In Verteidigung (von Seymours) Marxismus

Aufdeckung des „theoretischen Rahmens“ der neo-pabloistischen Wende der IKL

Die abrupte Preisgabe des seit längerem bestehenden Herangehens an die nationale Frage durch die Siebte Internationale Konferenz der Internationalen Kommunistischen Liga (IKL – früher die internationale Spartacist-Tendenz [iSt]) hat große (viele noch nicht ausgearbeitete) programmatische Konsequenzen. Es ist schwer, die politische Bedeutung der dramatischen Wendung für die IKL über zu bewerten, welches das Hauptdokument der Konferenz „Der Kampf gegen die chauvinistische Hydra“ darstellt, das die vorherige Weigerung der iSt/ICL, vor dem „Dritten Welt“-Nationalismus zu kapitulieren, zurückweist – was die Gruppe seit Jahrzehnten von ihren pseudo-revolutionären Konkurrenten unterschied. Die frühere Politik wird jetzt einfach als „Chauvinismus“ abgetan.

Ein wesentlicher Teil des Dokuments mit dem Titel „Theoretischer Rahmen des Chauvinismus“ widmet sich dieser dramatischen Veränderung der Linie, indem er eine Reihe von Kritikpunkten an den marxistischen Grundlagen der revolutionären Politik des iSt aufwirft. Aber eine ernsthafte Untersuchung dieser Kritik zeigt, dass es sich um nichts anderes als einen politisch bankrotten Versuch handelt, einer revisionistischen Veränderung Sinn zu verleihen.

Das „Hydra“ Dokument beginnt mit der Lossagung von zwei Schlüsselartikeln zu der nationalen Frage, die in den siebziger Jahren im Workers Vanguard (WV) erschienen sind, um die „theoretische Rechtfertigung unseres chauvinistischen Programms in der nationalen Frage“ zu präsentieren. „Die nationale Frage in der marxistischen Bewegung 1848-1914“(1976), ein Nachdruck eines Vortrags des führenden Intellektuellen der iSt, Joseph Seymour, lieferte einen synthetischen Überblick über die Entwicklung der marxistischen Position in der nationalen Frage, die in einem Begleitartikel mit dem Titel „Lenin vs. Luxemburg zur nationalen Frage“ (1977) weiterentwickelt wurde. Seymour stellte seinen Vortrag als „einen Beitrag zum Verständnis der theoretischen Untermauerung unserer gegenwärtigen Positionen“ über vermischte Völkerschaften und andere Aspekte der nationalen Frage im Nahen Osten vor, die er als „den offensichtlichsten und schärfsten Unterschied, wenn wir das erste Mal auf [links-zentristische] Tendenzen stoßen, die uns nahe zu sein scheinen“ bezeichnete.

Seymour unterschied zwischen dem konjunkturellen Charakter der marxistischen Position in einer bestimmten nationalen Frage zu einem bestimmten Zeitpunkt und dem unveränderlichen Kern des revolutionären Programms für die Befreiung der Frauen:

“Insofern kann man, glaube ich, einen Unterschied zur marxistischen Position in der Frauenfrage feststellen. Die Position für die Abschaffung der Familie und für die Gleichstellung der Frau ist für eine kommunistische Gesellschaftsordnung grundlegend und deshalb nicht wechselnden politischen Umständen untergeordnet.
Die marxistische Position zur nationalen Frage hat demgegenüber historisch einen viel konjunkturelleren Charakter und wird viel mehr durch wechselnde empirische Umstände bestimmt. So ist es nicht nur legitim, sondern sehr oft unerlässlich, eine spezifische Position zu einer spezifischen nationalen Frage sehr kurzfristig zu ändern. Heute sind wir z. B. gegen die Unabhängigkeit Quebecs, während wir natürlich dessen Recht auf Selbstbestimmung anerkennen. Doch werden wir womöglich in ein paar Jahren, falls sich die nationale Polarisierung in Kanada verschärft und sich die Werktätigen Quebecs eindeutig für die Lostrennung entscheiden, unsere Position revidieren und für Unabhängigkeit eintreten. Solche Entscheidungen sind konjunkturell und strategisch bestimmt.”

Diese überaus sensible Aussage wird jetzt von der IKL als Unterstützung des „Joch der englischsprachigen Unterdrückung“ charakterisiert:

“Tatsächlich stellt der Artikel in WV Nr. 123 und Nr. 125 eine Polemik gegen die Befreiung Québecs vom Joch der englischsprachigen Unterdrückung dar. Diese Perspektive fand auch ihren Widerhall in unserem Herangehen an andere nationale Fragen (man beachte die Gleichsetzung im Artikel zwischen den unterdrückten und den unterdrückenden Völkern im Libanon). Der theoretische Rahmen, der in diesen Artikeln ausgearbeitet wurde, ist sehr weit entfernt von den Erfahrungen der Russischen Revolution, die im wirklichen Leben aufzeigte, dass die nationale Frage eine treibende Kraft für revolutionären Kampf sein kann.”
—„Der Kampf gegen die chauvinistische Hydra“, Spartacist Nr. 31, Herbst 2017 (Hervorhebung im Original)

Neo-Pabloismus in Beirut & Entebbe

„Der Kampf gegen die chauvinistische Hydra“, der sich auf Quebec konzentriert, stellt fest, dass ein „anti-leninistischer“ Rahmen auch in „unserem Umgang mit anderen nationalen Fragen“, insbesondere dem interkommunalen Konflikt im Libanon Mitte der 1970er Jahre, deutlich wurde. Die kürzliche Proklamation der IKL, ihre Weigerung, im libanesischen Bürgerkrieg Partei zu ergreifen, sei gleichbedeutend mit der Gleichsetzung von „den unterdrückten und unterdrückenden Völkern“, ist höchst bemerkenswert, aber völlig unerschlossen. Es ist nun klar, dass die Position der IKL im Nachhinein der von Ernest Mandels Vereinigten Sekretariat der Vierten Internationale (VS) und den meisten anderen angeblich trotzkistischen und maoistischen Formationen zu jener Zeit angepasst wurde.

Im Januar 1977, auf dem Höhepunkt des libanesischen Blutvergießens, intervenierte die stalinophobe League for the Revolutionary Party (LRP) auf einem Forum der Spartacist League (SL) an der Columbia Universität in New York:

“LRP-Sprecher beschuldigten die SL, sich der revolutionären Verpflichtung zu entziehen, militärisch-taktische Unterstützung im antiimperialistischen Kampf in Angola und im palästinensischen Kampf im Libanon zu leisten, als diese von dem von den USA unterstützten rechten Flügel und der syrischen Armee angegriffen wurden. Die SL antwortete, dass der Libanon ein „Stammespuzzle“ sei, dessen Stücke anscheinend keine Beziehung zum Weltimperialismus haben.”
Socialist Voice, Nr. 3, Frühling 1977 [Eigene Übers.]

Nach 40 Jahren scheint sich jetzt die IKL mit dem Kern der Kritik der LRP, zumindest zum Libanon, einverstanden zu geben. Aber bei all der Selbstgeißelung über die jahrzehntelange Kapitulation vor der vielköpfigen „Hydra“ des imperialen Chauvinismus waren die Spartakisten bisher vorsichtig damit, viele der programmatischen Implikationen auszusprechen. Die LRP von 1977 hatte sicherlich keine Schwierigkeiten, ihre Kritik an der „chauvinistischen“ Haltung der SL gegenüber der nationalen Frage in neokolonialen Ländern zu verallgemeinern:

“Die Einzigartigkeit der Spartacist League, die viele Linke fälschlicherweise als „Sektierertum“ ansehen, besteht darin, dass sie nicht vor dem Nationalismus der unterdrückten Nationen kapituliert – weil sie direkt die Haltung der privilegierten Schichten der amerikanischen Arbeiterklasse widerspiegelt.“
—Ebenda

Die stalinophile Communist Cadre [CTC] Splittergruppe, die ebenfalls auf dem Forum von Januar 1977 intervenierte, kritisierte parallel dazu die „antileninistische“ Politik der SL, was zumindest in einigen Punkten dem „Hydra“-Dokument von 2017 unheimlich ähnlich ist:

“Communist Cadre hat wiederholt betont, dass die SL in ihrer Haltung gegenüber den Kämpfen der Unterdrückten und der kolonialen Völker und Nationen eine im Wesentlichen antileninistische Linie einnimmt. Während Leninisten und Trotzkisten immer auf der Notwendigkeit der bedingungslosen militärischen Verteidigung der Kämpfe der Unterdrückten gegen ihre Unterdrücker bestanden haben, hat die SL versucht, dieser kommunistischen Notwendigkeit zugunsten einer bequemen Neutralität zu entgehen.”
—„What the Spartacist League Really Stands For“, [“Wofür die Spartacist League wirklich steht“ – Eigene Übers.]

Der CTC betrachtete die zweifache defätistische Position der SL im Libanon als eine Weigerung, sich „den Kämpfen der Unterdrückten gegen ihre Unterdrücker anzuschließen“:

“Während des Bürgerkrieges im Libanon, wo die libanesische Linke und der palästinensische Widerstand einen Kampf auf Leben und Tod mit der reaktionären Allianz der Phalangisten, Nationalliberalen und Muslimbrüder führten, nahm die SL eine offene Neutralitätsposition ein. Die SL erfand die reaktionäre, antimarxistische Formel der „interkommunalen Kriegsführung“, um auf beiden Seiten in diesem „schmutzigen Bürgerkrieg“, wie die SL es nannte, zum Defätismus aufzurufen. Und während die SL auf allen Seiten für Defätismus plädierte, trat sie auch für das Recht aller Gemeinschaften auf Selbstverteidigung ein – einschließlich derjenigen, die politisch und militärisch von und unter der Führung der Phalange organisiert wurden, die selbst die SL als „Nazi-ähnlich“ bezeichnet.”
—Ebenda

Die LRP und der CTC identifizierten die Herangehensweise der SL für den libanesischen Konflikt korrekt als aus ihrer Haltung gegenüber Konflikten mit „vermischten Völkerschaften“ (d.h. zwei oder mehr Völker, die in einem gemeinsamen Territorium verstreut sind) an Orten wie Zypern, Palästina/Israel und dem Norden von Irland stammend:

“Diese Haltung [zum libanesischen Bürgerkrieg] ist vergleichbar mit Nordirland, wo die SL die Bildung einer Gewerkschaftsmiliz aus Katholiken und Protestanten befürwortet, um beide Gemeinschaften – Iren und protestantische Siedler – gegen „sektiererische Gewalt“ zu verteidigen. Das hört sich sehr vernünftig und ausgewogen an, es schlägt sich in der politischen Praxis aber so nieder: Die SL befürwortet die Verteidigung rechtsextremer militanter Orange Siedler und Hochburgen gegen den Terror der Provisorischen IRA (die die SL als „rechtsnationalistisch“ bezeichnet) und anderer irischer Befreiungsorganisationen. In Israel verteidigt die SL das Recht der hebräisch sprechenden Menschen, d.h. der zionistischen Siedler, auf Selbstbestimmung.”
—Ebenda

Der CTC kritisierte auch die Neutralität des SL, als einige Monate zuvor israelische Spezialeinheiten in Uganda intervenierten, um Geiseln zu befreien, die von palästinensischen Guerillas festgehalten wurden (siehe „“The Lessons of Entebbe,“ Workers Vanguard, 16. Juli 1976 [„Die Lehren von Entebbe“]).

“Die SL weigert sich nicht nur die Milizen der PFLP (Volksfront zur Befreiung Palästinas) gegen die israelischen Kommandos zu verteidigen, die SL weigert sich auch, die Israelis wegen ihrer Invasion in Uganda zu verurteilen, was trotz Idi Amin eine unterdrückte Nation ist. Die SL sagt, die Linke dürfe nicht in den „heuchlerischen Chor“ hineingezogen werden, der Israel für seine Aggression gegen Uganda und für die Verletzung von Ugandas Souveränität und Territorium verurteilte. Die SL erklärt uns: „Anders als das Selbstbestimmungsrecht der Nationen ist „nationale Souveränität“ keine bürgerlich-demokratische Forderung, die Marxisten unterstützen. Außerdem wurde Ugandas „nationale Souveränität“ durch Idi Amins Komplizenschaft mit den Entführern untergeordnet.”
—Ebenda

Wir betrachten die Position der SL als im Wesentlichen korrekt und im Einklang mit der Position zum Libanon zu dieser Zeit. Aber was denkt die IKL? Sieht sie jetzt ihre Haltung von 1976 als eine weitere Manifestation der „Hydra“ der imperialen Arroganz und des Chauvinismus?

Von besonderem Interesse bei dem Angriff auf dem Flughafen Entebbe war, dass, als die Nachricht von dem Ereignis kam, Joseph Seymours Impuls war, sich auf die Seite der Ugander gegen die israelischen Kommandos zu stellen. Robertson stimmte dem nicht zu, und eine Tonbandaufzeichnung einer Diskussion zwischen den beiden wurde an die verschiedenen Ortsgruppen der iSt verteilt, um sie der Mitgliedschaft vorzuspielen. Die Spartakist-Tendenz, was auch immer ihre anderen Schwächen sind, hat immer eine ernste Einstellung hinsichtlich der Archivierung der eigenen Geschichte gezeigt, weshalb es wahrscheinlich ist, dass die aufgezeichnete Konversation irgendwo noch verfügbar ist. Vielleicht möchten die neuen IKL-Führer sie angesichts ihrer neuen Wendung hören.

Wir gehen davon aus, dass die IKL-Führung irgendwann die „anderen nationalen Fragen“ auflisten wird, die sie plant einer Positionsänderung zu unterziehen – obwohl wir nicht erwarten, da das Prestige von James Robertson, ihrem Gründer/Führer, keine Delle bekommen soll, dass die patriotische Kapitulation von 1983 über die Bombardierung von Marinekasernen im Libanon auf der Liste sein wird.[1]

Wir betrachten die Position der SL zu den „vermischten Völkerschaften“ als einen ihrer wichtigsten Originalbeiträge zur leninistischen-trotzkistischen Tradition. Robertson, der eine zentrale Rolle bei der Entwicklung dieses Ansatzes spielte, wie er es bei praktisch jedem wichtigen programmatischen Thema (einschließlich Quebec) getan hat, verdient viel Anerkennung dafür. Der theoretische Rahmen des iSt in der nationalen Frage erlaubte es ihr, revolutionäre Positionen zu einer Reihe von wichtigen Konflikten, im Gegensatz zu den pseudo-marxistischen Konkurrenten jener Zeit, zu entwickeln.

Das VS, die LRP, die CTC und alle anderen, die der Weigerung der Spartakisten, im libanesischen Bürgerkrieg Partei zu ergreifen, nicht zustimmten, waren gleichermaßen empört über die Position des doppelten Defätismus in den arabisch-israelischen Konflikten von 1948, 1967 und 1973 und der Analyse des Israel/Palästina-Konflikts als ein weiteres Beispiel vermischter Völkerschaften. Angesichts der kürzlichen Aufwertung dessen, was wir in dieser Frage als Neopabloismus bezeichnen, werden diese für die IKL auch zur Revision stehen?

Haben Marxisten ein positives nationales Programm?

Die IKL ist empört darüber, dass Seymour in „Die nationale Frage in der marxistischen Bewegung 1848-1914“, „die groteske Behauptung aufgestellt hat, dass es für die nationale Frage kein marxistisches Programm als solche gebe“. Er behauptete: „Die marxistische Position hatte immer einen vorwiegend strategischen Charakter, darauf abzielend, die Bedingungen für eine erfolgreiche proletarische Revolution zu schaffen“, und schloss daraus, dass die Haltung von Revolutionären in jedem gegebenen Fall „viel mehr durch wechselnde empirische Umstände bestimmt wird.“

Dies steht im Einklang mit Lenins Ansatz in der nationalen Frage, bei dem es im Vordergrund stand nationale Spannungen zu mäßigen, um die Klassenfrage in den Vordergrund zu stellen. Lenin stellte den „negativen“ Ansatz der Marxisten – der sich auf die Beseitigung der Barrieren der proletarischen Einheit konzentrierte – mit den positiven Programmen der bürgerlichen Nationalisten in einem Text gegenüber, in dem er sich speziell mit „Programmschwankungen von Marxisten und Auch-Marxisten“ beschäftigte:

“Mag die Bourgeoisie das Volk mit allen möglichen „positiven“ nationalen Programmen betrügen. Der klassenbewußte Arbeiter wird ihr entgegnen: Es gibt nur eine einzige Lösung der nationalen Frage (soweit ihre Lösung in der Welt des Kapitalismus, in der Welt der Profitmacherei, der Zwietracht und der Ausbeutung überhaupt möglich ist), und diese Lösung lautet: konsequenter Demokratismus.”
—„Kritische Bemerkungen zur nationalen Frage“, Oktober-Dezember 1913

Lenin hat klar ausgedrückt, was er mit dem „konsequentesten Demokratismus“ meinte:

“Das nationale Programm der Arbeiterdemokratie: absolut keine Privilegien für irgendeine Nation, für irgendeine Sprache; Lösung der Frage der politischen Selbstbestimmung der Nationen, d. h. ihrer staatlichen Lostrennung, auf völlig freiem, demokratischem Wege;…”
—Ebenda

Seymours Behauptung, „es gibt kein marxistisches Programm für die nationale Frage als solche“ hätte vielleicht besser als „kein positives marxistisches Programm“ formuliert werden können. Lenins Programm in der nationalen Frage war ein negatives, das Opposition zu Privilegien oder Vorteilen für irgendeine Nation, mit einem Beharren auf strikter Gleichheit für alle verband:

“Daher die unbedingte Pflicht des Marxisten, auf allen Teilgebieten der nationalen Frage den entschiedensten und konsequentesten Demokratismus zu verfechten. Das ist in der Hauptsache eine negative Aufgabe. Weiter aber darf das Proletariat in der Unterstützung des Nationalismus nicht gehen, denn dann beginnt die „positive“ (bejahende) Tätigkeit der nach Stärkung des Nationalismus strebenden Bourgeoisie.
Kampf gegen jede nationale Unterdrückung – unbedingt ja. Kampf für jede nationale Entwicklung, für die „nationale Kultur“ schlechthin – unbedingt nein.”
—Ebenda [Hervorhebungen im Original]

Robertsons Herumstümpern in der kitschigen ‘Braveheart’ Mythologie

Nationalisten mit „positiven“ nationalen Programmen fördern unweigerlich ihre eigene Nation auf Kosten anderer. Während einer Debatte 1999 mit der kanadischen Gruppe der IKL wiesen wir auf einen bizarren Artikel in der Märzausgabe von 1996 des Spartacist Canada hin, das den schottischen Nationalismus begrüßte.[2] Wir schrieben dies dem ungesunden Wunsch zu, sich Robertson, der sich selbst als Nachkomme von Robert the Bruce, einem schottischen König aus dem 14. Jahrhundert, wähnte, anbiedern zu wollen. Die Internationalist Group (gegründet von Spartakist Kadern, die die IKL im Jahr 1996 verließen) charakterisierte den IKL-Flirt mit dem schottischen Nationalismus treffend als „kitschige ‘Braveheart‘-Mythologie, die von linken und rechten Nationalisten geteilt wird.“

Robertsons schottischer Nationalismus muss mit Vorsicht genossen werden, aber er hat im Laufe der Jahre einige eigenartige Positionen hervorgebracht, von denen einige in der Herbst 2006-Ausgabe von Workers Hammer, herausgegeben von der Spartacist League / Britain, wiederholt wurden:

“Das schottische Proletariat hat sich historisch offen mit der Sowjetunion und dem Kommunismus identifiziert. Während des Kalten Krieges in den 1980er Jahren haben wir an solche Gefühle appelliert, indem wir bewegende Slogans wie „Verwandelt Holy Loch in einen sowjetischen U-Boot-Hafen!“ und „Für eine schottische Arbeiterrepublik als Teil der UdSSR!“” [Eigene Übersetzung]

Vielleicht ist die Weigerung der IKL, im Referendum von 2014 über die Unabhängigkeit von Großbritannien Partei zu ergreifen, eine weitere Frage, die angesichts der gegenwärtigen Hinwendung zum Nationalismus als „Motorkraft für den revolutionären Kampf“ erneut zur Diskussion stehen wird.[3] Es erscheint merkwürdig, dass Schottland nur beiläufig im „Hydra“-Dokument erwähnt wird – vielleicht, weil es einige bis jetzt ungelöste programmatische Schwierigkeiten aufwirft.

Verwischung von Unterdrückten & Unterdrückern?

In der Kritik von Seymours Übersichtsartikel aus dem Jahr 1976, erlaubte der „Hydra“ Text, dass er richtig lag, dass „es keine ‘reaktionären’ und progressiven Völker“ gibt, behauptet aber, ohne Beweise, dass er dieses benutzt „um den Unterschied zwischen unterdrückten und unterdrückenden Nationen verschwinden zu lassen.“ Die Resolution der Konferenz beklagt, dass der Artikel „Lenin vs. Luxemburg“ von 1977 die „innerhalb der Linken weitverbreitete Unterstützung für kleinbürgerlichen Nationalismus“ kritisiert, und die Ansicht von vielen Möchtegern-Marxisten zurückweist, dass Gruppen wie die Palästinensische Befreiungsorganisation, die angolanische MPLA, die Irisch-Republikanische Armee und die baskische ETA „ein Teil der Avantgarde der heutigen revolutionären Kräfte“ sind. Dieses wird als „eine Position der Gleichgültigkeit gegenüber dem Kampf für nationale Befreiung“ und „ein Deckmantel für Verunglimpfung“ der gerechten Bestrebungen der verschiedenen unterdrückten Nationalitäten ausgelegt. Als Beweis können die IKL-Schreiberlinge nur folgende hirnlose Kritik anbieten:

“Diese Artikel bekundeten niemals irgendwelche Solidarität mit nationalen Befreiungskämpfen, geschweige denn mit dem Recht unterdrückter Nationen, aus ihrer nationalen Unterdrückung auszubrechen. Das stellte eine völlige Abkehr vom Internationalismus dar.”

Eine Paar Artikel, in denen die komplexe Geschichte der Entwicklung der Haltung zur nationalen Frage in der marxistischen Bewegung über sieben Jahrzehnte skizziert wird, können eine Wiederholung von Positionen, die in anderen Artikeln des WV mehrfach erwähnt wurden, nicht enthalten (und was sicherlich nicht erforderlich ist). Die Behauptung, dass das Versäumnis, sie in einem historischen Rundumblick noch einmal zu wiederholen, stelle eine „völlige Abkehr vom Internationalismus dar.“, ist ebenso zynisch wie idiotisch.

Das Eintreten für die Unabhängigkeit vs. die Realisierung

Die IKL behauptet auch, dass Seymours 1976er Artikel fälschlicherweise Marx Lenin in der nationalen Frage entgegengesetzt hatte:

“Der Artikel in WV Nr. 123 und Nr. 125 stellt einen falschen Gegensatz her zwischen der „Realisierung in der Praxis“ (Marx) und der einfachen „Befürwortung der Unabhängigkeit“ (Lenin): „Für Lenin war die Frage, ob die Unabhängigkeit tatsächlich verwirklicht würde oder nicht, keine grundlegende, sondern eine zweitrangige Frage.“ Diese falsche Entgegensetzung diente als Deckmantel für unsere ausdrückliche Opposition gegen die Unabhängigkeit von Québec und verneinte damit grundlegend das Recht auf Selbstbestimmung.” [Hervorhebung im Original]

Jeder vernünftige Mensch, der Seymours Artikel liest, kann sehen, dass es keine „falsche Entgegensetzung“ gibt, noch „verneint er grundsätzlich das Recht auf Selbstbestimmung“. Ganz im Gegenteil. Seymour unterschied sorgfältig (und klar) zwischen Marxens Befürwortung der unmittelbaren irischen Unabhängigkeit und Lenins Anerkennung des universellen Rechts aller Nationen auf Selbstbestimmung:

“Ich sollte betonen, dass Marx’ Position in der irischen Frage zwar die orthodoxe leninistische Position vorwegnahm, aber nicht identisch mit ihr war. Marx erwartete, dass ein unabhängiges Irland die Iren aus England herausziehen würde – dass die ökonomische Entwicklung Irlands die Repatriierung der irischen Arbeiterklasse aus England bewirken würde. Er trachtete nach einer physischen Trennung der englischen und irischen Arbeiterklassen als Vorbedingung für ihre politische Einheit. Nicht einfach um die Befürwortung der Unabhängigkeit ging es, sondern um ihre Realisierung in der Praxis. Wie wir sehen werden, wird bei Lenin die Befürwortung des Rechts auf Selbstbestimmung zum entscheidenden Punkt.” [Hervorhebung im Original]

Seymour wies zu Recht darauf hin, dass Lenin die Frage, ob er die Unabhängigkeit in einem bestimmten Fall befürworte, für weniger wichtig halte, als die Arbeiter der Unterdrücker-Nation zu gewinnen, sich für die Idee einzusetzen, das es das Recht der unterdrückten Völker ist, die Frage selbst zu entscheiden:

“Lenin vertrat den Standpunkt, Luxemburgs abstrakte Propaganda für Internationalismus sei nicht angemessen, die Polen und Ukrainer davon zu überzeugen, dass die großrussischen Sozialisten keine Chauvinisten seien. Die Arbeiterbewegung in der Unterdrückernation muss in der Praxis und in unmittelbar programmatischer Form beweisen, dass sie das Recht der unterdrückten Nation auf Unabhängigkeit unterstützt. Für Lenin war die Frage, ob die Unabhängigkeit tatsächlich verwirklicht würde oder nicht, keine grundlegende, sondern eine zweitrangige Frage. Vor der Revolution von 1917 hatten die Bolschewiki keine Position für oder gegen die Unabhängigkeit Polens, der Ukraine oder Finnlands. Der Kern von Lenins Position wird in „Über das Selbstbestimmungsrecht der Nationen“ (1914) deutlich:

„Ob es zum Beispiel der Ukraine beschieden sein wird, einen selbständigen Staat zu bilden, das hängt von 1000 Faktoren ab, die im voraus nicht bekannt sind. Und ohne zu versuchen, ins Blaue hinein zu ‘raten’, treten wir entschieden für das ein, was außer Zweifel steht: das Recht der Ukraine auf einen solchen Staat. Wir achten dieses Recht, wir unterstützen nicht die Privilegien der Großrussen gegenüber den Ukrainern, wir erziehen die Massen im Geiste der Anerkennung dieses Rechts, im Geiste der Ablehnung staatlicher Privilegien einer Nation, welche es auch sei.”“ [Hervorhebungen im Original]

Lenin behauptete nicht, dass Marxisten im Allgemeinen für die sofortige Unabhängigkeit aller unterdrückten Nationen in multinationalen Staaten eintreten sollten. Tatsächlich steht die Haltung der IKL, bedingungslos für die Unabhängigkeit Quebecs einzutreten, in krassem Gegensatz zu Lenins Einstellung zur Unabhängigkeit der Ukraine, die er als eine Frage betrachtete, die von „tausend unvorhersehbaren Faktoren“ abhing. Dies ist der Ansatz der Spartakist-Tendenz in den siebziger und achtziger Jahren, und die, die wir heute aufrecht erhalten. Die Einwohner Quebecs haben ein unveräußerliches und bedingungsloses Recht auf ihren eigenen Staat, aber ob Revolutionäre dafür eintreten, dass sie dieses Recht in einem bestimmten Moment ausüben, hängt von der konkreten Situation ab – am wichtigsten ist der Grad des nationalistischen Gegensätze innerhalb der Arbeiterklasse. Seymour zitiert Lenins Vergleich mit dem Scheidungsrecht: „Die Anerkennung des Scheidungsrechts schließt eine Agitation gegen die Scheidung in einem bestimmten Fall nicht aus“.

In „Das Recht der Nationen zur Selbstbestimmung“ erklärte Lenin:

“Soll man bei jeder Nation auf die Frage nach der Lostrennung mit „Ja oder Nein“ antworten? Das scheint eine eminent „praktische“ Forderung zu sein. In Wirklichkeit aber ist sie töricht; metaphysisch in theoretischer Hinsicht, führt sie in der Praxis zur Unterordnung des Proletariats unter die Politik der Bourgeoisie. Die Bourgeoisie stellt stets ihre eigenen nationalen Forderungen in den Vordergrund. Sie stellt sie bedingungslos. Für das Proletariat sind sie den Interessen des Klassenkampfes untergeordnet. Theoretisch läßt sich nicht im voraus mit Sicherheit sagen, ob die Lostrennung einer Nation oder ihre gleichberechtigte Stellung neben einer anderen Nation die bürgerlich-demokratische Revolution abschließen wird; für das Proletariat ist in beiden Fällen wichtig, die Entwicklung seiner Klasse zu sichern; für die Bourgeoisie ist wichtig, diese Entwicklung zu erschweren, indem sie deren Aufgaben zugunsten der Aufgaben der „eigenen“ Nation in den Hintergrund schiebt. Deshalb beschränkt sich das Proletariat auf die sozusagen negative Forderung nach Anerkennung des Rechts auf Selbstbestimmung, ohne einer Nation irgend etwas auf Kosten einer anderen Nation zu garantieren, zu gewährleisten.”

Seymours Zusammenfassung von Lenins Position (die heute genauso korrekt ist, wie vor einem Jahrhundert) ist genau und ausgewogen:

“Lenins Programm war jedoch nicht dazu entworfen, dass es bei Russlands Minderheiten unbedingt populär sein würde. Es war entworfen worden, um die kämpfende Einheit der Arbeiterklasse innerhalb des russischen Staates zu fördern. Wenn die arbeitenden Massen der verschiedenen Nationen einander so feindlich gegenüberstehen, dass dies einen geeinten Klassenkampf praktisch unmöglich macht, dann muss Separation in unabhängige Staaten gefordert werden. Wo nationale Minderheiten die Wahl treffen, innerhalb desselben staatlichen Rahmens zusammenzuleben, ist es die Aufgabe der Leninisten, alle Barrieren niederzureißen, die die arbeitenden Massen der verschiedenen Nationen trennen. Während wir für die Gleichberechtigung der Sprachen und die damit verbundenen demokratischen Rechte eintreten, setzen wir uns für die graduelle, organische Assimilierung der verschiedenen Nationalitäten ein, die die Arbeiterklasse ausmachen.”

Leninismus vs. Nationalismus über die Assimilation von Nationen

Das „Hydra“-Dokument, das als Rückkehr zum Leninismus angepriesen wird, wendet sich gegen Seymours Projektionen bezüglich der „allmählichen organischen Assimilation“ von Nationen – aber er übernahm sie direkt von Lenin. Nachdem das Ziel der freiwilligen Assimilation zugunsten von „Verteidigungsmaßnahmen“ zur Erhaltung nationaler Unterschiede abgelehnt wurde, ist es völlig logisch, dass die IKL auch Lenins Ablehnung der Gesetzgebung, die den Gebrauch einer Sprache vor einer anderen anordnet, durch die Unterstützung der Quebecer Sprachgesetze, zurückweist. Die IKL ist der Ansicht, dass solche Regelungen „wesentliche Maßnahmen zur Verteidigung der bloßen Existenz der unterdrückten Nation darstellen“ – siehe Quebec und Katalonien. Die IKL behauptet hinsichtlich des „Kampfes gegen die Assimilation“ unverschämt: „Das ist der Rahmen, in dem wir das leninistische Programm für die Gleichberechtigung der Sprachen anwenden müssen“. Aber das ist ein nationalistischer Rahmen, kein leninistischer – Lenin war entschieden gegen jede staatliche Durchsetzung jeder Art von Sprachpräferenz. In „Das Recht der Nationen zur Selbstbestimmung“ schrieb er:

“Insofern die Bourgeoisie einer unterdrückten Nation gegen die unterdrückende kämpft, insofern sind wir stets und in jedem Fall entschlossener als alle anderen dafür, denn wir sind die kühnsten und konsequentesten Feinde der Unterdrückung. Sofern die Bourgeoisie einer unterdrückten Nation ihren bürgerlichen Nationalismus vertritt, sind wir dagegen. Kampf gegen die Privilegien und die Gewaltherrschaft der unterdrückenden Nation und keinerlei Begünstigung des Strebens nach Privilegien bei der unterdrückten Nation.”

Weit davon entfernt, einen „leninistischen Rahmen für die nationale Frage wiederherzustellen“, stellt die Opposition der IKL gegenüber der freiwilligen Assimilation einen Bruch mit einem Kernelement von Lenins Programm dar. Vielleicht glaubt die IKL-Führung, dass ihre Mitglieder sich Lenins Position nicht bewusst sind. Seymours Artikel zu verwerfen, ist vielleicht nur der erste Schritt, und eine offene Ablehnung von Lenin wird als nächstes kommen. In jedem Fall ist Lenins Haltung völlig eindeutig; im dritten Abschnitt der „Kritischen Bemerkungen zur nationalen Frage“ (dem er den Titel „Das nationalistische Schreckgespenst des ‘Assimilantentums“ gab) schrieb er:

“Wer die Gleichberechtigung der Nationen und Sprachen nicht anerkennt und nicht verteidigt, wer nicht jede nationale Unterdrückung oder Rechtsungleichheit bekämpft, der ist kein Marxist, der ist nicht einmal ein Demokrat. Das unterliegt keinem Zweifel. Aber ebensowenig unterliegt es einem Zweifel, daß ein Quasimarxist, der einen Marxisten einer anderen Nation wegen „Assimilantentum“ nach Strich und Faden heruntermacht, in Wirklichkeit einfach ein nationalistischer Spießer ist.

Wer nicht in nationalistischen Vorurteilen versumpft ist, kann nicht umhin, in diesem, durch den Kapitalismus bewirkten Assimilationsprozeß der Nationen einen gewaltigen geschichtlichen Fortschritt, die Beseitigung der nationalen Verknöcherung der verschiedensten Krähwinkel zu sehen, die es namentlich in rückständigen Ländern wie Rußland gibt.”

Der „Kampf gegen die Assimilation“ der IKL begrüßt den bürgerlichen Nationalismus und lehnt den Leninismus ab – so einfach ist das.

Nationale Rechte & proletarische Herrschaft

Der abschließende Bestandteil im „theoretischen Rahmen“ des Bruches der IKL mit dem Leninismus in der nationalen Frage wirft das Verhältnis von nationalen Rechten und proletarischer Herrschaft auf. Das „Hydra“-Dokument behauptet:

“Aus dem Artikel „Lenin vs. Luxemburg on the National Question“ folgt, dass das Recht auf Selbstbestimmung nach der proletarischen Revolution nicht anwendbar ist. „Das Recht der Nationen auf Selbstbestimmung kann wie jedes andere bürgerlich-demokratische Recht erst dann abgelöst werden, wenn die proletarische Klassenherrschaft und ihre Demokratie die bürgerliche Demokratie abgelöst haben.”

Dies ist ein plumper Versuch, ein Scheinargument einzubringen – es gibt keine angedeutete Nichtanerkennung des Selbstbestimmungsrechts in dem von den Hydra-Autoren zitierten Satz. Seine Bedeutung ist ziemlich klar, und jede mögliche Mehrdeutigkeit wird in einer anderen, konkreteren Formulierung desselben Gedankens beseitigt, die ein paar Absätze früher erscheint:

“Lenins Bolschewiki haben dem Prinzip der nationalen Selbstbestimmung oder irgendeinem anderen bürgerlich-demokratisches Recht nicht erlaubt, die Verteidigung der Oktoberrevolution gegen die Konterrevolution zu verhindern.”

Auf die falsche Behauptung des Hydra-Artikels, der WV-Artikel von 1977 suggeriert, dass es kein Recht auf nationale Selbstbestimmung unter proletarischer Herrschaft gibt, folgt die empörte Behauptung: „Das war nicht Lenins Position, sondern die seiner politischen Gegner wie Bucharin und Pjatakow, die für „Selbstbestimmung der Werktätigen“ eintraten.“ Es ist auch nicht die Position, die in dem WV-Artikel vertreten wird, die die Logik von Lenins Opposition gegenüber Bucharin und Pjatakow (die mit Luxemburg in dieser Frage in Einklang standen) klar erklärt.

Lenin erkannte natürlich das Recht der nationalen Selbstbestimmung unter der Arbeitermacht an – im Gegensatz zur „proletarischen Selbstbestimmung“ – aber, wie der WV-Artikel aus dem Jahre 1977 erklärte, hielt er dieses Recht der Verteidigung der Revolution gegen die Klassenfeinde als untergeordnet. Er formulierte dieses Prinzip Anfang 1916, lange bevor ein russischer Arbeiterstaat existierte, mit vollkommener Klarheit:

“Im Gegensatz zu den kleinbürgerlichen Demokraten sah Marx in allen demokratischen Forderungen ausnahmslos nicht etwas Absolutes, sondern einen historischen Ausdruck des von der Bourgeoisie geleiteten Kampfes der Volksmassen gegen den Feudalismus. Es gibt keine der demokratischen Forderungen, die nicht unter bestimmten Umständen als Werkzeug des Betruges gegen die Arbeiter von seiten der Bourgeoisie dienen konnte oder gedient hätte. Daher wäre es theoretisch grundsätzlich falsch, eine der politischen Forderungen der Demokratie, nämlich das Selbstbestimmungsrecht der Nationen, in dieser Hinsicht auszusondern und den übrigen Forderungen entgegenzustellen. In der Praxis kann das Proletariat nur dann seine Selbständigkeit bewahren, wenn es den Kampf für alle demokratischen Forderungen, die Republik nicht ausgenommen, dem revolutionären Kampf für die Niederwerfung der Bourgeoisie unterordnet.”
—„Die sozialistische Revolution und das Recht der Nationen auf Selbstbestimmung“ (Unsere Hervorhebung)

Bürgerliche Nationalisten, Menschewiki und Sozialdemokraten aller Richtungen widersetzen sich energisch der Idee, dass „die proletarische Klassenherrschaft und ihre Demokratie die bürgerliche Demokratie ablöst“. Wollen die Hydra-Autoren ihren Reihen beitreten? In den ersten Jahren der russischen Revolution erklärten die Bolschewiki, dass es aus der Sicht der Arbeiterklasse eine Hierarchie der Rechte (einschließlich des Selbstbestimmungsrechts der Nationen) gebe, in der die Aufrechterhaltung der proletarischen Herrschaft anderen Überlegungen „voran gestellt“ werde. Dieses wurde im nun zurückgewiesenen WV-Artikel von 1977 klar erklärt:

“Lenins Akzeptanz der Selbstbestimmung für Finnland, Polen, die baltischen Staaten und die Ukraine war ein mächtiger Hebel für die Bolschewiki während des Bürgerkriegs nach der Oktoberrevolution von 1917. Doch nach der Unabhängigkeit des Staates mobilisierten die bürgerlichen Nationalisten wie Pilsudski und Mannerheim die kleinbürgerlichen Massen gegen die pro-bolschewistische Arbeiterklasse, die Einheit mit Sowjetrußland wollte. Ein gewisser Konflikt entstand zwischen nationaler Selbstbestimmung und der Verteidigung der proletarischen Revolution.…
Die Geschichte der Ukraine in den Jahren 1917-20 beleuchtet diesen Konflikt deutlich. Im Oktober stürzten lokale Bolschewiki im Bündnis mit der von den Nationalisten dominierten ukrainischen Zentral-Rada die pro-Kerenski provisorische Regierung in der Hauptstadt Kiew. Die ukrainischen nationalistischen Parteien hatten jedoch ihre soziale Basis in der Bauernschaft und bekämpften natürlich die Herrschaft der Sowjets, die zentral die städtischen Arbeiterklassen repräsentierten. Ende November unterdrückte der Zentrale Rada den Kiewer Sowjet und verhaftete seine bolschewistischen Führer. Außerdem verbot sie der Roten Armee, ukrainisches Territorium zu durchqueren, um die konterrevolutionäre Mobilisierung der Donkosaken zu zerschlagen.
Lenins Bolschewiki erlaubten nicht, dass das Prinzip der nationalen Selbstbestimmung oder irgendein anderes bürgerlich-demokratisches Recht, die Verteidigung der Oktoberrevolution gegen die Konterrevolution verhinderte. Dies wurde in einem sowjetischen Ultimatum vom Dezember 1917 an die Rada deutlich, das gleichzeitig die Unabhängigkeit der ukrainischen Volksrepublik anerkannte, sich weigerte, die Rada als ihre Regierung anzuerkennen und ihr 48 Stunden Zeit gab, aufzuhören, den Weißen zu helfen und die Sowjets zu unterdrücken. Als die Rada ihre Provokationen fortsetzte, erklärte Lenins Regierung den Krieg.”

Trotzki beschäftigte sich mit dem Konfliktpunkt zwischen demokratischen Rechten und Arbeiterinteressen in seinem Text von April 1940 „Bilanz der finnischen Ereignisse“:

“Ebenso wie bei Streiks gegen Großkapitalisten die Arbeiter häufig nebenbei sehr ehrbare Geschäfte von Kleinbürgern zugrunde richten, so kann sich der Arbeiterstaat, der selbst vollkommen gesund und revolutionär ist, im Kampf gegen den Imperialismus oder bei der Suche nach Garantien gegen den Imperialismus gezwungen sehen, die Unabhängigkeit dieses oder jenes Kleinstaates zu verletzen. Demokratische Philister, nicht aber proletarische Revolutionäre, mögen Tränen vergießen über die Unbarmherzigkeit des Klassenkampfes auf dem heimischen oder auf internationalem Kampfplatz.
Die Sowjetrepublik sowjetisierte 1921 gewaltsam Georgien, das ein offenen Tor für einen imperialistischen Angriff im Kaukasus darstellte. Vom prinzipiellen Standpunkt der nationalen Selbstbestimmung hätte man ziemlich viel gegen eine solche Sowjetisierung einwenden können. Von dem Standpunkt aus, daß der Kampfplatz der sozialistischen Revolution ausgedehnt werden müsse, war die militärische Intervention in einem Agrarland mehr als zweifelhaft. Vom Standpunkt der Selbstverteidgung eines Arbeiterstaates, der von Feinden umzingelt ist, war die gewaltsame Sowjetisierung gerechtfertigt: Der Schutz der sozialistischen Revolution hat Vorrang vor formalen demokratischen Grundsätzen.“

In der Zurückweisung von dem 1976 erschienenen Artikel von Seymour und dem ein Jahr später veröffentlichten Begleitartikel, spuckt die IKL auf ein wesentliches Element ihres eigenen revolutionären Erbes. Die Tatsache, dass dies geschieht, um zu vermeiden, eine Handvoll junger Militanter, die anscheinend nicht ganz mit dem Quebec-Nationalismus gebrochen haben, vor den Kopf zu stoßen, ist ein Beleg für die politische Entartung der gegenwärtigen Führung der Spartakist-Tendenz und die enorme politische Distanz, die sie von ihrer revolutionären Vergangenheit trennt.

Die IKL ist heute nicht in der Lage, sich ernsthaft mit der schwierigen konkreten Situation der Arbeiterbewegung auseinanderzusetzen, oder die daraus resultierenden politischen Imperative anzugehen. Die Entwicklung der IKL vom Trotzkismus zum Neo-Pabloismus ist qualitativ abgeschlossen. Die wertvollen Beiträge, die sie in der Vergangenheit geleistet hat, einschließlich der Artikel über die nationale Frage, die sie jetzt ablehnen, sind Teil des Vermächtnisses der lebendigen Tradition des authentischen Trotzkismus.

Anmerkungen

1   In den frühen 1980er Jahren, als der interkonfessionelle Konflikt im Libanon noch im Gange war, errichteten die USA und Frankreich unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen eine Militärpräsenz in Beirut. Als die Imperialisten das Gleichgewicht zugunsten der maronitischen Christen kippen wollten, rächten sich ihre muslimischen Gegner, indem sie im Oktober 1983 241 US-Marines und 58 französische Soldaten mit Lastwagenbomben attackierten, indem sie die Kasernen der fremden Legionen angriffen. Wir stellten fest, dass die Angriffe vom „Islamischen Dschihad“ (der die imperialistischen Kreuzritter in kurzer Zeit vertrieb), vertretbare Taten waren – die SL, die unsere Position als „blutrünstig“ anprangerte, forderte stattdessen die Rettung der überlebenden US-Marines. In einem Brief vom 7. Februar 1984 an die SL brandmarkten wir dieses feige Zurückweichen „eine bewusste und absichtliche Anpassung an die amerikanische herrschende Klasse“. Dieser Brief war einer aus einer Reihe von Polemiken zu dem Thema, die wir in „Marxismus vs. Sozialpatriotismus“ nachgedruckt haben„ (Trotskyist Bulletin No. 2).

2  Genosse Oliver Stephens hat in der Ausgabe von Spartacist Canada vom März 1996 einen Beitrag geleistet, der als wertvoll genug angesehen wurde, um ohne Kommentar oder Kritik abgedruckt zu werden. Er sprach über die nationale Frage und sein Artikel endet … mit einem ziemlich eigenartigen Zitat. Ich denke, um es zu verstehen, müssen Sie zu schätzen wissen, dass, während Oliver keinen schottischen Hintergrund hat, Genosse Robertson [Gründer/Leiter der Spartacist-Tendenz] hat einen. Olivers Zitat ist das:

So ist das Konzept einer Nation, wie wir es im 20. Jahrhundert kennen, historisch eine neuere Entwicklung. Dies hat natürlich nicht verhindert, dass verschiedene Nationalisten eine glorreiche „Geschichte“ für ihre eigene Nation erfunden haben. Das meiste ist Unsinn, aber die Schotten können eine Ausnahme von der Regel sein. 1320 ersuchten die schottischen Herren den Papst schriftlich – zu diesem Zeitpunkt eine Neuheit! – um Unterstützung gegen die Raubzüge des englischen Königs. In ihrer „Erklärung von Arbroath“ haben sie festgestellt, dass:

… wir finden, dass unter anderen berühmten Nationen unsere eigene, die der Schotten, mit weit verbreiteter Berühmtheit geehrt wurden. Sie reisten von Groß-Skythien über das Tyrrhenische Meer und die Säulen des Herkules und hielten sich lange Zeit in Spanien unter den wildesten Stämmen auf, aber nirgends konnten sie von irgendeiner Rasse unterworfen werden, wie barbarisch sie auch sein mochte. Von da kamen sie, zwölfhundert Jahre nachdem das Volk Israel das Rote Meer überquert hatte, in ihre Heimat im Westen, wo sie noch heute leben … In ihrem Königreich regierten einhundertdreizehn Könige ihres eigenen königlichen Stammes, die Linie ungebrochen von einem einzigen Ausländer.

Einige von Euch wissen vielleicht nicht, dass das Haus von Robertson tatsächlich eines der königlichen Häuser von Schottland war. Ich persönlich denke, dass dies etwas mit der Tatsache zu tun hat, die als signifikant und wichtig angesehen und in das Dokument aufgenommen wurde.
Trotskyist Bulletin No. 7

3  Siehe „ Spartacist Confusionists & the Scottish Referendum“.