nach Vietnam auf eindrucksvolle Weise gesehen hat, und in geringerem Maße durch die allgemeine Einschätzung der USA, dass sich die Invasion im Irak als Fehler erwiesen hat. Aber solange die USA die allgemeine politische Kontrolle in ihrem eigenen Land behalten, können sie immer gegen Bedrohungen ihrer zentralen Strategie zurückschlagen – und keine marxistische Partei, die in der Lage wäre, die Kontrolle der herrschenden Klasse in Frage zu stellen, hat mehr als nur marginale Unterstützung in den USA oder einem anderen fortgeschrittenen kapitalistischen Land.“
In den 1970er Jahren, nach der Annäherung Chinas an den US-Imperialismus, folgte ein Großteil des einstmals bedeutenden maoistischen Milieus in Nordamerika und Europa der Aufforderung der KPCh, sich aufzulösen. Zuvor hatte China große Mengen an Büchern und Broschüren, darunter Schlüsseltexte von Marx und Lenin (sowie Mao), zu geringen oder gar keinen Kosten an Unterstützer in anderen Ländern geliefert. All diese Aktivitäten wurden eingestellt, als die KPCh-Bürokratie beschloss, dass die Zusammenarbeit als Juniorpartner des US-Imperialismus im Kampf gegen den „sowjetischen Sozialimperialismus“ ein praktischeres Mittel zur Sicherung ihrer Interessen sei als der Versuch, den Imperialisten im eigenen Land Ärger zu machen. Dieser Schritt der KPCh war in etwa vergleichbar mit Stalins weitaus folgenschwererer Auflösung der Kommunistischen Internationale 1943 als Geste des guten Willens gegenüber seinen britischen und amerikanischen imperialistischen Verbündeten inmitten des Zweiten Weltkriegs.
Der tatsächliche Verzicht auf den revolutionären Internationalismus ist ein notwendiger Aspekt des zutiefst konterrevolutionären stalinistischen Programms des „Sozialismus in einem Land“, das die in der Sowjetunion unter Lenin und Trotzki verfolgte Strategie ins Gegenteil verkehrte. Lenin betrachtete die Kommunistische (Dritte) Internationale und die Entwicklung schlagkräftiger revolutionärer Arbeiterparteien auf der ganzen Welt sowohl als wesentlich für das Überleben des sowjetischen Arbeiterstaates als auch als dessen größte Errungenschaft:
„Der internationale Bund der Parteien, die die revolutionärste Bewegung der Welt leiten, die Bewegung des Proletariats zum Sturze des kapitalistischen Jochs, hat jetzt eine Basis von beispielloser Festigkeit: mehrere Sowjetrepubliken, die in internationalem Maßstab die Diktatur des Proletariats, seinen Sieg über den Kapitalismus lebendig verkörpern … Die Sowjetrepublik der Proletarier und Bauern erwies sich als die erste dauerhafte sozialistische Republik der Welt. Sie kann, als neuer Typus des Staates, schon nicht mehr untergehen. Sie steht schon heute nicht mehr allein.
Um den Aufbau des Sozialismus fortzusetzen, um ihn zu Ende zu führen, ist noch sehr, sehr vieles erforderlich. Sowjetrepubliken in Ländern auf höherer Kulturstufe, mit größerem Gewicht und Einfluß des Proletariats haben alle Aussichten, Rußland zu überholen, sobald sie den Weg der Diktatur des Proletariats einschlagen.“
– Lenin, Die Dritte Internationale und ihr Platz in der Geschichte, 15. April 1919, LW-Bd. 29
Lenin begrüßte die Tatsache, dass die Imperialisten es „fürchten wie das Feuer eine Ansteckung durch Ideen, die von einem ruinierten, hungernden, rückständigen, ihrer Versicherung nach sogar halbwilden Lande ausgeht.“ Er betrachtete den Durchbruch in Russland nur als ein Glied in einer Kette revolutionärer Erhebungen:
„Zeitweilig – selbstverständlich nur für kurze Zeit – ist die Hegemonie in der revolutionären proletarischen Internationale an die Russen übergegangen, wie sie in verschiedenen Perioden des 19. Jahrhunderts die Engländer, dann die Franzosen und dann die Deutschen innegehabt haben.“
– Ebenda
Diese Perspektive steht in krassem Gegensatz zur nationalistisch-reformistischen Ausrichtung der KPCh. Ross billigt offenbar die Weigerung der Partei, die Idee zu fördern, dass Arbeiter und Bauern in anderen Ländern dem chinesischen Beispiel folgen und die imperialistischen Blutsauger und ihre einheimischen Verbündeten beseitigen sollten:
„China setzt sich zu Recht nicht dafür ein, dass andere Länder seinem ‚Modell‘ folgen – obwohl es die Länder nicht daran hindern kann, von Chinas Erfolg zu lernen, und einige von ihnen das auch tun werden. Die große Mehrheit der Länder des Globalen Südens wird kapitalistisch bleiben, auch wenn sich einige Länder in Richtung Sozialismus bewegen werden – letztere werden besonders enge Verbündete Chinas sein. Aber aus den bereits analysierten Gründen will die große Mehrheit der Entwicklungsländer nicht die anti-chinesische Politik verfolgen, die die USA durchzusetzen versuchen. Diese Länder des Globalen Südens bilden daher eine sehr große Reihe von Verbündeten für China – und das internationale Kräfteverhältnis bewegt sich in ihre Richtung. Die Kombination aus dem Hauptfaktor, der Stärke der eigenen Entwicklung Chinas, aber auch dem Wachstum der Volkswirtschaften des Globalen Südens, bedeutet eine langsame, aber zunehmende Verschiebung des Kräfteverhältnisses in Richtung China. Die Schlussfolgerung, die sich daraus ergibt, ist klar und dieselbe wie, in einem anderen Kontext, die in ‚Über den langwierigen Krieg‘ – China kann nicht schnell gewinnen, aber es wird siegen.“
Chinas wirtschaftliches Engagement im „Globalen Süden“ wird im Gegensatz zu den imperialistischen Ländern von den betroffenen Bevölkerungen im Allgemeinen als vorteilhaft angesehen. Das liegt daran, dass die KPCh nicht gezwungen ist, kurzfristige Profite zu maximieren, sondern durch für beide Seiten vorteilhafte Initiativen Investitionen zur Verfolgung längerfristiger, geostrategischer Ziele tätigen kann. Diesen Unterschied wissen viele der ausländischen kapitalistischen Partner Chinas zu schätzen, die Erfahrungen mit den ausbeuterischen und räuberischen Bedingungen haben, die typischerweise von imperialistischen Investoren auferlegt werden.
Die neokolonialen Herrscher, mit denen China Geschäfte macht, bleiben letztlich die lokalen Agenten des globalen Kapitals und können bei einer ernsthaften Konfrontation sicherlich nicht als verlässliche „Verbündete“ betrachtet werden – trotz der optimistischen Spekulationen von Ross über eine Verschiebung des Kräfteverhältnisses im „Globalen Süden“ zugunsten Chinas. Jede bedeutsame Veränderung würde neue soziale Revolutionen voraussetzen, um sowohl ausländische als auch einheimische Kapitalisten zu enteignen und die Verbindung zum imperialistischen Finanzkapital zu kappen.
Chinesische Arbeiter brauchen eine leninistisch-trotzkistische Führung!
Ross skizziert kompetent die enormen Errungenschaften des chinesischen deformierten Arbeiterstaates und die enormen Verbesserungen des Lebensstandards für die Masse der Bevölkerung. Chinas spektakulärer technologischer und industrieller Aufstieg hat das Land in die Werkstatt der Welt verwandelt und es ihm ermöglicht, erfolgreich auf dem Weltmarkt zu konkurrieren. Dies ist etwas, was die Sowjetunion trotz sehr bedeutender industrieller und technologischer Errungenschaften nie erreicht hat.
Die KPCh hat bisher erfolgreich die Marktmechanismen genutzt, um die Produktion anzukurbeln und das technologische Niveau anzuheben, während sie gleichzeitig dem ausländischen und inländischen Kapital strenge Grenzen gesetzt hat. Die Existenz einer Schicht mächtiger und extrem reicher Kapitalisten mit vielfältigen Verbindungen zum ausländischen Imperialismus stellt jedoch ein ernstes strategisches Problem dar, das nicht durch die Rekrutierung von Milliardären für die KPCh oder die polizeiliche Unterdrückung von Rechtsbrechern und korrupten Bürokraten gelöst werden kann. Die Interessen derjenigen, die von kollektivierten Eigentumsformen profitieren, lassen sich auf Dauer nicht mit den Eigentümern privater Unternehmen vereinbaren – eine Klasse muss letztlich über die andere triumphieren.
Die KPCh ist trotz ihrer Selbstbeschreibung eine bonapartistische Formation, die zwischen den beiden grundlegenden Klassen der modernen Gesellschaft – der Bourgeoisie und der Arbeiterklasse – den Vermittler spielt. Ihre Macht ergibt sich aus ihrer Stellung an der Spitze des Systems des kollektiven Eigentums, und ihr politisches Monopol verschafft ihr sowohl erhebliche materielle Privilegien als auch die Fähigkeit, das soziale und politische Regelwerk zu gestalten. Aber sie hat keine notwendige Beziehung zu den Produktionsmitteln; sie ist ein parasitäres und historisch vorübergehendes Gebilde, das organisch nicht in der Lage ist, eine wahrhaft sozialistische Gesellschaft zu schaffen. Diese Aufgabe kann nur durch die Schaffung einer politischen Ordnung verwirklicht werden, in der alle wichtigen Aspekte der sozialen, wirtschaftlichen und politischen Organisation direkt von den Massen der Werktätigen bestimmt werden. Die große marxistische Revolutionärin Rosa Luxemburg, die 1915 aus dem Gefängnis schrieb, in das sie geschickt wurde, weil sie es gewagt hatte, sich gegen den imperialistischen Krieg auszusprechen, erklärte:
„Darum nennt Friedrich Engels den endgültigen Sieg des sozialistischen Proletariats einen Sprung der Menschheit aus dem Tierreich in das Reich der Freiheit. … Aber er kann nimmermehr vollbracht werden, wenn aus all dem von der Entwicklung zusammengetragenen Stoff der materiellen Vorbedingungen nicht der zündende Funke des bewußten Willens der großen Volksmasse aufspringt. Der Sieg des Sozialismus wird nicht wie ein Fatum vom Himmel herabfallen. Er kann nur durch eine lange Kette gewaltiger Kraftproben zwischen den alten und den neuen Mächten erkämpft werden, Kraftproben, in denen das internationale Proletariat unter der Führung der Sozialdemokratie lernt und versucht, seine Geschicke in die eigene Hand zu nehmen, sich des Steuers des gesellschaftlichen Lebens zu bemächtigen, aus einem willenlosen Spielball der eigenen Geschichte zu ihrem zielklaren Lenker zu werden.“
– Rosa Luxemburg, Die Krise der Sozialdemokratie (Die „Junius“-Broschüre), 1916, Gesammelte Werke, Bd. 4
Es gibt keine administrativen oder bürokratischen Abkürzungen zur Schaffung einer klassenlosen Gesellschaft – die aktive, bewusste Beteiligung der Masse der arbeitenden Menschen ist der eigentliche Kern des Sozialismus. In den Provisorischen Statuten der Internationalen Arbeiter-Assoziation im September 1864 erklärte Karl Marx:
„daß die Emanzipation der Arbeiterklasse durch die Arbeiterklasse selbst erobert werden muß; daß der Kampf für die Emanzipation der Arbeiterklasse kein Kampf für Klassenvorrechte und Monopole ist, sondern für gleiche Rechte und Pflichten und für die Vernichtung aller Klassenherrschaft“
Marx verband dies mit der Feststellung:
„daß die Emanzipation der Arbeiterklasse weder eine lokale, noch eine nationale, sondern eine soziale Aufgabe ist, welche alle Länder umfaßt, in denen die moderne Gesellschaft besteht, und deren Lösung vom praktischen und theoretischen Zusammenwirken der fortgeschrittensten Länder abhängt“
Der Sieg der chinesischen Revolution 1949 stellte einen wichtigen Schritt nach vorn für die Menschheit dar; die erstaunliche industrielle/technologische Entwicklung des Landes in den letzten Jahrzehnten ist von potenziell weltgeschichtlicher Bedeutung. Im Gegensatz zur Sowjetunion hat China in den letzten 40 Jahren die Produktivitätslücke zur „fortgeschrittenen kapitalistischen“ Welt kontinuierlich verkleinert. Doch der Sieg des Sozialismus, wie Marx ihn sich vorstellte, erfordert nicht nur die Abschaffung aller „Klassenprivilegien“ und eine Gesellschaftsordnung, die durch „gleiche Rechte und Pflichten“ gekennzeichnet ist, sondern auch die Ausdehnung der proletarischen Revolution auf „die fortgeschrittensten Länder“, d. h. die Kernländer des Imperialismus.
Die chinesische Arbeiterklasse hat in den letzten Jahren viele Kämpfe sowohl gegen die kapitalistischen Ausbeuter als auch gegen ihre bürokratischen Beschützer in der KPCh geführt; in vielen Fällen haben sie wesentliche Zugeständnisse errungen. Allein im vergangenen Jahr gab es über tausend Arbeiterproteste – die Hälfte davon im Baugewerbe und weitere 35 Prozent im Transport- und Logistiksektor. Die KPCh duldet solche Aktionen, solange sie örtlich sehr begrenzt bleiben – was die stalinistischen Bürokraten nicht dulden wollen, ist die Entwicklung jeglicher embryonaler Formationen, die das Entstehen einer potenziellen alternativen Führung für die aufgebrachte Arbeiterklasse ankündigen könnten.
Um in China den Weg zum Sozialismus „marxistischer Prägung“ zu eröffnen – d. h. zu einer Gesellschaft, in der die Arbeiterklasse direkt die Entscheidungsgewalt innehat –, ist eine politische Revolution erforderlich, die das kollektivierte Eigentumssystem bewahrt und gleichzeitig das politische Monopol der KPCh bricht. Dies erfordert den Aufbau einer neuen politischen Führung auf der Grundlage eines Programms, das dem von der sowjetischen Linken Opposition in den 1920er Jahren entwickelten Programm sehr nahekommt.
Die von Ross so kritisierte „ultralinke“ Wende in der Sowjetunion im Jahr 1929 war die direkte Folge der Implosion der Wette der Stalin-Bucharin-Führung auf die Kulaken auf dem Lande. Die Warnungen der Linken Opposition vor der wachsenden Gefahr, die von den ländlichen Kapitalisten ausging, wurden ignoriert. Parallel dazu setzte sich Stalin über die Einwände der Führer der im Entstehen begriffenen Kommunistischen Partei Chinas sowie der Linken Opposition hinweg und beschloss, dass sich die KPCh der bürgerlich-nationalistischen Kuomintang unter Führung von Tschiang Kai-schek anschließen sollte. Stalins Politik zielte darauf ab, ein diplomatisches Bündnis mit Chinas Machthabern unter dem Banner eines Zweiklassenblocks zu fördern. In Die Dritte Internationale nach Lenin zitierte Trotzki Stalins Direktive an die kommunistischen Parteien Ostasiens:
„Von der Politik der nationalen Einheitsfront müssen die Kommunisten … zur Politik eines revolutionären Blocks zwischen den Arbeitern und der Kleinbourgeoisie übergehen. Dieser Block kann in solchen Ländern die Form einer Einheitspartei, einer Arbeiter- und Bauernpartei annehmen, etwa nach Art der Kuo-min-tang.“
– zitiert in: Die Dritte Internationale nach Lenin, 1928
Anfang 1926 wurde die Kuomintang als „assoziierte“ Partei in die Kommunistische Internationale aufgenommen. Ein Jahr später massakrierten Tschiangs Militärs Zehntausende von militanten Arbeitern, nachdem sie Moskaus Anweisung zur Entwaffnung befolgt hatten. Damit war die Basis der KPCh in der Arbeiterklasse zerschlagen. Genau wie in der UdSSR versuchte Stalin, das katastrophale Scheitern einer rechtsgerichteten Anpassung an kapitalistische Elemente durch eine abrupte „ultralinke“ Wende zu kompensieren. Moskau befahl den Parteianhängern in Kanton, die dem Kuomintang-Massaker entkommen waren, ohne jegliche ernsthafte politische oder materielle Vorbereitung einen bewaffneten Aufstand zu inszenieren. Das Ergebnis war eine weitere Katastrophe. Mit der Liquidierung des größten Teils ihrer städtischen proletarischen Basis verwandelte sich die KPCh in eine bäuerliche Organisation, die unter der Führung von Mao Tse-tung eine Strategie des langwierigen ländlichen Guerillakriegs verfolgte. Das chinesische Proletariat spielte in der sozialen Revolution von 1949 keine Rolle; als Maos militarisierte Bauernpartei schließlich die Städte eroberte und die Macht übernahm, ging sie sofort dazu über, ein Regime nach dem Vorbild von Stalins bürokratischer Diktatur in der UdSSR zu errichten.
Sowohl aufgrund seiner politischen Neigung als auch aufgrund seiner Ausbildung neigt Ross zu einer objektivistischen Sicht der historischen Entwicklung und zur Anbetung der vollendeten Tatsachen. Diese Unzulänglichkeiten, die schon lange vor seiner Ankunft in China bestanden, wurden zweifellos durch den Widerwillen, die Hand zu beißen, die ihn füttert, noch verstärkt. Er weiß sehr wohl, dass Marx, Engels, Lenin, Trotzki, Luxemburg und alle anderen ernsthaften marxistischen Denker der Ansicht waren, dass die Schaffung einer wirklich sozialistischen Gesellschaft die internationale Ausdehnung eines revolutionären Umsturzes in einem Land auf die führenden kapitalistischen Mächte erfordert; sie hielten es auch für selbstverständlich, dass Sozialismus eine Gesellschaft bedeutet, in der „das Proletariat als herrschende Klasse organisiert ist“. Ross vermeidet es, darüber zu spekulieren, wie das, was derzeit als „Sozialismus chinesischer Prägung“ bezeichnet wird, eines Tages in eine Gesellschaft übergehen könnte, in der die Arbeiter eine tatsächliche und nicht nur eine hypothetische politische Vorherrschaft ausüben.
Die bisherigen Erfolge auf der Grundlage der sozialen Errungenschaften der Revolution von 1949, so groß sie auch sein mögen, können nur durch eine politische Revolution vollständig gesichert werden, die die KPCh-Bürokratie stürzt und die Herrschaft der Massen der chinesischen Arbeiterklasse durch repräsentative Arbeiterräte nach dem Vorbild der „Sowjets“ errichtet, die in der russischen Oktoberrevolution von 1917 eine zentrale Rolle spielten. In einem solchen Kampf würde ein großer Teil der Kader der KPCh, vor allem aus den eher plebejischen Schichten, zu den Aufständischen überlaufen, wie es 1956 die Mehrheit der ungarischen Kommunisten tat.
Ein unterschätzter Aspekt der berühmten Ereignisse auf dem Platz des Himmlischen Friedens 1989 war die Entwicklung des Kerns der repräsentativen Arbeiterräte, wie wir sie 2006 beschrieben haben:
„Anfang April 1989, als studentische Demonstranten den Tienanmen-Platz besetzten, um demokratische Reformen zu fordern, trafen bald Delegationen von ArbeiterInnen aus den Fabriken Beijings hinzu. Am Ende des Monats entwickelte sich die Autonome Beijinger Arbeiter Föderation (ABAF), die ihre Basis in den Bereichen Eisenbahn, Stahl und Flugverkehr hatte. Ähnliche Formationen entstanden bald auch in anderen wichtigen Städten. Ursprünglich waren diese Organisationen darauf fixiert, Forderungen nach vom ACTFU unabhängigen Gewerkschaften zu stellen; jedoch begannen sie bald, Themen wie höhere Löhne, Lebensstandard, bürokratische Privilegien, Einkommensunterschiede und Demokratie am Arbeitsplatz anzusprechen. Arbeiterorganisationen in verschiedenen Städten begannen, sich zu vernetzen und viele sandten Repräsentanten zur ABAF, die angefangen hatte, als Leitungszentrum der Bewegung zu fungieren.
Am 18. Mai 1989 demonstrierten eine Millionen Menschen, vor allem ArbeiterInnen, in Beijing. Eine Woche später wurde das Vorbereitungskomitee für eine nationale ‚Arbeiter-Selbstregierungsföderation‘ ins Leben gerufen. Die KPCh sah dies als eine ernsthafte Bedrohung ihrer Herrschaft an. Am 2. Juni 1989 begann die ACFTU, die vorher die Forderungen der Massen nach einem Generalstreik übernommen hatte, zu fordern, dass die ABAFs verboten werden sollten. Zwei Tage später griffen loyale Armeeeinheiten des Regimes brutal die Demonstranten an und töteten Hunderte. Tausende von ArbeiterInnen, die beschuldigt wurden, an der Autonomen Arbeiterbewegung teilgenommen zu haben, wurden ins Gefängnis geworfen oder hingerichtet.
Die Autonomen Arbeiterföderationen wurden zwar durch Repression zerschlagen, lieferten jedoch der Arbeiterbewegung eine machtvolle Demonstration des Potentials für unabhängige politische Arbeiteraktion.“
– Bolschewik 22, 2005
Die Führung der KPCh ist zu Recht nervös über die Folgen der wachsenden Popularität des Maoismus in Teilen der Bevölkerung, die ihn fälschlicherweise mit kommunistischem Egalitarismus gleichsetzen. Wie in Stalins UdSSR duldet die herrschende Bürokratie in China keine Kritik und unterdrückt rücksichtslos alles, was ihrer Meinung nach das Potenzial hat, sich möglicherweise zu einem alternativen politischen Zentrum zu entwickeln. Der „Sozialismus in einem Land“ ist eine zutiefst pessimistische Doktrin, die die Interessen einer fest verwurzelten, aber historisch vergänglichen, bürokratischen Kaste widerspiegelt. Wie jede Variante der bürgerlichen Gesellschaftstheorie geht auch der Stalinismus von der Vorstellung aus, dass Knappheit und wirtschaftliche Ungleichheit ständige Merkmale der menschlichen Existenz sind und dass die Zivilisation daher eine soziale Hierarchie erfordert. Der Marxismus geht von der gegenteiligen These aus: Um ihr volles Potenzial zu erreichen – ja sogar um langfristig zu überleben – muss die Menschheit auf die Schaffung einer egalitären Gesellschaftsordnung hinarbeiten. Dies erfordert eine geplante Reorganisation der Weltwirtschaft um ein ökologisch nachhaltiges Produktionsniveau zu erreichen, das ausreicht, um den Lebensstandard der Masse der Weltbevölkerung auf das Niveau anzuheben, das derzeit die komfortablen oberen kleinbürgerlichen Schichten in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern genießen.
Die direkte Beteiligung der Arbeiterklasse an der wirtschaftlichen und politischen Verwaltung ist die einzige Grundlage, auf der eine Gesellschaftsordnung geschaffen werden kann, die den Aufstieg zu einer wirklich klassenlosen Gesellschaft ermöglicht, den ersten Schritt beim Übergang zu den höheren Stufen des Kommunismus. Ross mag die Vertiefung der von seinem Helden Deng Xiaoping eingeleiteten Innenpolitik der „Reform und Öffnung“ bei gleichzeitiger Beschwichtigung des ausländischen Imperialismus als einen „praktischeren“ Ansatz ansehen. Aber der Versuch, die Forderungen des Kapitals mit den Bedürfnissen der Massen in Einklang zu bringen, muss unweigerlich zu Spannungen, Instabilität und Klassenkonflikten führen. Dengs Modell ist ein Hybridersatz, der nicht haltbar ist, weshalb das politische Monopol der KPCh nicht lange aufrechterhalten werden kann. Die entscheidende Frage ist, was an seine Stelle treten wird.
Chinas immens mächtige Arbeiterklasse braucht eine neue, revolutionäre Führung, die eine politische Revolution anführt, die die KPCh-Bürokratie beseitigt und gleichzeitig das kollektivierte Eigentumssystem verteidigt und ausbaut. Eine wirklich revolutionäre Arbeiterpartei – eine trotzkistische Partei – muss sich auf die Prinzipien und das Programm von Marx und Engels, das Erbe von Lenin und der bolschewistischen Revolution und Trotzkis Kampf gegen die stalinistische Degeneration des sowjetischen Arbeiterstaates stützen. Der Aufbau der ersten Kader, um den Kern einer solchen Organisation zu schaffen, ist die wichtigste Aufgabe, vor der chinesische Marxisten heute stehen.
Eine siegreiche politische Revolution, die die Großkapitalisten enteignet und die direkte Herrschaft von Arbeiterräten einführt, die sich aus Betriebsdelegierten zusammensetzen – nach dem Beispiel der bahnbrechenden „Autonomen Arbeiter-Föderation” von 1989 – würde einen revolutionären Tsunami in ganz Eurasien auslösen, dessen Auswirkungen in ganz Afrika und Lateinamerika zu spüren wären und der sogar einen revolutionären Aufschwung im politisch rückständigen imperialistischen Kernland der USA inspirieren würde. Sie könnte Milliarden von Menschen in den Kampf zur Beendigung der sozialen Unterdrückung und wirtschaftlichen Unsicherheit durch eine sozialistische Revolution treiben.
Der weltweite Niedergang des revolutionären Marxismus in den letzten Jahrzehnten ist nicht auf den Erfolg des Kapitalismus bei der Erfüllung der objektiven Bedürfnisse der Menschheit zurückzuführen. Er ist vielmehr eine Folge der reformistischen Unterwürfigkeit, Feigheit und Demoralisierung, die praktisch jede bedeutende Formation in der Führung der internationalen Arbeiterbewegung kennzeichnet. Ein aufstrebendes chinesisches Proletariat, das die Kontrolle über eine fortgeschrittene Wirtschaft mit enormer Produktionskapazität und hochentwickelter Technologie an sich reißt, wäre ein welthistorisches Ereignis, das in der Lage wäre, das zu beenden, was Marx 1859 als „Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft“ bezeichnete, die durch Armut und Ausbeutung gekennzeichnet ist, und den Vorhang für eine Zukunft des Überflusses und der sozialen Harmonie zu heben, die durch eine rationale, sozialistische Wirtschaftsplanung im Weltmaßstab ermöglicht wird.