Roma und Sinti — EU sucht Sündenböcke

Im August begann die französische Polizei mit Razzien und Auflösungen der Wohnstätten von Roma und Sinti. Zuvor hatte die Regierung eine Propaganda-Kampagne gegen die in Frankreich lebenden Roma gestartet. Hunderte wurden nach Rumänien und Bulgarien abgeschoben, während der französische Staatspräsident Nicolas Sarkozy zynisch gegen diese Minderheit mobilisierte.

Die Roma und Sinti, auch abwertend als „Zigeuner“ bezeichnet, bilden die größte, aber zugleich auch weit verstreut in Europa lebende Minderheit. Ungefähr zwei Drittel der zehn Millionen Roma leben in Zentral- und Osteuropa, die Mehrzahl von ihnen in krasser Armut. Weniger als die Hälfte der Roma sind seit vielen Generationen nicht sesshaft. Auf ihren Reisen finden sie oft keine oder nur unzureichend ausgestattete Stellplätze vor. In der Vergangenheit haben sie oft als gesellschaftliche Randgruppe in vielen Ländern, in denen sie sich aufhielten, Ausgrenzung und Ablehnung erlitten und waren wiederholt staatlicher Verfolgung ausgesetzt. Nach Angaben des US-amerikanischen Holocaust Memorial Museums sind von den durch die Nazis als „minderwertige Rasse“ eingestuften Roma, 220.000 durch Völkermord ums Leben gekommen. Seit dem Zusammenbruch der stalinistischen Regime in Osteuropa haben viele von ihnen aufgrund der desolaten wirtschaftlichen Situation vor allem Rumänien verlassen. Der Hochschullehrer und berühmte Roma-Musiker Santino Spinelli kommentierte die Folgen der politischen Veränderungen für die Roma wie folgt:

“Unter dem Ceausescu-Regime hatten die Roma Häuser und gleiche Rechte. Aber der Systemwechsel hat den arbeitenden Klassen die Privilegien entzogen, und die Roma standen in erster Reihe. Sie waren die ersten, die ihre Arbeit und Häuser verloren und gezwungen waren auszuwandern.”
Le Monde diplomatique, 12. September 2008 (Eig. Übers.)

Sie sind in andere Teile Europas gezogen, z.B. nach Frankreich, Italien, Spanien, Belgien, Irland oder Großbritannien. In der Hoffnung, den feindseligen Behörden in Rumänien zu entkommen, treffen sie jedoch all zu oft auf ähnliche Probleme an ihren neuen Aufenthaltsorten.

Die Regierung zieht in den Krieg

Im Juli wurde ein junger Roma in der französischen Region Saint-Aignan von der Polizei getötet. Erzürnt über den Mord an einem ihrer Landsleute, griffen ca. 50 Roma zu Knüppeln oder Eisenstangen und stürmten die örtliche Polizeiwache. Mehrere Autos wurden in Brand gesetzt, und der Versammlungssaal eines benachbarten Dorfes ging in Flammen auf. Diese Vorkommnisse dienten der Regierung als Rechtfertigung für die Maßnahmen, die sie danach ergriff. Im letzten Kabinettstreffen vor der Sommerpause fiel der Startschuss für die Anti-Roma-Kampagne. Die Räumung sogenannter „illegaler Lager“ und die „Rückführung von Ausländern ohne Papiere“ wurden angeordnet. Was die Regierung als „illegale Lager“ bezeichnete, waren tatsächlich jedoch die Wohnorte der Roma. Sarkozy erklärte Verbrechen und Gewalt den „Krieg“ und ließ keinen Zweifel daran, dass er die Lager der Roma als Zentren von Verbrechen, Prostitution, Menschenhandel und Kinderausbeutung betrachtete (vgl. BBC News, 26. August 2010).

Abschiebungen von Roma aus Frankreich sind jedoch nichts Neues. Frankreich hat allein im Jahre 2009 ca. 10.000 Roma abgeschoben. Die Regierung rechtfertigte die Abschiebungen seit August mit dem Verweis darauf, dass es sich um Roma handelte, die seit mehr als drei Monaten ohne Arbeit in Frankreich gewesen seien. Bemerkenswerterweise bedeuten die Abschiebungen aus Frankreich, dass ein Mitgliedsstaat der EU Bürger anderer EU-Staaten, Rumänien oder Bulgarien, des Landes verweist. Die französischen Behörden stellten diese Zwangsmaßnahmen als freiwillig dar und boten „Rückkehrgelder“ von 300 Euro für Erwachsene und 100 Euro für Kinder. Die Verlogenheit dieser Propaganda wurde dadurch entlarvt, dass Roma-Familien, die aus einem Lager geräumt worden waren, dagegen protestierten und Unterkunft verlangten — niemand von ihnen verlangte jedoch abgeschoben zu werden!

Die Maßnahmen der Regierung sind von zahlreichen Personen und Organisationen aufs Schärfste kritisiert worden. Menschenrechtsorganisationen haben ebenso wie die EU-Kommission lediglich ihre Besorgnis zum Ausdruck gebracht. Rumänien hat offen die Legalität der Abschiebungen nach europäischem Recht bezweifelt. Selbst der Vatikan, anscheinend besorgt um die mehrheitlich katholischen Roma, verfasste ein Protestschreiben. Die Spannungen zeigten sich sogar in der Regierung Frankreichs. Außenminister Bernard Kouchner trat an die Öffentlichkeit und bekannte, dass er aufgrund seiner Zweifel an den Abschiebungen über einen Rücktritt nachgedacht hätte. Kouchner, Gründungsmitglied von Médecins Sans Frontières (Ärzte ohne Grenzen), kam offenbar zu dem Schluss, dass seine moralischen Skrupel nicht ausreichten, um seine Karriere aufs Spiel zu setzen und blieb im Amt. Hervé Morin, Verteidigungsminister, reihte sich ebenfalls in die Riege der Opponenten gegen die Hasstiraden der Regierung ein (vgl. Spiegel Online, 30. August 2010).

Die rassistische Kampagne gegen die Roma folgte Sarkozys politischen Zielen. Die Regierung bereitete sich zu jener Zeit auf den „heißen Herbst“ vor, in dem kurz darauf proletarische Massenstreiks und Proteste stattfanden, um sich gegen den sinkenden Lebensstandard und die Angriffe auf die Renten zu erwehren. Sarkozy auf der anderen Seite war darum bemüht, sein Image als Führer und Schutzpatron des französischen Volkes aufzupolieren, wovon er sich Chancen für eine Wiederwahl erhofft. Es wird vermutet, dass viele der deportierten Roma nach Frankreich zurückkehren oder in andere westliche Länder ziehen werden. Um die Roma daran zu hindern, nach Frankreich zurückzukommen, ordnete die Regierung die Erfassung der biometrischen Daten der abgeschobenen Roma durch die Polizei an. Ein krasser Beleg dafür, dass die bürgerlichen Freiheiten, Errungenschaften der Französischen Revolution, für die Bourgeoisie zu Versatzstücken ihrer nationalistischen Propaganda verkommen sind.

Unter Sarkozys Bluthunden taten sich Brice Hortefeux, Innenminister, und Christian Estrosi, Industrieminister und Bürgermeister von Nizza hervor. Hortefeux prahlte mit seinem „Erfolg“, 40 Lager in nur zwei Wochen geräumt zu haben, was zur Ausweisung von 700 Leuten führte. Estrosi schlug vor, lokale Behörden, die ihren „Sicherheitsauflagen“ ungenügend nachkommen, mit Geldstrafen zu belegen, und so unter Kontrolle zu bringen. Um jegliche Missverständnisse zu vermeiden, machte er deutlich, dass er die „sozialistischen“ Gemeinden meinte, die in der Verbrechensbekämpfung versagten (Spiegel Online, 18. August 2010). Auf der einen Seite stimmt die Parti Socialiste in den Chor der Sarkozy-Kritiker ein, um daraus politisches Kapital zu schlagen, auf der anderen Seite heizt ihr Präsidentschaftskandidat Dominique de Villepin das hysterische Klima durch zur Schau getragene Sorgen um die „Sicherheit des französischen Volkes“, selbst mit an (BBC News, 26. August 2010). Sowohl die rassistische Propaganda als auch die gewalttätigen Polizeirazzien werden vor allem der Front National nutzen. Sie hat bereits verkündet, dass Sarkozy ihre Meinung über die Roma bestätigt habe.

Überall unerwünscht

Die Diskriminierung[1][2] der Roma und Sinti ist nicht auf Frankreich begrenzt. Die brutalen Aktionen der französischen Regierung folgten dem Beispiel ihrer italienischen Kollegen, die 2008 Polizeirazzien gegen in Rom lebende Roma durchführen ließen, in deren Folge eine Anzahl von ihnen abgeschoben, Fingerabdrücke von den Verbleibenden genommen und Besucher gezwungen wurden, sich auszuweisen. In Neapel benutzte die Polizei Molotow-Cocktails beim Angriff auf ein Romalager.

In Deutschland befinden sich viele Roma aus dem Kosovo, die während des Jugoslawien-Krieges geflüchtet waren. Im April 2010 wurde zwischen Deutschland und dem Kosovo vertraglich vereinbart, dass 14.000 Flüchtlinge, davon 10.000 Roma, in den Kosovo zurückgeschickt würden. Die Abschiebungen haben bereits begonnen. Vereinzelt kommt es zu Protesten, in denen sich Leute mit den Roma solidarisieren und gegen die Abschiebungen am Flughafen demonstrieren. Die Macht des Staates, repräsentiert durch die Polizei, sorgt jedoch dafür, dass diese Proteste die Abschiebungen nicht stoppen können. Die Roma treffen im Kosovo oft auf eine feindselige Stimmung. Die systematische Diskriminierung bedeutet, dass es für sie praktisch unmöglich ist, Arbeit zu finden. Besonders hart betroffen sind die Kinder, die oft kein albanisch sprechen, und dadurch vom örtlichen Bildungssystem wenig Nutzen ziehen.[3] Aufgrund der katastrophalen Lage im Kosovo hat auch die Kinderhilfsorganisation UNICEF an die deutsche Regierung appelliert, die Abschiebungen einzustellen. Dies ist für Merkels Regierung zwar peinlich, aber offensichtlich kein Grund, inne zu halten. Merkel will zwar negative Schlagzeilen wie in Frankreich vermeiden, ohne jedoch ihre brutale Abschiebepolitik einzustellen.

Die Situation der Roma in Deutschland ist schon seit langem prekär. Zehntausende von Roma, die von Jugoslawien nach Deutschland kamen, um dem Krieg zu entgehen, haben hier lediglich einen Duldungsstatus, was bedeutet, dass sie von vielen sozialen Leistungen, wie z.B. Sprachkursen, ausgeschlossen sind. Niemand von ihnen ist krankenversichert und Anspruch auf Kindergeld haben sie nicht. Aufgrund des zeitlich begrenzten Duldungsstatus sind sie fast permanent von der Abschiebung bedroht.

Die Ausgrenzung der Roma, geprägt von staatlich gefördertem und exekutiertem Rassismus, hat eine lange Geschichte in Deutschland. Dies endete keineswegs mit dem Sturz des Nazi-Regimes. In Bayern wurde 1948 die sogenannte „Landfahrerverordnung“ erlassen, die auf dem alten „Gesetz zur Bekämpfung von Zigeunern und Arbeitsscheuen“ der Weimarer Republik basierte. Im Grundsatzurteil des Bundesgerichtshofs von 1956 heißt es:

“Da sich die Zigeuner in weitem Maße einer Seßhaftmachung und damit der Anpassung an die seßhafte Bevölkerung widersetzt haben, gelten sie als asozial. Sie neigen, wie die Erfahrung zeigt, zur Kriminalität, besonders zu Diebstählen und Betrügereien. Es fehlen Ihnen vielfach die sittlichen Antriebe der Achtung vor fremdem Eigentum, weil Ihnen wie primitiven Urmenschen ein ungehemmter Okkupationstrieb eigen ist. Sie wurden deshalb allgemein von der Bevölkerung als Landplage empfunden. Das hat die Staatsgewalt, wie schon erwähnt, veranlaßt, gegen sie vorbeugende Sondermaßnahmen zu ergreifen und sie auch in ihrer Freiheit besonderen Beschränkungen zu unterwerfen.”
— BGH IV ZR 211/55 (Aus der Begründung)

Die Legitimierung faschistischer Verbrechen durch ein Gericht der Bundesrepublik war nicht nur ein Beispiel für die Art von Rechtsprechung „im freien Teil Deutschlands“, sondern auch ein Indiz für die Festigkeit der institutionalisierten Vorurteile. Bis heute sind die Roma und Sinti verschärften Überwachungen und Kontrollen durch die Polizei ausgesetzt, und ihre soziale Integration wird systematisch verhindert.

Solidarität

Die Roma brauchen die Solidarität der Arbeiterklasse. Die Reaktion der wesentlichen französischen Gewerkschaftsföderationen ist jedoch sehr uneinheitlich gewesen. In einer Erklärung der Confédération générale du travail (CGT) werden die Regierungsmaßnahmen als „unfair und sie lösen langfristig nichts“ beschrieben. Es drängt sich die Frage auf, ob die CGT glaubt, dass die Maßnahmen kurzfristig etwas gelöst haben. Die Confédération Française Démocratique du Travail (CFDT) ging sogar einen Schritt weiter als ihre Genossen in der CGT. Die „Erklärung des Nationalsekretärs Jean-Louis Malys“ vom 29. Juli beginnt mit einer Verdammung der Deportationen, beschreibt aber dann die Roma als „Sündenböcke einer noch immer ineffizienten Politik für innere Sicherheit“. Tatsächlich ist dies ein Angriff auf Sarkozy von rechts, da suggeriert wird, die Politiker täten nicht genug, um französische Bürger zu beschützen.

Die CFDT und CGT haben zusammen mit dem Bildungsbereich von Solidaires Unitaires Démocratiques (SUD), Menschenrechtsgruppen und den Grünen eine Protest-Petition unterzeichnet. Sie trägt den Titel „Face à la xénophobie et à la politique du pilori : liberté, égalité, fraternité“.[4] Die Nouveau Parti anticapitaliste (NPA), die Parti communiste français (PCF), die Parti de Gauche, und die PS unterzeichneten ebenfalls. Der Wortlaut ist eine Mischung aus bürgerlich-demokratischen Plattitüden und verkapptem Nationalismus, der Sorgen um „die Sicherheit der Republik“ zum Ausdruck bringt, sich für eine friedliche Gesellschaft stark macht und daran erinnert „den notwendigen Respekt für die öffentliche Ordnung“ zu zeigen. Diese Politik ist kein Ausdruck internationaler Arbeitersolidarität, sondern ein Beispiel für vorgeblich antikapitalistische Organisationen, die wie die NPA bereit sind, die bürgerlich-kapitalistische Ordnung unter der Trikolore zu verteidigen.

Die Petition rief zu einer Protestkundgebung am 4. September auf, die Zehntausende von Teilnehmern anzog. Revolutionäre müssen sich gegen die Welle des Rassismus und Nationalismus stellen, die Frankreich überzogen hat. Es ist notwendig, die Arbeiterklasse für die Verteidigung der Roma zu mobilisieren. Dafür wird es notwendig und unvermeidbar sein, einen politischen Kampf gegen die reformistische Führung der Gewerkschaften und ihre politischen Partner von der PS, PCF und NPA zu führen.


1) Vgl. Brigitte Mihok: Zur Lage von Kindern aus Roma-Familien in Deutschland / Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin im Auftrag von unicef — 2007 : Berlin

2) Repräsentativumfrage des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma über den Rassismus gegen Sinti und Roma in Deutschland — 2006

3) Vgl. Verena Knaus, Peter Widmann e.a.: „Integration unter Vorbehalt“ — Zur Situation von Kindern kosovarischer Roma, Ashkali und Ägypter in Deutschland und nach ihrer Rückführung in den Kosovo. Deutsches Komitee für UNICEF, Köln 2010

4) Konfrontiert Fremdenfeindlichkeit und Prangerpolitik: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit (Eig. Übers.) – http://nonalapolitiquedupilori.org/