Die Occupy Wall Street-Bewegung
Der Kapitalismus kann nicht repariert werden – Enteignet die 1%!
Der Zuccotti Park in Manhattan liegt dem Gelände des ehemaligen World Trade Centers direkt gegenüber. Demonstranten haben ihn in „Liberty Square“ (Freiheitsplatz) umbenannt, der für „Occupy Wall Street“ (OWS) zum Ground Zero wurde, zu einer modernen Zeltstadt, die an Bilder aus der Zeit der großen Wirtschaftskrise erinnern und an das Lager von 43.000 Veteranen des 1. Weltkrieges in Washington D.C., das von General Douglas MacArthur und Major Dwight D. Eisenhower brutal zerstreut wurde.
Zehntausende nahmen an den Kundgebungen und Märschen teil, aber nur ein paar Hundert schlafen tatsächlich im Park. Und doch hat ihr Camp eine Bewegung inspiriert, die starken Widerhall in zig Millionen Amerikanern auslöste:
“Eine neue AP-GfK Umfrage zeigt, dass 37 Prozent der amerikanischen Öffentlichkeit OWS unterstützt, während das Marktforschungsunternehmen Chitika aufzeigt, dass das Online-Interesse an der Bewegung im vergangenen Monat um 150 Prozent angestiegen ist.
„Dies wird erhebliche Auswirkungen auf die bevorstehenden Wahlen haben“, sagt Gabriel Donnini, Analyst bei der Online-Analytik-Firma Chitika in Westborough, Massachusetts. „Die Bewegung stirbt nicht aus oder geht leise davon, und Kandidaten werden die Sorgen und Forderungen, die auf den Straßen geäußert werden und im Internet herumschwirren, adressieren müssen’, fügt er hinzu.“”
— Gloria Goodale: How Occupy Wall Street is testing the next US President, 2011, [Eig. Übers.],
http://www.csmonitor.com/USA/Politics/2011/1024/How-Occupy-Wall-Street-is-testing-the-next-US-president
Die Popularität der OWS ist zum Teil auf ihre weitgehend undefinierte Politik zurückzuführen – sie präsentiert sich als ein unbeschriebenes Blatt, auf das fast jeder seine eigenen Forderungen schreiben kann. Die Slogans auf den hausgemachten Pappschildern reflektieren den eklektischen und politisch ziemlich primitiven Charakter der Teilnehmer: „I’ll Believe Corporations Are People When Texas Executes One“ [Ich werde glauben, dass Firmen Personen sind, wenn Texas eine exekutiert hat], „The Wall Must Fall“ [Die Wall (Street) muss fallen], „Lost My Job, Found an Occupation“ [Verlor meinen Job, fand eine Beschäftigung], “CNN: Where is Our Embedded reporter? It’s a War, Man“ [CNN: Wo ist unser eingebundener Reporter? Es ist ein Krieg, Mann].
Viele der Hauptinitiatoren des OWS machten ihre ersten Erfahrungen im „Antiglobalisierungs“milieu, das seine Premiere im Dezember 1999 bei der „Schlacht von Seattle“ hatte. Die Medien spielten zunächst die Jugend der Teilnehmer hoch, das Durchschnittsalter der OWS-„Koordinatoren“ ist eher 30 als 18 Jahre. Sie sind keine naiven gitarreklimpernden Collegestudenten, sondern eher aktivistische Veteranen-Aktivisten mit erheblichen organisatorischen Erfahrungen.
Bestätigung der Bedeutung der sozialen Klasse
Die Auswirkungen der OWS-Bewegung können auf die Tatsache zurückgeführt werden, dass sie die tiefen Ängste der einfachen arbeitenden Menschen anspricht, die bereits wachsende materielle Not erfahren, in einer Zeit, in der die Wirtschaft über Bord zu gehen scheint. Der Mut und die Initiative der OWS-Demonstranten haben diese Sorgen erschlossen und Zehntausenden von Amerikanern nicht nur eine Chance gegeben, ihr Leid und ihre Ängste auszudrücken, sondern auch ein Forum geboten, um zu diskutieren, wie ihre Probleme zu lösen sind.
Zwar gibt es ein beachtliches Spektrum der Meinungen unter den Teilnehmern, die dominante Ideologie der führenden Aktivisten (in einer Bewegung, die im wesentlichen führerlos sein soll) kann locker als Anarcho-Liberalismus bezeichnet werden. Ihre Sicht der Welt ist vom zeitgenössischen radikalen Liberalismus eines Noam Chomsky, einer Naomi Klein und einer Barbara Ehrenreich geprägt, anstatt vom klassischen Anarchismus eines Michail Bakunin, einer Emma Goldman und eines Peter Arschinow. Viele von ihnen haben die Grünen unterstützt, und 2008 haben einige zweifellos für Barack Obama (vielleicht während sie sich die Nase zuhielten) als „kleineres Übel“ gestimmt.
Die Reden und Schriften der führenden Personen im OWS tendieren zu militantem Reformismus. Sie denunzieren die Gier der Unternehmen und die offensichtliche Ungerechtigkeit und groteske Ungleichheit der US-Gesellschaft und fordern gleichzeitig einen besseren Deal für die Opfer der Wall Street. Arun Gupta führte folgende Forderungen auf:
“Schluss mit dem Status von Unternehmen als juristische Personen; Besteuerung des Aktienhandels; Verstaatlichung der Banken; Vergesellschaftung der Medizin; fördert Regierungsjobs mit einem echten Anreiz; hebt die Einschränkungen der Organisierung der Arbeiter auf; ermöglicht es Städten, verlassene Häuser in öffentliche Wohnungen umzuwandeln; Aufbau einer grünen Wirtschaft.”
— Arun Gupta: The Revolution Begins at Home : Wall Street Protests Enter Third Week, The Occupied Wall Street Journal, 01.10.2011, [Eig. Übers.], http://occupiedmedia.us/2011/10/the-revolution-begins-at-home/
Die unausgesprochene Annahme ist, dass die Übel des „freien Marktes“ – Hunger, Armut, Ungleichheit und Krieg – eliminiert oder zumindest gezähmt werden können. Aber der Kapitalismus ist von Natur aus ein räuberisches soziales System nach dem Prinzip eines ständigen Kampfes „Jeder gegen Jeden“. Es kann nicht repariert werden – und statt Zeit und Energie darauf zu verschwenden, es zu versuchen, ist es notwendig, eine Bewegung aufzubauen, die sich dem Umsturz des gesamten Systems der Lohnsklaverei verpflichtet fühlt und Organe der Macht der Arbeiterklasse etabliert.
Die kapitalistische Demokratie: „Ein System der Herrschaft der Minderheit“
Die Occupy-Bewegung hat damit, dass sie die „1%“ als Ursache für das Elend der großen Mehrheit bezeichnet hat, auf die hässliche Realität des einseitigen Klassenkampfes hingewiesen, der seit Jahrzehnten in der selbst ernannten „Größten Demokratie der Welt“ wütet. Es ist sicher kein Geheimnis, dass viele der größten Unterstützer von Präsident Obama, sowie Schlüsselfiguren in seiner Verwaltung ihre Heimat in der Wall Street haben. Die wachsende Erkenntnis, dass das Zweiparteiensystem des US-Kapitalismus ein Betrug ist, war bis heute ein entscheidendes Element für den Erfolg des OWS-Bewegung. Um die Proteste zu kooptieren und die Unzufriedenheit, die die Occupy-Bewegung antreibt, in eine Sackgasse des bürgerlichen Elektoralismus umzuleiten, müssen die Demokraten (und ihre Arbeiterleutnants) die Opfer des Kapitalismus davon überzeugen, sich mit ihren Unterdrückern zu identifizieren. Umgekehrt, in dem Maße, in dem die Teilnehmer und Sympathisanten in der OWS-Bewegung zu verstehen beginnen, dass Armut, Ungleichheit, Rassismus und imperialistischer Krieg integrale Bestandteile des kapitalistischen Sozialsystems sind, besteht die Möglichkeit der Wiederschaffung einer großen sozialistischen Linken in der amerikanischen Arbeiterklasse – eine Entwicklung, die das Antlitz der Weltpolitik ändern würde.
Unter der kapitalistischen „Demokratie“ ist jeder Dollar gleich, aber jeder Mensch ist es nicht. Das Spiel ist zugunsten der „1%“ an der Spitze zugeschnitten, weil sie mehr Wohlstand als die unteren 90 Prozent haben. Die Kritik der OWS hat in der Regel versäumt, auf die notwendige Verbindung zwischen der politischen Herrschaft durch und für die Mehrheit („Demokratie“) und die radikale Rekonstruktion der Wirtschaft, um die Bedürfnisse der Mehrheit zu erfüllen („Sozialismus“) hinzuweisen. Aber James P. Cannon, der Gründer des amerikanischen Trotzkismus, sagte es 1957 in einer Rede ganz deutlich:
“Die authentische sozialistische Bewegung, wie sie von ihren Gründern konzipiert wurde und wie sie sich während des letzten Jahrhunderts entwickelte, war die demokratischste Bewegung in der gesamten Geschichte. Keine Formulierung dieser Frage kann die klassische Aussage des Kommunistischen Manifests verbessern, mit dem der moderne wissenschaftliche Sozialismus im Jahr 1848 der Welt verkündet wurde. Das Kommunistische Manifest erklärte:
Alle bisherigen Bewegungen waren Bewegungen von Minoritäten oder im Interesse von Minoritäten. Die proletarische Bewegung ist die selbstbewusste, unabhängige Bewegung der immensen Mehrheit im Interesse der immensen Mehrheit.
Die Autoren des Kommunistischen Manifests verknüpften Sozialismus und Demokratie als Zweck und Mittel. Die „selbstbewusste, unabhängige Bewegung der immensen Mehrheit im Interesse der immensen Mehrheit“ kann gar nichts anderes als demokratisch sein, wenn wir unter „Demokratie“ die Herrschaft des Volkes, der Mehrheit zu verstehen.”
— James P. Cannon: Speeches for socialism. New York: Pathfinder Press, 1971, S. 351, [Eig. Übers.]
Cannon wies darauf hin, dass die arbeitende Bevölkerung (die Mehrheit) wenig Einfluss auf die entscheidenden Faktoren hat, die ihr Leben prägen, solange die kapitalistische herrschende Klasse (die „1%“) die Wirtschaft kontrolliert:
“In den alten Tagen gaben die Agitatoren der Sozialistischen Partei [SP] und der IWW [Industrial Workers of the World] –, die wirkliche Demokraten waren – eine Kurzdefinition von Sozialismus als „industrielle Demokratie“. Ich weiß nicht, wie viele von Euch das gehört haben. Es war ein üblicher Ausdruck: „Industrielle Demokratie“, die Ausweitung der Demokratie auf die Industrie, die demokratische Kontrolle der Industrie durch die Arbeiter selbst, mit beseitigtem Privateigentum. Die sozialistische Forderung nach echter Demokratie wurde zur Zeit von [SP-Vorsitzendem Eugene] Debs und [Big Bill der IWW] Haywood als selbstverständlich genommen, als die amerikanische sozialistische Bewegung noch jung und unverdorben war.
Man hört so etwas heute nie mehr von einem „demokratischen“ Arbeiterführer. Die Verteidigung der „Demokratie“ durch die Sozialdemokraten und die Arbeiterbürokraten stellt sich in der Praxis immer als Verteidigung des „demokratischen“ Kapitalismus heraus…”
— Ebenda, S. 357 f, [Eig. Übers.]
“Der Kapitalismus, unter jeder Art von Regierung – ob bürgerliche Demokratie oder Faschismus oder militärischer Polizeistaat – unter jeder Art von Regierung ist der Kapitalismus ein System der Minderheitenherrschaft, und die Hauptnutznießer der kapitalistischen Demokratie sind die kleine Minderheit der ausbeutenden Kapitalisten…”
— Ebenda, S. 355, [Eig. Übers.]
Die meisten Anarchisten würden den Marxisten zustimmen, dass der Kapitalismus „ein System der Minderheitenherrschaft“ ist, das zugunsten einer winzigen Schicht der Bevölkerung tätig ist. Die Divergenz zwischen diesen beiden Tendenzen innerhalb der Arbeiterbewegung dreht sich historisch eher um Mittel als um Ziele. Der anarchistische Einfluss in OWS wird besonders deutlich im organisatorischen Rahmen der Generalversammlung (GA), wo alle Entscheidungen auf der Basis eines „Konsens“ erreicht werden sollen, wo die Teilnehmer Handzeichen benutzen, um Zustimmung oder Ablehnung mit den Sprechern anzuzeigen. Auf einer Ebene scheinen die GAs wirklich demokratisch und ziemlich egalitär zu sein, aber sie können auch furchtbar ineffizient sein. In der Regel werden die Dinge nur durch die Interventionen der „Vermittler“ erledigt, die versuchen, den Fluss und die Inhalte der Beratungen zu lenken. Zum Schluss hat üblicherweise derjenige, der am charismatischsten ist, die lauteste Stimme und/oder die meisten Freunde hat, seine Sicht der Dinge durch die Moderatoren zum „Konsens“ erklärt bekommen. Wo Meinungsverschiedenheiten besonders heftig sind, wird „Konsens“ manchmal nur erreicht, nachdem die Unterstützer einer Minderheitsposition zermürbt sind und sich von der Diskussion entfernen, um sich irgendein anderes Projekt vorzunehmen. Trotz der erklärten Absicht der Praktizierenden, der zeitaufwendige (und manchmal chaotische) Prozess der Konsensfindung ist am Ende oft nicht weniger „hierarchisch“ als eine demokratische Diskussion bei einem Treffen, das einen ordnungsgemäßen Vorsitz hat und mit Stimmenmehrheit entscheidet.
Von Tunis nach Kairo nach New York
Die Geschichte von Klassenkämpfen ist eine der Wellen, mit erfolgreichen Aufständen in einem Land, die anderswo erneuten Widerstand inspirieren. Der tunesische Obst- und Gemüsehändler, der im Dezember letzten Jahres nach Jahren der Schikanen durch die Polizei dazu getrieben wurde, sich zu opfern, löste eine Welle öffentlicher Proteste aus, die letztlich den langjährigen Diktator Zine el-Abidine Ben Ali stürzten. Dieser Erfolg inspirierte wiederum unzufriedene ägyptische Jugendliche, Kairos Tahrir-Platz für 18 Tage zu besetzen, Angriffe von angeheuerten Schlägern abzuwehren und schließlich den verhassten Husni Mubarak am 11. Februar zum Rücktritt zu zwingen. Unter den Zehntausenden von Arbeitern, die ein paar Tage später das Capitol in Wisconsin besetzten, um gegen Gouverneur Scott Walkers gewerkschaftsfeindliche Angriffe auf das Recht auf kollektive Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst zu protestieren, trugen einige Schilder, die die Proteste auf dem Tahrir-Platz begrüßten. Teilnehmer an den großen Anti-Austeritätsaktionen in Griechenland, sowie die indignados, die Puerta del Sol in Madrid im vergangenen Sommer besetzten, würdigten ebenfalls die inspirierenden Kämpfe der jugendlichen tunesischen und ägyptischen Demonstranten.
“Zum ersten Mal seit 1917 leben wir in einer Welt, in der Eigentumsrechte und freie Märkte als Grundprinzipien und nicht als widerwillige Hilfsmittel angesehen werden: Wo die unangenehmen Aspekte eines Marktsystems – Ungleichheit, Arbeitslosigkeit, Ungerechtigkeit – als Tatsachen des Lebens akzeptiert sind. Wie in der viktorianischen Ära, der Kapitalismus ist sicher … weil niemand eine plausible Alternative hat.”
— Paul Krugmann: The Return of Depression Economics and the Crisis of 2008. New York: W. W. Norton, 2009 [Eig. Übers.]
Die OWS-Initiative, dem arabischen Frühling nachempfunden, hat eine Welle von ähnlichen Protesten in Hunderten von Städten Nordamerikas mit Okkupationszeltlagern voller jugendlicher Demonstranten ausgelöst, die lautstark die Macht der kapitalistischen Finanzeliten und die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich anprangern. Wie Paul Krugman, möglicherweise Amerikas führender liberaler Intellektueller, festgestellt hat, ist die krasse Ungleichheit der Einkommen in den USA heute der der späten 1920er Jahre am Vorabend der Weltwirtschaftskrise eng vergleichbar.
Krugman hat recht, dass die zunehmende Ungleichheit verbunden ist mit „der grundlegenden politischen Tatsache der 1990er Jahre: Dem Zusammenbruch des Sozialismus“, womit er nicht nur die Zerstörung des degenerierten sowjetischen Arbeiterstaates meint, sondern auch die Idee einer egalitären wirtschaftlichen Ordnung (d. h., Sozialismus) „als eine Idee, mit der Macht die Gemüter zu bewegen“ (Ebenda, [Eig. Übers.]).
Aber Krugman ist kein Verfechter der sozialen Gleichheit. Sein Anliegen ist es, einen Weg zu finden, die Energie und den Enthusiasmus der Occupy-Bewegung in eine Art „Grassroots“ [Basis] demokratisches Gegengewicht zu den rechten republikanischen Tea Parties zu kanalisieren. Das würde das Ende der Hoffnungen bedeuten, die OWS entfacht hat, aber bisher gibt es kaum Anzeichen einer solchen Entwicklung. Natürlich kann die Entscheidung der Bürgermeisterin (Demokratische Partei) von Oakland, Jean Quan (Mitglied des „linken“ Flügels der Partei) für einen brutalen Überfall auf das Occupy-Lager in ihrer Stadt am 25. Oktober Krugmans Projekt nur komplizieren. Diverse professionelle reaktionäre Demagogen, wie Sean Hannity, Glenn Beck und Rush Limbaugh, haben vor Kurzem angefangen sich Sorgen zu machen, dass, wenn die Demokraten nicht in der Lage sind, die OWS-Bewegung zu kontrollieren, wir bald die Entstehung einer echten linksradikalen Bewegung in Amerika sehen könnten, die das gesamte Zwei-Parteien-Hütchenspiel, das solange so gut funktioniert hat, destabilisieren könnte. Nach Jahren der paranoiden Anschuldigungen gegen den imperialistischen Häuptling Barack Obama, er sei ein „big government“-Krypto-Sozialist, befürchten diese Vertreter der rassistischen kapitalistischen Reaktion, dass die Wut der Bevölkerung gegen die „1%“ ihnen einige echte Radikale zu bekämpfen geben könnte.
Occupy Wall Street trifft einen Nerv
Das OWS-Projekt wurde ursprünglich im Juli von Adbusters, einem Antikonsum-Umweltmagazin vorgeschlagen. Es wurde anschließend via Twitter durch das Internet-Portal US Day of Rage und die Anarcho-Hacker von Anonymous, deren Markenzeichen die Guy Fawkes-Maske ist, die der Protagonist in Alan Moores „V wie Vendetta“ getragen hat, einer 1980er Graphic Novel, aus der Warner Brothers 2006 eine Film-Version machten.
Die Stimmung in Amerika heute ist ganz anders als im Mai 1970, als rechte Schutzhelmträger eine Demonstration gegen den Vietnamkrieg in der Wall Street angriffen, nachdem die Nationalgarde aus Ohio vier Demonstranten an der Kent State University ermordet hatte. In diesen Tagen drücken viele Bauarbeiter, die durch den Zuccotti-Park gehen, ihren eigenen Hass gegen die Wall Street aus. Die New Yorker haben ihre Häuser für OWS-Mitglieder geöffnet, die eine heiße Dusche oder eine Nacht festen Schlaf brauchen. Die soziale Polarisierung der amerikanischen Gesellschaft wird durch die Zunahme der Ungleichheit in New York offensichtlich:
“Von 2009 bis 2010 wurden 75.000 Bewohner der Stadt in die Armut gedrängt, die armen Bevölkerung nahm auf mehr als 1,6 Millionen zu und die Prozentzahl der New Yorker, die unterhalb der offiziellen Bundes-Armutsgrenze leben, stieg auf 20,1 Prozent…
…
Manhattan hat auch weiterhin die größten Einkommensunterschiede von allen Bezirken im Land, mit dem oberen Fünftel der Verdiener (mit einem durchschnittlichen Einkommen von $ 371.754), die fast das 38fache des untersten Fünftels (9.845 $) haben.”
— Sam Roberts: One in Five New York Residents Living in Poverty, New York Times; 22.09.2011, [Eig. Übers.],
https://www.nytimes.com/2011/09/22/nyregion/one-in-five-new-york-city-residents-living-in-poverty.html
Zwischen 1980 und 2005 wurden rund 80 Prozent der gesamten Zunahme bei US-Einkommen durch das oberste 1 Prozent der Bevölkerung abgeschöpft. Seit Jahrzehnten akzeptierten die meisten Amerikaner die soziale Ungleichheit nicht nur als unvermeidlich, sondern auch als gerechtfertigt – reiche Leute wurden dadurch reich, glaubten sie, dass sie härter arbeiteten, mehr sparten, neue Erfindungen machten und effizientere Mittel zur Herstellung und Vermarktung von Produkten organisierten. Aber die Folgen der Finanzkrise 2008 haben das geändert, wie Glenn Greenwald in einem scharfsinnigen Artikel bei „TomDispatch“ (25. Oktober) beobachtete:
“Es ist nicht so, dass die Amerikaner plötzlich eines Tages aufwachten und beschlossen, dass erhebliche Einkommens- und Vermögensungleichheit selbst unfair oder untragbar sind. Was sich änderte, war die Wahrnehmung, wie dieser Wohlstand erreicht wurde und damit die daraus resultierende Ungleichheit als legitim.
Viele Amerikaner, die einmal diese Ungleichheit akzeptiert oder sogar bejubelt hatten, sehen die Gewinne der Reichsten nun als unrechtmäßig erworben, als unverdient, als Betrug an. Vor allem das Rechtssystem, das einst als legitimierender Anker für die resultierende Ungleichheit diente, die Rechtsstaatlichkeit – das grundlegendste der amerikanischen Ideale, das ein gemeinsamer Satz von Regeln gleichermaßen für alle gilt – ist jetzt unwiderruflich korrumpiert worden und wird auch so gesehen.
…
Es wird jetzt deutlich verstanden, dass, anstatt die Gesetze für alle gleich anzuwenden, die Wall Street-Giganten mit ungeheuerlichen Verbrechen beschäftigt waren – Aktionen, die die wirtschaftliche Sicherheit von Millionen von Menschen auf der ganzen Welt zerstörten – ohne dabei die geringsten rechtlichen Auswirkungen zu erfahren. Riesige Finanzinstitute wurden auf frischer Tat dabei ertappt, wie sie mit massivem und systematischem Betrug an der Zwangsvollstreckung der Häusern der Menschen arbeiteten, und die Reaktion der politischen Klasse war, angeführt von der Obama-Regierung, sie vor tiefgehenden Konsequenzen zu schützen. Anstatt sich auf der Basis der gleichen Regeln zu beugen, kontrollieren sie nun durch eine oligarchische, die Demokratie untergrabende Kontrolle des politischen Prozesses das Schreiben dieser Regeln und wie sie angewendet werden.
Heute ist es einem breiten Spektrum von Amerikanern sehr deutlich, dass der Reichtum der obersten 1% nicht etwa das Nebenprodukt eines risikobereiten Unternehmertums ist, sondern das einer korrupten Kontrolle unseres juristischen und politischen Systems.”
— Glenn Greenwald: How the Rich Subverted the Legal System, TomDispatch, 25.10.2011, [Eig. Übers.], http://www.tomdispatch.com/blog/175458/
Dies erklärt, warum die Unterstützung für die Occupy-Bewegung sich so schnell ausbreitete und warum die Versuche, sie durch polizeiliche Maßnahmen zu unterdrücken, nach hinten losgegangen sind. Am Samstag, dem 1. Oktober, als Polizisten 700 Demonstranten auf der Brooklyn Bridge gefangen hielten und dann fünf Busse der Metropolitan Transportation Authority (MTA) Busse kaperten, um sie abzutransportieren, gab es dagegen heftige Proteste der Transport Workers Union (TWU) [Gewerkschaft der Transportarbeiter]. John Samuelsen, Präsident der TWU-Verwaltungsstelle 100, erklärte:
“Die TWU-Verwaltungsstelle 100 unterstützt die Demonstranten in der Wall Street und nimmt großen Anstoß daran, dass der Bürgermeister und NYPD [Polizei New Yorks] Fahrern befohlen haben, Bürger abzutransportieren, die ihr Grundrecht auf Protest ausübten – und sowieso nicht hätten verhaftet werden sollen.”
— Zitiert in: Greenwald 2011, [Eig. Übers.]
Es gab auch in anderen Städten beträchtliche Opposition gegen die Angriffe auf die Besetzer – vor allem in Oakland, wo Demonstranten einige Gewerkschaftsunterstützung für ihre Versuche bekamen, einen Generalstreik für Mittwoch, den 2. November (siehe „An Important Step Forward“, www.bolshevik.org) zu organisieren. In New York, stimmte der Central Labor Council [zentraler Gewerkschaftsrat] der Stadt für einen gewerkschaftlichen Massenmarsch am 5. November in Solidarität mit OWS. Die Welle der Unterstützung für OWS zeigt das Potenzial für das explosive Wachstum einer linksgerichteten Stimmung innerhalb der Gewerkschaften und der unterdrückten Gemeinden, obwohl die Occupy-Bewegung noch schaffen muss, die aktive Beteiligung der schwarzen und Latino Massen zu erreichen – traditionell die militantesten Teile des amerikanischen Proletariats, die auch am stärksten von der kapitalistischen Wirtschaftskrise betroffen sind.
Der Kapitalismus kann nicht repariert werden – Kämpft für den Sozialismus!
Es ist notwendig, eine neue klassenkämpferische Gewerkschaftsführung aufzubauen, die sich einem Programm verpflichtet fühlt, das den Kampf, die Auswirkungen der kapitalistischen Angriffe auf die Gewerkschaften in den letzten Jahrzehnten rückgängig zu machen, mit einer Offensive verbindet, um das Leben der arbeitenden Bevölkerung zu verbessern — einschließlich eines Kampfes für volle Staatsbürgerschaft für „undokumentierte“ Migranten. Eine klassenbewusste Führung der Arbeiterbewegung würde nicht davor zurückschrecken, sich offen für die Enteignung der Banken und Konzerne auszusprechen und für die Notwendigkeit, eine Arbeiterregierung zu etablieren.
Der führende Kern der OWS-Aktivisten, denen jegliches kohärente sozialistische Programm fehlt, sind politisch unfähig, auch nur annähernd einer solchen Führung nahezukommen – trotz der Tatsache, dass ihre (notwendigerweise vorübergehenden) Aktionen Massenwiderstand gegen die Verheerungen entfachten, die durch kapitalistische Irrationalität angerichtet wurden. Sie haben jedoch recht, dass die „1%“, die das Gros des gesellschaftlichen Reichtums besitzen und kontrollieren, das Leben vieler Millionen von Amerikanern, und von Hunderten von Millionen anderer Menschen, zerstört haben. Die Einschätzung, dass die anderen „99%“ im wesentlichen gemeinsame Interessen haben, ist eine ziemliche Übertreibung – weil es Millionen von Polizisten, Gefängniswärtnern, Offizieren des Militärs, Managern und anderen einschließen würde, deren materielle Interessen eng mit der herrschenden Elite verbunden sind. Im globalen Maßstab liegt die Schätzung von 99 Prozent wahrscheinlich wesentlich näher an der Wahrheit, aber in allen Fällen hat die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung Interessen, die objektiv denen der „1%“ an der Spitze entgegengestellt sind. Innerhalb dieser Mehrheit ist jedoch der strategische Kern zusammengesetzt aus Arbeitern, die den Verkehr, die Kommunikation, die Fertigung, die landwirtschaftliche Produktion und alles andere bewerkstelligen, von dem eine moderne Wirtschaft abhängt.
Das politische Bewusstsein dieses strategischen Teils der Opfer des Kapitalismus – die Arbeiterklasse – ist entscheidend, denn nur sie hat das materielle Interesse und die Fähigkeit, eine geplante, egalitäre Wirtschaftsordnung zu organisieren und zu betreiben. Dies ist nur erreichbar auf der Grundlage der Enteignung der Bankiers und Bosse und der Unterdrückung all ihrer gewaltsamen Versuche, den Willen der Mehrheit zu vereiteln. Ein solcher revolutionärer Umsturz kann nicht durch den Kongress erreicht werden; eine aufständische Arbeiterbewegung muss ihre eigenen „Kongresse“ schaffen, die in den Betrieben und Arbeitervierteln verwurzelt sind, sowie neue bewaffnete Organe mit der Verpflichtung, den Interessen der unterdrückten Mehrheit zu „dienen“ und sie gegen die „1%“ der kapitalistischen Parasiten und Ausbeuter zu „schützen“.
Die heutige Situation hat viel Ähnlichkeit mit der, die Leo Trotzki vor über 70 Jahren beschrieb:
“Die strategische Aufgabe der nächsten Periode – einer vorrevolutionären Periode der Agitation, Propaganda und Organisation – besteht darin, den Widerspruch zwischen der Reife der objektiven Bedingungen der Revolution und der Unreife des Proletariats und seiner Vorhut (Verwirrung und Enttäuschung der alten Generation, mangelnde Erfahrung der Jungen) zu überwinden. Man muß der Masse im Verlauf ihres täglichen Kampfes helfen, die Brücke zu finden zwischen ihren aktuellen Forderungen und dem sozialistischen Programm der Revolution. Diese Brücke sollte ein System von Übergangsforderungen einschließen, die ausgehen von den heutigen Bedingungen und dem heutigen Bewußtsein breiter Schichten der Arbeiterklasse und unabänderlich zu einer endgültigen Schlußfolgerung führen: der Eroberung der Macht durch das Proletariat.”
— Leon Trotsky: The transitional program : the death agony of capitalism and the tasks of the Fourth International. – London : Bolshevik, 1998, [Eig. Übers.]
Trotzkis Bemerkung über die „mangelnde Erfahrung der Jungen“ weist auf die Bedeutung des Studiums der Lehren aus der Vergangenheit hin, um zu verhindern, dass dieselben alten Fehler erneut gemacht werden. Man kann viel Zeit bei dem Versuch verschwenden, das Rad neu zu erfinden. Die Energie und der Enthusiasmus der Massen, die von der Occupy-Bewegung erzeugt wurde, zeigt, dass viele der besten und intelligentesten Mitglieder einer Generation das kapitalistische Mantra „There Is No Alternative“ [Es gibt keine Alternative] zur Herrschaft der besitzenden Eliten durchschaut haben. Was sie an der Occupy-Bewegung reizt, ist die scheinbare Möglichkeit, an einem Kampf teilzunehmen, der dafür steht, dass ein fundamentaler sozialer Wandel möglich ist.
In „Die deutsche Ideologie“ heißt es:
“Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken.”
— Karl Marx, Friedrich Engels: Die deutsche Ideologie. In: Marx Engels Werke, Band 3. Dietz Verlag, Berlin/DDR 1969. S. 46
Die Dominanz der „1%“ wird nicht nur durch ihre enormen polizeilichen, nachrichtendienstlichen und militärischen Einrichtungen verteidigt, sondern auch durch eine Vielzahl ideologischer Instrumente. Nur eine disziplinierte politische Organisation, die die Loyalität und den Respekt der fortschrittlichsten Schichten der arbeitenden Bevölkerung und der Unterdrückten auf der Grundlage der Verbreitung eines Programms des konsequenten Klassenkampfes gewinnt, kann eine ernsthafte Bedrohung für die kapitalistischen Herrscher darstellen. Eine Bewegung ohne klares Programm, und (zumindest vorgeblich) ohne Führung, wie es die OWS-Bewegung ist, kann dazu beitragen, das allgemeine Niveau des politischen Bewusstseins anzuheben und Opposition gegen einige der ungeheuerlichsten Verbrechen des Kapitalismus anzufeuern, aber sie kann letztlich nur die Tyrannei der „1%“ modifizieren, nicht beenden.
Eine revolutionäre Arbeiterpartei würde ein Programm vorstellen, dass die wachsende Ungleichheit in der amerikanischen Gesellschaft anspricht und fordern würde, dass die Löhne erhöht werden und dass die Arbeitslosigkeit beendet wird, durch massive Investitionen in die öffentliche Infrastruktur und die Verkürzung der Wochenarbeitszeit von 40 auf 30 Stunden ohne Lohnausgleich. Es würde auch erschwingliche Wohnungen, kostenlose, qualitativ gute Kindertagesstätten und Gesundheitsvorsorge, die Abschaffung der Studiengebühren und der Verschuldung der Studierenden fordern. Eine klassenkämpferische Arbeiterführung würde alle Erscheinungsformen von Diskriminierung wegen Hautfarbe, ethnischer Zugehörigkeit, Geschlecht und sexueller Orientierung bekämpfen. Sie wäre auch bedingungslos gegen alle ausländischen militärischen Abenteuer und Allianzen (einschließlich der Unterstützung für Apartheid-Israel) und gegen jede Finanzierung der kapitalistischen Polizei und der Streitkräfte.
Die Probleme, die die Besatzer anzusprechen versuchen, gehören zum Charakter des Kapitalismus. Sie können nicht durch den Austausch der bösen rechtsgerichteten Banker durch freundliche gemeinschaftsorientierte geändert werden und auch nicht durch die Zerstückelung großer Oligopole in kleinere Unternehmen. Die Kapitalisten handeln so in Übereinstimmung mit dem Diktat der Profitmaximierung, nicht weil sie besonders böse oder irrationale Individuen sind. Falls der Kern der aktiven Teilnehmer in der Occupy-Bewegung vorrückt und sich an der Schaffung einer lebensfähigen, großen militanten Linken in Nordamerika beteiligt, statt als Lockvogel für die Demokraten zu enden oder einfach aus dem politischen Leben zu verschwinden, muss er anfangen zu begreifen: „Der Kapitalismus kann nicht repariert werden“. Und dass der einzige Ausweg aus dem kapitalistischen Irrenhaus der Weg des revolutionären Sozialismus ist, wie ihn Marx, Lenin und Trotzki aufgezeigt haben.